1.Johannes 5,11-13 | Zweiter Sonntag nach Weihnachten | Pfr. Dr. Martens
Wenn man am Neujahrstag durch die Straßen Berlins geht, dann kann man überall noch die Spuren der vorherigen Silvesternacht deutlich erkennen: Bürgersteige und Straßenkreuzungen sind vollgemüllt und lassen einen noch einmal erahnen, was da alles in der Nacht zuvor in den Himmel gejagt und zur Explosion gebracht worden sein muss. Ein kurzes, ein sehr kurzes Vergnügen war es trotz der Müllberge, die dieses Vergnügen hinterlassen hat: ein kurzes Aufleuchten am Himmel, ein kurzer heftiger Knall, ein kurzes Staunen oder Lachen – dann ist alles wieder vorbei. Ein Sinnbild sind diese Müllberge für das, was viele Menschen als das wahre Leben verstehen und erfahren: kurze Augenblicke des Glücks, des Spaßes und der Begeisterung – dafür lohnt es sich zu leben, darauf hin lohnt es sich zu leben, das ist es, was man vom Leben erwarten kann.
In unserer heutigen kurzen Predigtlesung ist gleich fünfmal vom Leben die Rede. Allerdings meint der Apostel Johannes bei diesem Leben nicht bloß unser ganz normales Alltagsleben, das von Zeit zu Zeit einmal durch ein besonderes Ereignis, durch einen kurzen Knaller unterbrochen wird. Sondern er betont ausdrücklich, dass er vom ewigen Leben spricht, einem Leben, das genau das Gegenteil ist von einem kurzen Knall, einem kurzen Staunen, genau das Gegenteil von der Erfahrung, dass schöne Erlebnisse nach kurzer Zeit schon wieder Vergangenheit sind und von ihnen nicht mehr als ein Schutthaufen übrigbleibt.
Ewiges Leben – nein, das bedeutet natürlich nicht ein Leben, das sich nach einer Weile hinzieht wie Kaugummi, das auf die Dauer schrecklich langweilig und eintönig wird. Es hat nichts zu tun mit den Erfahrungen des legendären Münchners im Himmel in der Satire von Ludwig Thoma, der auf einer Wolke sitzt und nach einem bestimmten Terminplan zu frohlocken und Hosianna zu singen hat, was er dann auch mit solch einer Lustlosigkeit tut, dass er von seiner Wolke verbannt wird und einen Sonderauftrag erhält, der bayrischen Regierung göttliche Ratschläge zu übermitteln. Doch stattdessen geht er mit seiner Botschaft ins Hofbräuhaus und vergisst darüber seinen Auftrag, sodass die bayrische Regierung vergeblich auf die göttlichen Ratschläge wartet. Die Satire stammt aus dem Jahr 1911; wer mag, kann natürlich Bezüge ins Jahr 2016 herstellen.
Ja, eine Satire ist das natürlich, denn in Wirklichkeit werden wir uns im ewigen Leben niemals langweilen, geschweige denn, dass ein Besuch im Hofbräuhaus allen Ernstes die Freuden des ewigen Lebens überbieten könnte. Langweilig kann es im ewigen Leben nicht werden, weil es die Zeit in der Form, wie wir sie kennen, in diesem wahren Leben nicht gibt. Ja, ansatzweise können wir davon tatsächlich schon etwas hier auf Erden erfahren, wenn wir in unserem Leben ganz glücklich sind und uns darüber die Zeit völlig entschwindet. Dann ahnen wir in diesem Glück schon ein wenig davon, dass es ein vollkommenes Glück geben kann, in dem die Zeit überhaupt jede Bedeutung verliert.
Und doch führt uns die Satire von Ludwig Thoma noch in einer anderen Hinsicht in eine falsche Richtung. Sie geht davon aus, dass der Himmel, dass das ewige Leben etwas ist, was nur in der Zukunft liegt, was uns irgendwann einmal nach unserem Tod erwartet. Doch St. Johannes schreibt hier genau das Gegenteil: Das ewige Leben erwartet uns nicht irgendwann am Ende unseres irdischen Lebensweges, sondern es ist uns schon von Gott gegeben, so betont es der Apostel. Was für eine wunderbare, was für eine aufregende Botschaft zu Beginn dieses neuen Jahres: Du gehst nicht einfach bloß dem ewigen Leben entgegen, sondern du hast es schon, es ist dir schon längst geschenkt. Du hast das ewige Leben schon im Rücken und kannst von daher dein Leben gestalten.
Diejenigen unter uns, die früher unter dem Islam gelebt und gelitten haben, denen wird der Unterschied besonders deutlich sein: Früher mussten sie alle möglichen religiösen Regeln einhalten in der Hoffnung, bei sorgfältiger Beachtung all dieser Regeln vielleicht am Ende doch ins Paradies kommen zu können. Sie mussten fasten, rituelle Gebete abhalten, ihren Speiseplan genau kontrollieren und vieles mehr, damit sie möglicherweise in eine neue Welt kamen, die in den Versprechungen ihrer Religion dann auch noch in manchem mehr einem großen Bordell ähnelte. Doch jetzt müssen sie als Christen nicht mehr etwas tun, damit sie das ewige Leben bekommen, sondern sie gestalten ihr Leben als Christen, weil Gott ihnen das ewige Leben schon geschenkt hat, gestalten ihr Leben als freie Menschen, die befreit sind von der Sorge darum, ob es denn am Ende einmal fürs ewige Leben reichen wird. Und damit unterscheiden sie sich eben auch von dem üblichen Denken eines Durchschnittsdeutschen, der ebenfalls fest davon überzeugt ist, dass er immer brav und anständig sein müsse, um am Ende vom lieben Gott in den Himmel gelassen zu werden. O nein, du hast es schon das ewige Leben; es ist dir schon gegeben, geschenkt, ganz unverdient, und eben doch ganz deins, so gewiss du getauft bist, so gewiss du mit Jesus Christus in deinem Leben verbunden worden bist.
Und damit sind wir schon bei dem anderen, was uns St. Johannes hier mit aller Deutlichkeit vor Augen stellt: Worin besteht denn nun dieses ewige Leben, dieses wahre Leben, das unendlich mehr ist als nur ein kurzer Knaller, dieses ewige Leben, das du dir nicht erst noch verdienen und erarbeiten musst? Es besteht, so formuliert es St. Johannes hier, im Sohn Gottes; es besteht darin, dass wir diesen Sohn Gottes haben, dass wir im Glauben mit ihm verbunden, mit ihm eins sind.
Wer das ewige Leben sich einfach nur als eine große Party vorstellt, der greift viel zu kurz. Wer das ewige Leben, das uns jetzt schon geschenkt ist, einfach nur als ein schönes Gefühl oder als eine schöne Idee ansieht, der greift viel zu kurz. Das wahre, ewige Leben findet sich in einer Person, findet sich in Gott selbst, der sich auf den Weg zu uns Menschen gemacht hat, um uns an diesem wahren, ewigen Leben Anteil zu geben. Das ist der Sinn von Weihnachten, das wir in diesen Tagen immer noch feiern: Es geht nicht bloß um ein Fest der Familie, des Friedens und der Liebe, es geht auch nicht bloß um Babygucken. Es geht darum, dass Gott sich für uns ganz klein macht, um uns an seinem Leben teilhaben zu lassen, um uns mit seinem Leben zu beschenken.
Das wahre, ewige Leben hast du, wenn du an ihn, Jesus Christus, glaubst, wenn du in dem Kind in der Krippe deinen Retter erkennst, wenn du in dem Mann am Kreuz deinen Herrn und Gott, deinen Retter, erkennst, wenn du darüber nicht einfach bloß in deinem Kopf nachdenkst, sondern leibhaftig mit diesem Jesus Christus verbunden wirst im Wasser der Taufe, in den Gestalten von Brot und Wein im Heiligen Mahl. Ja, darum und um nicht weniger geht es im Heiligen Mahl, das wir nun gleich wieder feiern, dass du den Sohn Gottes hast, wie St. Johannes es hier formuliert. Ja, das geht tatsächlich: Man kann den Sohn Gottes, man kann ihn, Jesus Christus, haben, in sich tragen, ihn mit dem Mund empfangen, in sich aufnehmen und in ihm und mit ihm leben. Wenn du vom Altar wieder an deinen Platz zurückkehrst, wenn du nachher wieder diese Kirche verlässt, dann trägst du das ewige Leben in dir, und das bleibt eine Realität, auch wenn du nachher wieder ganz allein in deinem Zimmer, in deiner Wohnung sitzt, wenn du damit rechnen musst, in deinem Heim wegen deiner Zugehörigkeit zu diesem Christus gemobbt zu werden, das bleibt, wenn du nun morgen wieder zur Schule gehst, das bleibt, auch wenn du an dir selber, an deinem Körper so deutlich erkennst, dass du abbaust, dass dein Leben hier auf Erden ganz gewiss keine dauerhafte Zukunft hat.
Gewiss, eines steht noch aus: Dass du ihn, deinen Herrn, mit eigenen Augen sehen kannst, auf Dauer, in Ewigkeit sehen kannst, dass damit endgültig alles wegfallen wird, was dich jetzt noch ängstet und bedrückt. Und doch bleibt es dabei: Du hast jetzt schon das ewige Leben, so gewiss du ihn, Christus, hast, so gewiss du mit ihm immer wieder eins wirst hier im heiligen Sakrament. Der, den du einmal sehen wirst, der, den zu schauen einmal deine ganze ewige Zukunft voller Freude erfüllen wird, ist kein anderer als der, dem du hier und heute wieder begegnest. Halte dich darum nur an ihn! Mit ihm, Christus, hast du alles, wirklich alles: Zukunft, ewiges Leben, Hoffnung, Freude, die bleibt und trägt. Doch ohne ihn, Christus, hast du tatsächlich nichts, gar nichts, und wenn du noch so viel Spaß im Leben hast, und wenn du noch so viele Böller zu Silvester in die Luft jagst. Ohne Christus bleibt am Ende nicht mehr als ein Schutthaufen deiner Späße und Hoffnungen. Alles hängt an ihm, Christus, darum bleibe nur an ihm hängen! Denn wer den Sohn hat, der hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht. Komm nur zu ihm, du darfst ihn haben und behalten – ihn, deinen Herrn und Retter, ihn, den Sohn Gottes! Amen.