1. Mose ( Genesis) | 14. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Habt ihr schon mal draußen im Freien geschlafen? Eine laue Sommernacht, über euch nur der Sternenhimmel, vielleicht das Rauschen des Meeres, das euch am Strand in den Schlaf wiegt – das klingt alles unheimlich romantisch. Es gibt viele unter uns heute Morgen, die haben nicht nur einmal, sondern mitunter über Wochen hinweg im Freien geschlafen, und die fanden das überhaupt nicht romantisch: irgendwo in einem Park, vielleicht, wenn man Glück hatte, auf einer Pappe oder einer Plastikfolie als Unterlage, irgendwo in einem Wald, immer mit einem Ohr lauschend, ob da jemand kommen könnte, der einen überfällt oder verhaftet. Schlafen im Freien – eine Fluchterfahrung ist das: Nicht zurückzukönnen dorthin, von woher man geflohen ist, und nicht zu wissen, wohin der Weg führt. Schlafen im Freien – das ist nicht zuletzt immer wieder eine Erfahrung von großer Einsamkeit: Ich – ganz allein unter dem Sternenhimmel. Ist da irgendjemand, der für mich da ist, dem ich vertrauen kann?

Eine solche Fluchtgeschichte wird uns auch in der alttestamentlichen Lesung dieses Sonntags erzählt. Ja, schon wieder eine Fluchtgeschichte. Man staunt, wie oft man in der Heiligen Schrift auf Fluchtgeschichten stößt. Fliehen musste der Jakob, weil sein Bruder Esau angekündigt hatte, ihn umzubringen. Daran war der Jakob allerdings nicht ganz unschuldig, im Gegenteil: Er hatte seinen Bruder Esau betrogen, ihm mit einem Trick den Erstgeburtssegen entwendet. Und so muss Jakob Hals über Kopf seine Heimat verlassen, sich auf den Weg in eine unbekannte Zukunft begeben. Der Weg ist lang, sehr, sehr lang. Und so bleibt Jakob nichts anderes übrig, als auf seinem Fluchtweg einfach irgendwo draußen zu übernachten, in der Einsamkeit. Wer selber auf seiner Flucht den ganzen Tag von morgens bis abends gelaufen ist, der weiß, wie müde man da ist, da schläft man dann schließlich tatsächlich auch auf dem nackten Boden ein. Ach, wie viele von euch können den Jakob gut verstehen, wie er da auf dem Boden liegt, den großen Stein an seinem Kopf!

Doch dann passiert etwas, was der Jakob überhaupt nicht erwartet hatte: Im Traum darf er eine Realität wahrnehmen, die ihm bis dahin völlig verborgen war: Nein, er, Jakob, ist gar nicht so allein, wie er gedacht hatte, im Gegenteil: Er sieht eine Treppe, die den Himmel mit der Erde, mit dem Ort, auf dem er liegt, verbindet. Und auf dieser Treppe steigen Engel auf und nieder. Und ganz oben auf der Treppe gibt sich Gott der HERR selber zu erkennen, macht ihm Zusagen, die in krassem Gegensatz zu dem stehen, was der Jakob da gerade selber auf seiner Flucht gefühlt haben mag: Jakob weiß: Ich habe Schuld auf mich geladen, ich habe es eigentlich nicht verdient, dass Gott immer noch an mir festhält. Doch Gott bestätigt seine Zusage, die er schon Jakobs Großvater Abraham und Jakobs Vater Isaak gegeben hatte, bestätigt, dass der Segen gilt, den Jakob von seinem Vater empfangen hat: „Das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben“, so sagt es Gott dem Junggesellen Jakob zu, der im Augenblick noch nicht die geringste Ahnung hat, wie er an eine Frau gelangen soll, mit der er solche Nachkommen zeugen könnte. Doch Gott legt sogar noch nach: „Dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden.“ Das ist schon eine ganz starke Ansage: Ausgebreitet werden sollen seine Nachkommen über die ganze Welt, in alle Himmelsrichtungen. Aber Gott macht dem Jakob nicht nur ein Versprechen für die fernere Zukunft, für eine Zeit, die der Jakob hier auf Erden selber gar nicht mehr miterleben wird. Sondern er gibt ihm noch eine weitere, zutiefst tröstliche Zusage mit auf den Weg: „Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst“, ja, „ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.“ Was für wunderbare Worte: Wohin Jakobs Wege ihn auch führen werden: Eines darf er auf jeden Fall wissen: Gott, mein Herr, wird diese Wege mit mir gehen, ja, wird mich am Ende nach Hause bringen. Was muss ich da noch mehr wissen, wenn ich diese Zusage habe?

Viele von euch haben in ihrem Leben auch so eine Erfahrung wie der Jakob gemacht: Als ihr losgezogen seid, da wussten viele von euch erst noch wenig von dem lebendigen Gott. Aufgewachsen wart ihr mit der Vorstellung, dass Gott ganz weit weg von euch ist, dass es keine direkte persönliche Verbindung zwischen euch und ihm gibt. Aber dann hat Gott auch euch auf eurem Lebensweg die Augen dafür geöffnet, dass es in der Tat eine Treppe gibt zwischen Himmel und Erde, eine Verbindung zwischen Gott und euch. Und diese Treppe, diese Verbindung ist kein anderer als Jesus Christus. Durch ihn ist Gott eben nicht fern von euch, sondern in ihm verbinden sich Himmel und Erde, in ihm kommt der Himmel ganz nah an euch heran. Ja, hören durftet auch ihr die Zusage eures Herrn und Gottes: „Ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst; ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.“ Wie schwer und kompliziert die Wege auch sein mögen, die Gott dich führt: Du gehst diese Wege nicht allein. Gott geht diese Wege mit dir, lässt dich niemals fallen. Ja, dieses Versprechen hat Gott dir ganz persönlich gegeben, wie dem Jakob damals auch. Er hat es dir gegeben am Tag deiner heiligen Taufe, so wie er es heute der kleinen Kristina gegeben hat. An dieses Versprechen darfst du dich halten, auch wenn das Bundesamt und die Verwaltungsgerichte dir deinen christlichen Glauben absprechen. An dieses Versprechen darfst du dich halten, auch wenn dich dein Heimweh fast verrückt zu machen droht. An dieses Versprechen darfst du dich halten, auch wenn in deinem Leben so vieles ganz anders läuft, als du es geplant und dir erhofft hattest. „Ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst!“ – Dieses Versprechen unseres Gottes bedeutet nicht, dass in unserem Leben alles glatt und einfach läuft, dass Gott uns lange Wege und langes Warten erspart. Der Jakob musste 14 Jahre für seinen Schwiegervater arbeiten, um endlich seine geliebte Rahel heiraten zu dürfen. 20 Jahre dauerte es, bis er wieder in die Heimat zurückkehren konnte. Fluchtgeschichten dauern oft sehr lange, bevor sie schließlich an ihr gutes Ende kommen. Aber auch wenn das Ende sich lange hinzieht – Gottes Versprechen bleibt, auch jetzt und hier schon: Ich bin mit dir und will dich behüten, auch und gerade da, wo du selber für dich gar keinen Ausweg mehr siehst!

Und dann wacht der Jakob schließlich auf, und ihm wird klar: Sein Traum war nicht einfach bloß ein schöner Wunschtraum, sondern in seinem Traum hat Gott ihm die Augen geöffnet für eine Wirklichkeit, die auch jetzt, nach seinem Aufwachen, immer noch Bestand hat: „Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht!“ Ja, so erkennt Jakob: Gott begegnet uns Menschen an ganz bestimmten Orten, die eben darum heilig sind, weil wir hier die Verbindung zwischen Himmel und Erde erfahren können. Und diesen Ort markiert Jakob, richtet einen Stein auf zur Erinnerung an diese Gottesbegegnung, nennt diesen Ort „Bethel“, auf Deutsch: Haus Gottes.

„Gottes Haus und Pforte des Himmels“ – diese Worte stehen auch über der Eingangstür vieler Kirchen, mitunter auch auf Lateinisch. Ja, natürlich öffnet sich uns auch der Himmel, wenn ich in einem Doppelzimmer im Pflegeheim mit einem Gemeindeglied das Heilige Mahl feiere. Natürlich öffnet sich uns auch der Himmel, wenn ich bei einem Gemeindebesuch einem Gemeindeglied im Wohnzimmer die Vergebung der Sünden zuspreche. Und doch gibt es auch bei uns heilige Stätten, Pforten des Himmels. Heilig sind sie darum, weil dort die Treppe zum Himmel zu finden ist, Jesus Christus selber, der uns mit Gott verbindet. Heilig ist darum auch diese Stätte, diese Dreieinigkeitskirche, weil Gott selber auch hier zu uns spricht, weil der Himmel hier auf die Erde kommt, wenn wir das Heilige Mahl feiern, wenn Christus mit seinem Leib und Blut hier in unsere Mitte kommt. Ja, auch wir haben einen Stein hier, der den Ort markiert, wo der Himmel auf die Erde kommt: unseren Altar, den Grenzstein zwischen Gottes Welt und der unsrigen. Der Jakob ist erst nach 20 Jahren wieder zurück an diesen Ort gekommen, hat dort in Bethel dann einen richtigen Altar errichtet. So lange braucht ihr nun wirklich nicht zu warten. Die Pforte des Himmels – sie steht beständig hier auf. Jede Woche dürft ihr durch sie hindurchgehen, teilhaben an der neuen Welt Gottes, wenn wir uns hier im Gottesdienst versammeln. Verschlaft also nicht die Begegnung mit dem lebendigen Gott, bleibt der Treppe zum Himmel nicht fern! Ihr braucht diese Stärkung auf eurem Weg zum Ziel eures Lebens; ihr habt es immer wieder nötig, dass ihr es hört und mit eurem Mund spürt, dass Gott zu euch sagt: Ich bin mit dir, ich verlasse dich nicht! Bleibt also hellwach, lasst euch immer wieder daran erinnern, was hier in der Südendstraße 19-21 immer wieder geschieht: Hier ist nichts anderes als Gottes Haus und hier ist die Pforte des Himmels! Amen.

Zurück