1. Mose (Genesis) 2,4b-9.15 | 15. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens
Nun ist es schon ein halbes Jahr her, dass uns die Corona-Pandemie hier in Berlin voll erfasst hat, dass das Unvorstellbare passierte, dass wir unsere Kirche schließen mussten und hier bei uns keine Gottesdienste mehr feiern konnten. Und als wir dann unsere Kirchentüren Anfang Mai wieder öffnen durften, war vieles so ganz anders als vorher: keine gemeinsamen Gottesdienste mit der ganzen Gemeinde, kein gemeinsames Trinken des Blutes Christi aus dem einen Kelch, kein gemeinsamer Dienst vieler Mitarbeiter hier im Gottesdienst, keine Umarmungen am Ausgang, kein gemeinsames Mittagessen nach dem Gottesdienst. Stattdessen Mund- und Nasenschutz, Kurzgottesdienste, Abstand – und über allem immer die Frage: Werden wir hier bei uns von dem Virus verschont? Ja, in mancherlei Hinsicht haben wir uns an die neuen Verhältnisse schon so gewöhnt, dass die Erinnerung an die Zeit vor Corona allmählich verblasst. Und ob es jemals wieder so bei uns werden wird, wie es einmal früher war – das lässt sich im Augenblick noch gar nicht absehen. Das ist durchaus nicht ausgemacht, dass wir irgendwann einfach wieder zu dem ursprünglichen Zustand zurückkehren werden. Möglicherweise wird der Bruch, den wir in diesen vergangenen Monaten erfahren haben, doch sehr viel tiefer und weiter reichen, als wir es uns im Augenblick klarzumachen vermögen.
Um eine Zeit, um einen Zustand, zu dem wir nicht einfach wieder zurückkehren können, sondern von dem wir ganz abgeschnitten sind, geht es auch in der Predigtlesung dieses 15. Sonntags nach Trinitatis. So weit zurück liegt das, was uns hier im 2. Kapitel der Heiligen Schrift geschildert wird, dass wir keine Ahnung mehr haben, wo denn dieser Garten Eden oder dieser „Garten in Eden“ gelegen haben könnte, von dem hier berichtet wird. Wir haben keine Möglichkeit, dorthin wieder zurückzukehren, auch wenn der Gedanke daran durchaus verlockend sein könnte: Denn die ersten Menschen, sie mussten keinen Mundschutz tragen, mussten nicht auf Distanz bleiben, ja, mussten keine Angst davor haben, plötzlich zu sterben. Was für ein Kontrast zwischen dem, was uns hier im 2. Kapitel des ersten Mosebuches geschildert wird, und dem, was wir am Sonntagmorgen in der Kirche erleben: Die Leichtigkeit und Unbeschwertheit des Lebens zwischen den Bäumen im Garten, sie ist uns wohl nicht erst seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie abhandengekommen.
Was für eine Bedeutung haben also diese Worte unserer heutigen Predigtlesung für uns heute? Ganz gewiss würden wir diese Worte völlig falsch verstehen, ja missbrauchen, wenn wir sie als Grundlage für einen Appell benutzten, dass wir diese Erde nun wieder in solch ein Paradies zurückverwandeln sollen, wie es hier in 1. Mose 2 beschrieben wird. Und doch gibt es natürlich Verbindungen zwischen jenen Ursprüngen, von denen uns hier erzählt wird, und unserem heutigen Leben, Verbindungen, die uns in der Tat unser heutiges Leben besser verstehen lassen:
Da wird uns hier zunächst einmal die Erschaffung des Menschen geschildert: Genommen vom Staub der Erde, und zugleich erfüllt mit dem Lebensodem Gottes – o nein, überhaupt keine altmodische, längst überholte Darstellung, sondern eine höchst aktuelle Beschreibung, deren Aktualität wir in vielfacher Hinsicht auch heute in unserem Leben erfahren können:
Im Hebräischen haben das Wort „Mensch“ und das Wort „Erde“ dieselbe Wurzel: Der Mensch, der Adam, ist von der Erde, von der Adamah genommen. Der Mensch ist Erde, ist darum nach seinem Tod auch problemlos kompostierbar, kein Sondermüll, der sich über Tausende von Jahren hält. Der Mensch besteht zu 60,3% aus Wasserstoff, zu 25,5% aus Sauerstoff und zu 10,5% aus Kohlenstoff, dazu kommen noch Stickstoff, Natrium, Calcium, Phosphor, Schwefel, Kalium, Chlor und Magnesium. Adamah. Und dazu kann der Mensch sehr schnell wieder werden. Wir erinnern uns noch an die Berichte aus der Anfangszeit der Corona-Pandemie, als die Krankenhäuser davon berichteten, wie Menschen mit starken Erkältungssymptomen noch zu Fuß in die Notaufnahme kamen und dann innerhalb von wenigen Stunden verstarben. Wasserstoff, Sauerstoff, Kohlenstoff – viel mehr blieb dann nicht mehr übrig. Hier in unserer Predigtlesung wird der Tod noch nicht direkt thematisiert. Doch wenn hier davon berichtet wird, dass Gott dem Menschen den Lebensodem einbläst, dann steht die Frage natürlich schon im Raum: Und was ist, wenn er dem Menschen diesen Lebensodem wieder nimmt? Das Leben des Menschen, es ist und bleibt Leihgabe Gottes, bleibt Eigentum Gottes – und es ist und bleibt seine Entscheidung, wann er dem Menschen diese Leihgabe wieder entzieht. Schon zwei Kapitel später hören wir davon, wie die Menschen nicht mehr darauf warten, dass Gott einem Menschen diesen Lebensodem entzieht, sondern wie sie selber anfangen, das Leben anderer zu beenden, angefangen bei Kain und Abel. Und bis heute hat sich daran nichts geändert, dass Menschen meinen, sie hätten das Recht dazu, das Leben von Menschen zu beenden, sei es, das Leben von ungeborenen Kindern, sei es, das Leben von schwerkranken Menschen, ja sei es das Leben von politisch missliebigen Menschen, wie wir es in der letzten Woche mit Entsetzen im Fall der Hinrichtung von Navid Afkari miterlebt haben. Wir haben die Bilder eines jungen, muskelbepackten jungen Menschen noch vor uns – und nicht lange nach diesen Fotoaufnahmen wird der mittlerweile durch Folter zerschundene Leib dieses Menschen nachts heimlich beerdigt, dass er wieder zur Erde werde, davon er genommen ist. Ja, wir leben nicht mehr im Paradies; so schnell kann uns der Lebensodem genommen werden, und vielleicht verlaufen die Diskussionen um das Tragen einer Gesichtsmaske in unserem Land auch deshalb so emotional, weil da noch eine Urahnung von diesem Lebensodem in uns steckt, den die einen mit einer Maske schützen wollen und um dessen Verlust umgekehrt diejenigen fürchten, die meinen, dass ihnen mit einer solchen Maske das freie Atmen genommen wird.
Wie gesagt: Vom Tod, von der Sterblichkeit dieses aus Adamah geschaffenen Adam ist hier noch nicht die Rede. Und doch taucht das Thema schon hier in der Erzählung auf, wenn hier von zwei Bäumen berichtet wird: Vom Baum des Lebens und vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Ja, das ist mir persönlich bei der Vorbereitung dieser Predigt noch einmal ganz neu aufgegangen, dass bereits in der Schöpfungsgeschichte selber in der Heiligen Schrift vom Bösen die Rede ist, noch bevor die Schlange auf den Plan tritt, noch bevor es ihr gelingt, die ersten Menschen zum Abfall von Gott zu verführen. Wozu braucht es in dem gerade neu von Gott eingerichteten Garten Eden einen Baum zur Erkenntnis nicht nur des Guten, sondern des Bösen? Es bleibt rätselhaft; doch dass das Böse in das Leben des Menschen einzubrechen vermag, das deutet sich hier schon an. Und wozu braucht es einen Baum des Lebens, wenn das Leben doch von Gott ohnehin schon dem Menschen eingehaucht worden ist? Auch hier deutet sich schon an, was sich erst in den weiteren Kapiteln der Heiligen Schrift dann ganz erschließt.
Und noch etwas wird hier in dieser Erzählung ganz aktuell auch für uns deutlich: Es ist die Bedeutung des Wassers. Ohne Wasser kein Leben; ja, erst das Wasser macht den Garten Eden zu dem Paradies, wie es uns hier geschildert wird. Außerhalb des Paradieses ist Wüste, ist Trockenheit, da gibt es kein Leben. Ich denke daran, wie wir selbst in unserem scheinbar so wasserreichen Land in diesem Sommer erste Probleme mit dem Wasser bekommen haben – und der Gedanke ist leider nicht von der Hand zu weisen, dass in Zukunft auf dieser Erde Kriege immer wieder auch um Wasser geführt werden. Ja, in mancherlei Hinsicht scheinen wir uns auf dieser Erde wieder dem Zustand der Welt vor dem Paradies zu nähern – wahrlich kein verlockender Gedanke!
Was für eine Hoffnung bleibt uns angesichts dessen, was uns hier in unserer Predigtlesung geschildert wird? Nein, es bleibt uns nicht die Hoffnung, dass wir es schaffen, die Schöpfung zu bewahren, wie es immer wieder so schön in heutigem Kirchendeutsch heißt. Gewiss, der Mensch hatte damals von Gott den Auftrag, den Garten Eden zu bebauen und zu bewahren. Das Paradies, das uns die Heilige Schrift beschreibt, unterscheidet sich wohltuend von den Paradiesesschilderungen des Islam: Keine 72 Jungfrauen und Alkohol in Strömen, sondern Gartenarbeit. Der Mensch findet seine Bestimmung gerade nicht darin, dass er einfach nur seinen Trieben freien Lauf lässt, sondern darin, dass er tut, womit Gott ihn beauftragt. Aber wir leben eben nicht mehr im Garten Eden. Diese Welt ist gezeichnet vom Tod, von der Vergänglichkeit, wird irgendwann auch einmal ganz vergehen. Wir sollen als Menschen diesen Prozess gewiss nicht noch beschleunigen. Doch unsere Hoffnung besteht nicht in der Rettung dieser bestehenden Welt.
Als Christen blicken wir nicht sehnsüchtig zurück auf eine Urzustand, der wiederhergestellt werden muss, sondern wir blicken nach vorne, blicken auf ein Leben in einer ganz neuen Welt, in der es in der Tat Lebensbäume, aber eben keinen Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen geben wird, weil es endgültig kein Böses, weil es endgültig auch keinen Tod mehr geben wird. Nicht auf das Paradies blicken wir zurück, sondern auf den Lebensbaum des Kreuzes, an dem Jesus Christus die Macht des Bösen endgültig gebrochen hat. Nicht auf das Paradies blicken wir zurück, sondern auf das leere Grab, aus dem Jesus Christus auferstanden ist, um auch uns Anteil an seinem neuen, unvergänglichen Leben zu schenken. Nicht wir müssen uns selber die Teilhabe an diesem neuen Leben, an diesen Lebensbäumen mit unserem ökologischen Engagement sichern, sondern wir haben an diesem neuen Leben dadurch schon jetzt Anteil bekommen, dass Gott auch bei uns Wasser benutzt hat, um dieses neue Leben zu schaffen: das Wasser der Heiligen Taufe, durch das wir jetzt schon in dieses neue Leben versetzt worden sind, das auch dann noch Bestand hat, wenn Gott eines Tages seinen Lebensodem diesem irdischen Leib einmal wieder entziehen wird. Nein, wir hoffen nicht darauf, dass alles einmal wieder werden wird, wie es früher einmal in den guten alten Zeiten war. Sondern wir warten auf etwas Besseres, Schöneres als auf den Garten Eden, in dem einst Gottes Geschichte mit den Menschen begann. Wir warten auf eine Welt, in der es einmal endgültig keine Krankheiten mehr geben wird, in der wir nie mehr auf Abstand werden bleiben müssen, sondern die Nähe zueinander nur noch voller Freude genießen werden – die Nähe zueinander und noch viel mehr die Nähe zu Gott, von dem uns einmal endgültig nichts mehr trennen wird. Und wenn wir jetzt gleich am Altar wieder unsere Masken für einen kleinen Augenblick nach unten ziehen, um den Leib und das Blut unseres Herrn empfangen zu können, dann ist auch das schon ein Zeichen dafür, dass die Furcht vor dem Tod nicht das letzte Wort in unserem Leben hat, weil wir hier und jetzt hier am Altar tatsächlich schon vom Baum des Lebens essen, weil uns hier und jetzt schon erlaubt wird, was den ersten Menschen damals noch verwehrt blieb. Die Geschichte ganz am Anfang der Bibel, sie geht am Ende richtig gut aus. Und das können und dürfen wir auch und gerade in Coronazeiten jetzt schon richtig feiern. Amen.