1. Mose (Genesis) 32,23-32 | Mittwoch nach dem 17. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens
Ein besonderer Nationalsport im Iran ist zweifelsohne das Ringen, auf Farsi: Koshti. Erfolgreiche Ringer haben im Iran den Rang von Nationalhelden, und auch in unserer Gemeinde haben wir nicht wenige gute, ja zum Teil sogar international erfolgreiche Ringer.
Von einem Ringkampf, ja einem erfolgreich absolvierten Ringkampf ist auch in der Predigtlesung des heutigen Abends die Rede. Wenn man sich die Erzählung von diesem Ringkampf näher anschaut, stellt man jedoch schnell fest: Das war kein normaler Ringkampf, keiner, der nach den Regeln verlief, die man üblicherweise von Ringkämpfen kennt.
Der Name des einen Ringkämpfers wird uns hier gleich zu Beginn der Geschichte genannt: Es ist Jakob, der Enkel Abrahams, der einst vor seinem Bruder Esau fliehen musste, den er um den Erstgeburtssegen betrogen hatte. Und nun, nach vielen Jahren, kehrt Jakob wieder in die Heimat zurück. Bis an den Grenzfluss Jabbok ist er gekommen; dahinter erwartet ihn irgendwo und irgendwann die Begegnung mit seinem Bruder Esau. Wie würde sie verlaufen – nach so vielen Jahren? Würde eine Versöhnung, ein Neuanfang möglich sein? Mitten in der Nacht steht Jakob auf und bringt seine beiden Frauen mit den Mägden und den elf Söhnen und seinem ganzen Hab und Gut schon einmal über den Jabbok, damit er nicht bei Tageslicht von seinem Bruder Esau bei der Überquerung des Flusses angegriffen werden konnte. Dann kehrt er wieder zurück – und erlebt mit einem Mal einen ganz anderen Angriff, mit dem er überhaupt nicht gerechnet hatte, einen Angriff, bei dem ihm schnell klar wird: Hier geht es nicht bloß um einen sportlichen Wettbewerb, erst recht nicht bloß um eine spaßige Spielerei; hier geht es um nicht weniger als um Leben und Tod. Von einem Mann ist hier zunächst einmal die Rede, der den Jakob da so unvermutet und hinterhältig überfällt, ihn in diesen Ringkampf verwickelt. Wer der Mann ist, wird zunächst nicht gesagt, wohl aber, dass dieser Ringkampf nicht schon nach drei Runden oder wenigen Minuten endet, sondern die ganze Nacht andauert bis zur Morgenröte. Der Angreifer scheut diese Morgenröte offenkundig; er will im Dunkel der Nacht verborgen bleiben. Mit allen Mitteln kämpft er gegen Jakob, verletzt ihn sogar am Hüftgelenk. Doch Jakob kämpft weiter, ja, mehr noch: ihm gelingt es, diesen unheimlichen Angreifer in den Schwitzkasten zu nehmen, dass der sich aus seiner Umklammerung nicht mehr zu befreien vermag. Doch zugleich geht ihm in diesem stundenlangen Ringkampf noch etwas anderes auf: Der da mit ihm kämpft, ist nicht einfach bloß ein unbekannter Mensch; sondern der ihn da so hinterrücks überfallen hat, ist kein Geringerer als Gott selbst. Unfasslich ist es, wie Gott dem Jakob hier in Gestalt eines unheimlichen Angreifers begegnet – aber noch unfasslicher ist es, dass Gott den Jakob hier nicht einfach schon nach Runde eins plattmacht, ihn nicht einfach mal schnell besiegt, sondern dass Gott sich allen Ernstes von dem Jakob hier in den Schwitzkasten nehmen lässt. Und der nutzt das nun entsprechend auch aus: Statt den Angreifer aus seiner misslichen Lage zu entlassen, hält er ihn fest, um von ihm eine Gegenleistung zu erzwingen: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“ Was für eine unglaubliche Bitte: Jakob erwartet von diesem Angreifer, der ihn in einen Kampf um Leben und Tod verwickelt hat, nicht weniger als den Segen, als den Zuspruch eines Lebens, das unendlich mehr ist als das Leben, das er in dieser Nacht gegen den Angreifer verteidigt hatte! Segen – jawohl, Jakob erkennt in dem dunklen Angreifer denselben Gott, der allein ihm Leben und Zukunft zu schenken vermag. Und der Angreifer – er fragt den Jakob nach seinem Namen: nicht, weil er ihn nicht wüsste, sondern weil er ihm, Jakob, einen neuen Namen geben will, einen Namen, in dem sich der Angreifer selber als Gott zu erkennen gibt, einen Namen, in dem das unfassliche Geschehen dieser Nacht festgehalten wird bis auf den heutigen Tag: Israel sollst du heißen, denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. Gott selber erklärt den Ringkampf hier für beendet, erklärt Jakob zum Sieger in diesem Kampf und damit sich selber zum Verlierer. Was für eine unfassliche Geschichte! Doch indem der Angreifer den Namen Jakobs ändert, macht er zugleich deutlich, dass er, der Verlierer im Ringkampf, doch zugleich der Bestimmer des Lebens über Jakob bleibt: Er gibt ihm den Namen, er zeigt, wie er über Jakob zu verfügen vermag. Jakob ahnt etwas von der Unfasslichkeit dessen, was da gerade geschieht. Er möchte den, den er da gerade in den Schwitzkasten genommen hat, nun noch weiter in seine Verfügungsgewalt bringen, möchte nun endgültig Klarheit haben über den Gegner, den er da gerade niedergerungen hat: Sage doch, wie heißt du? Doch der, den er zuvor in den Schwitzkasten genommen hat, entzieht sich am Ende doch dieser Enttarnung. Er gibt seinen Namen nicht preis – und gibt sich doch zugleich ganz zu erkennen: Und er segnete ihn daselbst. Das reicht, das ist genug für Jakob, um Klarheit zu haben. Er nennt den Ort des Ringkampfs Pnuël, auf Deutsch: Angesicht Gottes, denn, so Jakob: Ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet. Dem, der Gott gerade in den Schwitzkasten genommen hatte, wird klar, dass sein Leben in diesem Ringkampf noch in einer viel umfassenderen Weise bedroht war: Gott zu sehen und nicht zu sterben: Das war das eigentliche Wunder, ein Wunder, das nicht er, Jakob, mit seiner Kraft, mit seinen Ringerqualitäten herbeigeführt hatte, sondern das Gott allein bewirkt hatte, der ihn auf unfassliche Weise verschont hatte, ja ihn sogar hatte gewinnen lassen. Und so verlässt Jakob den Kampfplatz – gesegnet und gestärkt für die Begegnung mit Esau, und doch zugleich für sein Leben gezeichnet, hinkend an der Hüfte. Eben so geht er der aufgehenden Sonne entgegen.
Was für eine unfassliche Geschichte! Doch wie erbärmlich ist das, was Ausleger aus dieser Geschichte immer wieder gemacht haben. Dass Gott selber hier den Jakob angegriffen haben könnte, das können sie sich überhaupt nicht vorstellen, und so schrumpfen sie diese Geschichte auf Bonsai-Format zusammen, sprechen davon, dass hier angeblich eine alte Legende von der Begegnung eines Flussgeistes mit Jakob in die Bibel übernommen worden sei.
Was für eine armselige Verkleinerung dieser Geschichte! Was für eine Verkennung der Aktualität dessen, was uns hier geschildert wird! Nein, das ist keine archaische Sage, über die wir als aufgeklärte Menschen nur noch ein wenig mitleidig den Kopf schütteln können. Sondern was hier geschildert wird, hat auch für uns heute eine geradezu beklemmende Aktualität.
Da glauben wir doch eigentlich, Gott ganz gut zu kennen, glauben zu wissen, dass er der Gott ist, der uns seine Liebe und seine Treue in seinem Wort zu erkennen gegeben hat, so wie der Jakob damals auch glaubte, Gott eigentlich ganz gut zu kennen. Doch dann werden wir mit einem Mal gepackt und zu Boden geworfen in unserem Leben. Das kann die Nachricht von einer schweren Krankheit oder vom Tod eines geliebten Menschen sein, das kann die Nachricht sein, dass eine Verhaftung unmittelbar bevorsteht, die uns von einer Sekunde auf die andere nur noch verzweifelt ringen lässt, ringen nach Leben. Das kann eine Depression sein, die uns zu Boden wirft und uns nicht mehr hochkommen lässt, das können Glaubenszweifel sein, die uns überkommen und alles, was uns bisher so klar und gewiss schien, in Frage stellen. Und wir – wir kämpfen in solchen Situationen nur noch um das Überleben, und je länger wir kämpfen und strampeln, desto mehr drängt sich uns eine Ahnung auf: Hinter all diesem Furchtbaren, das wir da gerade erleben, verbirgt sich kein Geringerer als Gott selbst. Der, den wir so genau zu kennen meinten, erscheint uns mit einem Mal so fremd, so bedrohlich, scheint uns die Luft zum Leben zu rauben.
Ja, wie gut, dass solche Erfahrungen mit Gott auch in der Heiligen Schrift selber schon beschrieben werden, dass wir nicht zu denken brauchen, dass solche Erfahrungen dem widersprechen, was die Heilige Schrift uns über Gott zu erkennen gibt. Ja, Gott kann uns in unserem Leben auch als der unheimliche, unbegreifliche, verborgene, ja geradezu feindselige Gott begegnen, gegen den wir uns nur noch verzweifelt zur Wehr setzen können.
Und was können wir in dieser Lage tun? Stärke zeigen, durchhalten, Gott in die Schranken weisen? Ach, wenn das so einfach wäre! Auch der Jakob hat ja am Ende erkannt, dass er Gott nicht dadurch besiegt hat, dass er so stark war, sondern dadurch, dass Gott ihn verschont hat, dass Gott sich selbst ihm in seine Hände begeben hatte. Aber genau diese unfassliche Erfahrung dürfen eben auch wir mit Gott machen: Gott erlaubt es auch uns, ihn in den Schwitzkasten zu nehmen, Gott macht sich auch für uns so schwach, dass wir von ihm bekommen können, was wir uns selber niemals geben könnten.
Wenn du Gott so überhaupt nicht begreifen kannst in deinem Leben, wenn du ihn nur noch als dunklen Gegner, als Angreifer wahrnimmst, dann mach es wie Jakob, dann sprich mit ihm diesen einen Satz: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn! Ja, Gott lässt sich von dir festhalten – nicht weil du so stark bist, sondern weil er sich für dich bindet, dass du ihn packen kannst. Wenn du Gott gar nicht verstehen kannst, dann sage es ihm: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn! Was du mir in der Taufe versprochen hast, das musst du halten, auch wenn jetzt alles dagegen zu sprechen scheint. Wenn du mir in der Taufe das ewige Leben versprochen hast, dann kannst du mich nicht in die Hölle schicken, dann kannst du nicht mein Feind bleiben! Was du mir in der Absolution, in der Beichte, versprochen hast, das musst du halten, auch wenn jetzt alles dagegen zu sprechen scheint. Wenn du mir in der Absolution zugesagt hast, dass meine Sünde wirklich ganz vergeben ist, dann kannst du sie mir nicht später doch noch einmal vorhalten, dann ist sie wirklich weg, ganz und gar. Wenn du mir den Leib und das Blut deines Sohnes reichst, dann bleibt diese Verbindung, bleibt in alle Ewigkeit. Davon kommst du nicht mehr los – und willst es ja auch gar nicht!
Nein, wir brauchen uns nicht damit abzufinden, dass Gott in unserem Leben mitunter so rätselhaft erscheint. Wir dürfen wissen, wo und wie wir Gott packen können: Da wo er sich uns zu erkennen gibt in seinem Wort und Sakrament. Da dürfen wir ihn so lange packen, bis sich seine Fratze wandelt in das freundliche Angesicht unseres Herrn Jesus Christus, in das wir blicken dürfen, ohne zu sterben, in das wir blicken dürfen und gerade so gestärkt und getröstet dem entgegengehen dürfen, was vor uns liegt.
Gezeichnet geht der Jakob aus dem Ringkampf heraus, gezeichnet für sein Leben: Humpelnd und versehrt. Was wir in der Begegnung mit dem verborgenen, unheimlichen Gott in unserem Leben erfahren, mag auch uns für unser Leben zeichnen. Christen sind in aller Regel keine Werbeträger für Blendamed, die mit einem dauernden strahlenden Lächeln durchs Leben laufen. Oft genug tragen wir Wunden, Narben, Versehrungen an Leib und Seele mit uns herum – und wer sich auch nur ein wenig in unserer Gemeinde umschaut, der wird so viele humpelnde Jakobs hier bei uns in unserer Mitte wahrnehmen und erkennen. Und doch: Wir humpeln der Sonne entgegen, ihm, unserem wiederkommenden Herrn, in dessen strahlendes Angesicht wir einmal ohne Schrecken, sondern nur voller Freude werden blicken können. Ja, dessen dürfen wir gewiss sein, so gewiss wir Gott seine Versprechen abringen dürfen: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn! Amen.