1. Mose (Genesis) 50,15-21 | 4. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Man kann es sich natürlich auch ganz einfach machen: Man kann einfach alle Asylbewerber, die hierher nach Deutschland kommen, unterschiedslos zu angeblichen Wirtschaftsflüchtlingen erklären, zu Leuten, die nur in unser Land gekommen sind, um hier die entsprechenden Sozialleistungen abzugreifen, und die entsprechend so schnell wie möglich wieder hier aus dem Land entfernt werden sollten.

Wenn man sich aber tatsächlich einmal die Mühe macht, sich die Geschichten dieser Menschen anzuhören, die zu uns gekommen sind, wenn man dann auch noch die Anhörungsprotokolle dieser Menschen liest, dann bekommt man sehr schnell ein völlig anderes Bild von ihnen als die Klischees, die so oft in unserem Land verbreitet werden. Dann wird deutlich, dass so gut wie gar keiner der Flüchtlinge und Asylbewerber, die hier in unserer Gemeinde sind, aus wirtschaftlichen Gründen seine Heimat verlassen hat. Stattdessen geht es in den Erzählungen, in den Berichten beim Bundesamt immer wieder in der einen oder anderen Form um ein entscheidendes Thema: um Schuld.

Da gibt es den einen oder anderen, der früher auf der anderen Seite stand, der mitgemacht hatte bei der Unterdrückung der eigenen Bevölkerung, der dabei vielleicht auch schwere Schuld auf sich geladen hatte – bis er diese Schuld selber nicht mehr ertragen konnte, nicht länger mitmachen konnte und keine andere Möglichkeit mehr sah, als nur aus diesem Land zu fliehen. Da gibt es manche, die davon berichten können, wie sie mit ihrem Fehlverhalten in ihrer Heimat schweres Leid über ihre Familie gebracht hatten, sie mitunter durch dieses Fehlverhalten gar dazu gezwungen hatten, mit ihnen gemeinsam aus dem Land zu fliehen. Da gibt es manche, die davon berichten können, wie sie durch ihre Hinwendung zum christlichen Glauben ihre Familie in große Schwierigkeiten gebracht haben, wie sie hin- und hergerissen sind zwischen der erkannten Wahrheit des Evangeliums und der Verantwortung für die Familie. Und da gibt es eben noch viel, viel mehr, die davon berichten können, wie ihnen in ihrer Heimat bitteres Leid und Unrecht zugefügt wurde, wie Verwandte ermordet wurden, wie sie an ihrem Leben bedroht wurden, wie sie nicht länger studieren durften, ihren Arbeitsplatz verloren haben, weil sie Christen geworden waren, wie sie alles aufgeben mussten, was sie hatten, Besitz und Familie – nur weil das Regime, unter dem sie lebten, eine Konversion zum christlichen Glauben mit der Todesstrafe bedroht. Ja, da gibt es dann so manchen, der eben auch davon berichten kann, was es heißt, im Iran in eine Verhörzelle gebracht zu werden, was es heißt, in Afghanistan vor der eigenen Verwandtschaft fliehen zu müssen. Ja, immer wieder geht es um Schuld – um eigene Schuld und sehr viel öfter noch um Schuld, die man erlitten hat und mit der umzugehen für die Betroffenen immer wieder so schwierig ist, erst recht, wenn die eigene Familie da mit drinhängt.

Um eine solche Familiengeschichte voller Schuld, voll von menschlichem Versagen, um eine Familiengeschichte mit vielen persönlichen Verletzungen geht es auch in der alttestamentlichen Lesung des heutigen Sonntags. Da ist auch von einem Mann die Rede, der in einem fremden Land lebt, in das er eigentlich gar nicht wollte, in dem er dann aber schließlich doch gelandet ist, nachdem seine Familie große Schuld auf sich geladen hatte. Joseph, so heißt dieser Mann, und in Ägypten gelandet ist er, weil seine Brüder ihn loswerden wollten, weil sie ihn in eine Zisterne geworfen und schließlich als Sklaven dorthin nach Ägypten verkauft hatten. Nein, als Wirtschaftsflüchtling ging der Joseph sicher nicht durch. Schwer war die Zeit für ihn in Ägypten; er erlebte einen Rückschlag nach dem anderen, so wie viele unserer Gemeindeglieder hier in Deutschland auch. Aber schließlich gelingt ihm der Durchbruch: Er macht in Ägypten richtig Karriere, steigt auf zum zweiten Mann hinter dem Pharao. Und dann holt ihn eines Tages seine Vergangenheit mit all der erlittenen Schuld wieder ein: Seine Brüder kommen nach Ägypten, ja, Wirtschaftsflüchtlinge, so würde sie heute manch einer abschätzig nennen, man kann natürlich auch sagen: Sie flohen nach Ägypten, weil sie in ihrem Heimatland verhungert wären. Jedenfalls erkennen sie ihren kleinen Bruder nicht, und der gibt ihnen zunächst eine kleine Lektion, wie es sich anfühlt, ganz unten zu sein, zu Unrecht beschuldigt zu sein, der Willkür eines Mächtigen ausgeliefert zu sein. Doch am Ende gibt sich Joseph seinen Brüdern zu erkennen – und macht ihnen deutlich, dass er ihnen nicht mehr böse ist. Ja, er lädt sie ein, mit ihren Familien nach Ägypten überzusiedeln. Glücklicherweise waren die Ägypter damals noch nicht auf die Idee gekommen, den Familiennachzug zu unterbinden und Familien auseinanderzureißen, und so leben die Brüder gemeinsam mit ihrem Vater Jakob schließlich für eine lange Zeit in Ägypten. Doch schließlich stirbt Jakob – und nun merkt man, was für eine Langzeitwirkung Schuld zu entfalten vermag. Obwohl die Geschichte mit dem Wurf in den Brunnen und dem Verkauf nach Ägypten schon so lange her ist, haben die Brüder Angst, dass Joseph sich jetzt noch an ihnen rächen könnte. Sie, die Täter, wissen, dass sie mittlerweile dem Opfer ausgeliefert sind. So groß ist ihre Angst, dass sie sich eine blöde Geschichte ausdenken, dass sie Joseph eine Botschaft übermitteln, wonach der alte Vater Jakob vor seinem Tod ihn, Joseph, noch einmal ausdrücklich darum gebeten habe, seinen Brüdern zu vergeben. Doch diese Trickserei ist in Wirklichkeit gar nicht nötig. Joseph macht seinen Brüdern deutlich, dass er gar nicht darauf aus ist, sich an den Brüdern zu rächen, dass er vielmehr sogar dazu bereit ist, sie auch weiter mit ihren Familien zu versorgen. Eine Geschichte mit einem happy end: Das Opfer rächt sich nicht an den Tätern, sondern ermöglicht es den Tätern, gemeinsam mit ihm in Frieden leben zu können.

Solche happy ends erleben wir hier in unserer Gemeinde in aller Regel nicht. In den meisten Fällen kommt es nicht zu einer erneuten Begegnung zwischen Tätern und Opfern – und die, die als Opfer nach Deutschland geflohen sind, befinden sich erst recht nicht in einer überlegenen Position denen gegenüber, die an ihnen, den Opfern, den Geflüchteten, schuldig geworden waren. Irgendwie müssen sie selber damit fertig werden, dass andere Menschen ihnen mit ihrem schuldhaften Verhalten das ganze Leben durcheinandergebracht haben, dass nichts mehr so ist, wie es einmal war. Irgendwie müssen sie selber damit fertig werden, dass sie weiter ganz unten sind und die, die ihnen Böses angetan haben, auch weiter oben sind. Und irgendwie müssen auch diejenigen mit ihrer eigenen Schuld fertig werden, die wissen, dass sie nicht mehr an die herankommen, an denen sie damals schuldig geworden sind.

Doch auch wenn die eigene Lebensgeschichte für viele von uns nicht dasselbe happy end wie bei Joseph bereithält, können wir doch von der Reaktion des Joseph eine Menge lernen:

Da ist zunächst und vor allem dieser wunderbare Satz des Joseph: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tag ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.“ Joseph kann so versöhnlich mit seinen Brüdern umgehen, weil er erkannt hat, wie Gott aus Bösem Gutes machen kann, ja wie Gott in seinem eigenen Leben gerade das Böse gebraucht hat, um daraus viel, viel mehr Gutes zu bewirken. Ja, das ist gut, wenn man sein Leben unter diesem Vorzeichen betrachten und wahrnehmen kann, gerade wenn einem im Leben viel Böses widerfahren ist.

Ich selber habe so etwas in meinem Leben ja nur in ganz kleinem Maßstab erfahren: Ich wäre nicht hier, und wir hätten diese Arbeit hier nicht begonnen, wenn ich nicht zuvor sehr schmerzliche menschliche Enttäuschungen erlebt hätte, die einen Wechsel hierher nach Steglitz am Ende nötig machten. Ja, wie gut, sage ich im Rückblick, dass es diese Enttäuschungen und Verletzungen gegeben hat, denn Gott hat daraus etwas wachsen lassen, was ich mir in meinen kühnsten Träumen niemals hätten vorstellen können, hat sich hier ein großes Volk gesammelt und erhalten, dass man sich immer wieder nur die Augen reiben kann. Ja, Gott gedachte es gut zu machen – durch alles Böse hindurch.

Und viele von euch können über solche Erfahrungen in ganz anderem Maßstab berichten: Ja, das war so ungerecht, so furchtbar, was ihr da erlitten habt. Das war richtig böse, was euch angetan wurde. Aber Gott hat daraus Gutes erwachsen lassen, hat euch hier in der Gemeinde eine neue Familie geschenkt, hat euch Frieden und Freude in euer Herz gegeben, wie ihr dies früher nie hattet. Ja, das Böse musste sein, damit Gott daraus Gutes werden lassen konnte.

Oder da fassen wir uns immer wieder an den Kopf, wie ein Land wie Norwegen treue, engagierte Christen, ohne mit der Wimper zu zucken, wieder in den Iran und nach Afghanistan zurückschickt. Was für ein Unrecht, das da vielen unserer Gemeindeglieder zuvor in Norwegen angetan wurde! Doch zugleich möchte ich der norwegischen Regierung eigentlich immer wieder einmal einen Dankesbrief schreiben, weil sie uns mit ihrem so unfasslichen Verhalten immer wieder solch wunderbare Menschen in unsere Gemeinde schickt, die unser Gemeindeleben nun schon wesentlich mittragen. Aus dem Bösen, was unsere Geschwister in Norwegen erleben mussten, macht Gott immer wieder Gutes, lässt daraus Segen für alle Beteiligten erwachsen.

Und da ist noch eine zweite wichtige Beobachtung, die wir hier in unserer alttestamentlichen Lesung machen können: „Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes, deines Vaters“, so bitten die Brüder den Joseph nach der Übersetzung Martin Luthers. Doch wörtlich heißt es eigentlich: „Nun trage doch diese Missetat weg, beseitige sie!“ Doch das kann der Joseph nicht, darauf kann er nicht eingehen. „Stehe ich denn an Gottes statt?“ – So fragt er. Schuld tragen und wegnehmen, das kann kein Mensch. Das kann wirklich nur Gott allein. Das kann wirklich nur der eine, an dem Menschen so böse gehandelt haben und bei dem Gott doch aus diesem Bösen unendlich Gutes hat entstehen lassen. Das kann nur Christus selber, der unendlich Böses hat erleiden müssen, der unschuldig ans Kreuz genagelt worden ist. Doch aus dem, was Menschen ihm Böses angetan haben, hat Gott eben auch unendlich Gutes entstehen lassen – Heil für die ganze Welt. Denn der, der da am Kreuz gehangen hat, der hat tatsächlich die Sünde der ganzen Welt getragen, er, das Lamm Gottes, er, den wir mit eben diesen Worten in jedem Gottesdienst anbeten bei der Feier des Heiligen Mahls. Christus trägt die Schuld der ganzen Welt. Er hat auch die Strafe für die Schuld des iranischen Regimes auf sich genommen, die Strafe für die Schuld der Taliban, hat auch für sie am Kreuz gehangen. Und er hat eben auch deine Schuld auf sich genommen und weggenommen – auch die Schuld, die du selber gar nicht mehr in Ordnung bringen kannst, auch die Schuld, die ein anderer Mensch dir vielleicht überhaupt nicht vergeben will und wird. Da, wo wir Menschen mit der Aufarbeitung von Schuld und Versagen an unsere Grenzen stoßen und nicht mehr weiterkommen, da fängt Christus erst an, trägt unsere Schuld, schleppt sich mit ihr ab, damit sie nicht länger unser Leben vergiften und kaputt machen kann.

Lasst euren Blick darum immer wieder von eurer Schuld und von der Schuld der anderen hin auf Christus lenken! Staunt immer wieder neu über das Wunder, wie Gott aus Bösem Gutes wirken kann! Auch wenn ihr es jetzt noch nicht sehen könnt: Gott wird auch eure Lebensgeschichte einmal zu einem richtig guten Ende, zu einem echten happy end führen, zu einem viel schöneren noch als bei Joseph damals: Er will euch dahin führen, wo es einmal keine Tränen über erlittenes Unrecht, wo es keine Angst, keine quälende Schuld mehr geben wird: dahin, wo wir einmal für immer bei dem sein und den sehen werden, der die Sünde der Welt, der auch unsere Schuld getragen hat. Das ist unser Ziel, und das macht Versöhnung möglich, jawohl, schon hier und jetzt. Amen.

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