1. Mose(Genesis) 4,1-16 | 13. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Zu den beliebtesten und erfolgreichsten Liedern des 20. Jahrhunderts gehört zweifelsohne der Song von John Lennon: „Imagine“. Ja, „imagine“ – Stell dir vor, es gibt keinen Himmel, keine Hölle, keine Religion – no need for greed or hunger, a brotherhood of man! Kein Grund für Neid oder Hunger, eine Bruderschaft von Menschen! Was für eine wunderbare Vision, die John Lennon da in seinem Lied beschreibt, meinen viele Menschen und träumen allen Ernstes von einer Welt, die so aussieht, wie John Lennon sie in seinem Song darstellt.

Doch um zu wissen, wie eine solche Welt ohne Himmel und ohne Gott aussieht, eine Welt, in der Menschen wie Brüder zusammenleben, müssen wir gar nicht so sehr unser Vorstellungsvermögen bemühen. Da müssen wir uns einfach nur die alttestamentliche Lesung des heutigen Sonntags anschauen, in der uns das brüderliche Zusammenleben von Menschen ohne Gott sehr eindrücklich vor Augen gestellt wird mit all seinen Konsequenzen.

Doch gottlob geht es in dieser Geschichte eben nicht bloß um das brüderliche Zusammenleben von Menschen mit all den furchtbaren Konsequenzen, die dies haben kann. Und es geht in dieser Geschichte erst recht nicht um einen moralischen Appell an die Menschen, sich doch nun endlich einmal anständig zu verhalten. Sondern es geht in dieser Geschichte zuerst und vor allem um Gott – weil sich das brüderliche Verhalten der beiden scheinbaren Hauptdarsteller ohne Gott in Wirklichkeit gar nicht begreifen lässt, und weil es ohne Gott in der Tat eine völlig hoffnungslose Geschichte wäre, die sich ganz gewiss nicht mithilfe von irgendwelchen Träumereien doch noch zum Guten wenden ließe.

Ja, um Gott und nochmal um Gott und nochmal um Gott geht es in dieser Geschichte von Kain und Abel. Nur dann können wir sie überhaupt in ihrer Bedeutung erfassen. Es geht um Gott,

  • den wir so gar nicht begreifen können
  • der vergossenes Blut schreien hört
  • der dem Mörder ein neues Leben schenkt


I.

Immer wieder wird sie gestellt, in den Bibelstunden und in allen möglichen Diskussionen, diese eine Frage: Warum hat Gott das Opfer des Abel angenommen und das Opfer des Kain nicht? Und als Zusatzfrage: Woran kann man das erkennen?

Wenn wir uns den Zusammenhang des Alten Testaments anschauen, wird bald deutlich: Es geht bei der Annahme beziehungsweise Nichtannahme der beiden Opfer schlicht und einfach um das, was wir heute ganz oberflächlich als „Erfolg“ bezeichnen: Abel hatte als Hirte bei der Aufzucht seiner Schafe Erfolg, Kain hingegen hatte wohl als Bauer eine schlechte Ernte zu verzeichnen. Und warum ist das so? Warum hat der eine Erfolg und der andere keinen Erfolg? Warum geht es dem einen besser als dem anderen? Ist der eine ein besserer Mensch als der andere, hat derjenige, der frömmer ist, mehr Erfolg als der, der nicht so fromm ist? Ach, Schwestern und Brüder, was haben sich die Menschen über solche Fragen schon Gedanken gemacht, haben versucht, irgendwie Gott zu verteidigen und zu rechtfertigen, warum er so gehandelt hat, wie er gehandelt hat! Doch wenn wir uns die Heilige Schrift anschauen, dann müssen wir ganz nüchtern feststellen: Es wird mit keinem Wort erklärt, warum Abel Erfolg hat und warum Kain keinen Erfolg hat. Es wird nur festgestellt: Ja, so ist es auf dieser Welt: Es gibt Menschen, die haben in ihrem Leben Erfolg, manche, weil sie es sich menschlich gesprochen verdient haben, andere, weil sie einfach Glück gehabt haben. Und es gibt Menschen, die haben in ihrem Leben keinen Erfolg, und oft kann man nicht erklären, warum das so ist. Ja, Gott lässt das zu, dass Menschen in ihrem Leben ganz Unterschiedliches erfahren, dass nicht alle gleichen Erfolg, gleiche Gesundheit, gleiche Gerechtigkeit erfahren. Die Frage ist nur: Wie gehen wir als Menschen damit um?

Und die Heilige Schrift macht uns deutlich: Der Grundreflex, der sich bei uns Menschen einstellt, ist der Neid, ja, mehr noch: ist der mehr oder weniger offen geäußerte Wunsch, dass der beseitigt werden soll, dem es besser geht als uns selber. Menschen richten ihre Aggression gegen die, die scheinbar bevorzugt werden, glauben allen Ernstes, sie würden dadurch Gerechtigkeit schaffen, dass sie die kaputtmachen, die besser dran sind als sie selber.

Ich sehe dies in diesen Wochen und Monaten beispielsweise immer wieder in der Diskussion um die Flüchtlinge in unserem Land. Geradezu irrsinnige Behauptungen kann man da in vielen Posts auf Facebook lesen, dass angeblich alle Flüchtlinge privat krankenversichert seien und eine medizinische Luxusversorgung hier in Deutschland bekommen würden, während der normale Deutsche all das nicht bekommen würde, was man den Flüchtlingen angeblich gönnt. Wer einmal miterlebt hat, wie einem Flüchtling selbst die Behandlung einer Krebserkrankung verweigert wurde mit der Begründung, er solle sich nicht so anstellen, der weiß, was in Wirklichkeit in unserem Land passiert. Doch die Neidreflexe funktionieren. Wir haben es gerade als Gemeinde selber zu spüren bekommen, wie etwa die BILD-Zeitung ganz unverhohlen mit solchen Neidreflexen bei ihren Lesern spielt und christliche Konvertiten mit Betrügern und Verbrechern auf eine Stufe stellt – in der Hoffnung, dass der gesunde Volkszorn dann unsere Gemeinde schon heimsuchen wird. Kain und Abel im 21. Jahrhundert, nachzulesen auch jetzt noch im Internet bei BILDplus.

Ja, es gibt auch wirkliche Ungerechtigkeit in dieser Welt, in unserem Leben. Wir erfahren ja auch dies in unserer Gemeinde bei den völlig willkürlich ausgestellten Ablehnungsbescheiden des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Das lässt sich nicht erklären, warum der eine mal Glück hat und die meisten anderen Pech. Und es lässt sich auch sonst nicht erklären, warum wir es hier in unserem Land trotz all des unschuldigen Blutes, das von Deutschen vergossen wurde, wieder so gut haben, so viel besser als die meisten Menschen auf dieser Welt. Und es lässt sich erst recht nicht erklären, warum wir dennoch hier in unserem Land immer noch herumjammern, statt Gott auf den Knien dafür zu danken, dass es uns hier so gut geht. Und damit sind wir schon bei dem Eigentlichen: Ja, es ist durchaus verständlich und berechtigt, wenn wir Ungleichbehandlung in dieser Welt nicht einfach klaglos hinnehmen, sondern uns darüber ärgern und aufregen. Doch unsere Reaktion sollte gerade nicht darin bestehen, dass wir versuchen, andere Menschen kaputtzumachen, sie zu verleumden oder gar zu töten. Sondern die richtige Reaktion bestünde darin, dass wir uns bei Gott beschweren, dass wir ihm in den Ohren liegen und ihn fragen, warum er das Unrecht in dieser Welt zulässt, warum er so vieles geschehen lässt, was unserem Gerechtigkeitsempfinden ganz und gar widerspricht. Ja, machen wir Gott dafür verantwortlich. Da sind wir an der richtigen Adresse – und gerade nicht dort, wo wir unsere Wut über das Unrecht in dieser Welt an anderen Menschen auslassen.  Ja, das ist das Erste, was uns diese Geschichte aus dem 1. Buch Mose deutlich macht.


II.

Kain schreitet hier in der Geschichte zur Tat, ermordet seinen Bruder Abel und stellt anschließend die heuchlerische Frage: Soll ich meines Bruders Hüter sein? Doch so lässt sich Gott nicht abspeisen: „Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde“, so stellt Gott fest.

Was für ein starker Satz, der eben nicht nur für das Blut des Abel gilt, sondern für alles Blut, das Menschen vergießen, für ein jedes menschliche Leben, das von einem anderen Menschen gewaltsam beendet wurde und wird! Auch wo solche Gewalttaten verdeckt oder für normal erklärt werden, schreit das Blut der Getöteten zu Gott von der Erde. Mit dem Tod des Betroffenen ist die Geschichte für Gott gerade nicht erledigt, sondern fängt erst gerade an. Gott fragt nach, fragt bei denen nach, die für den Tod dieser Menschen verantwortlich sind, auch wenn sie diese Verantwortung mit mehr oder weniger blöden Argumenten von sich schieben. „Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit von der Erde“ – das werden sich diejenigen von Gott anhören müssen, die Flüchtlinge vielleicht sogar juristisch korrekt in den Tod geschickt haben, das werden sich erst recht diejenigen anhören müssen, die dabei weggeschaut oder dies sogar noch verteidigt haben. „Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit von der Erde“, ja sie schreit auch aus dem Mittelmeer, während hier in Deutschland bei Demonstrationen zur angeblichen Bewahrung der deutschen Kultur immer wieder „Absaufen, Absaufen!“ skandiert wird. „Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit von der Erde“ – ja, das gilt selbstverständlich auch für das Blut derer, die von solchen Flüchtlingen in unserem Land ermordet wurden, die nicht dazu bereit waren und sind, die Werte unseres Zusammenlebens zu respektieren. „Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit von der Erde“ – das gilt auch für die Hunderttausende von ungeborenen Kindern, die in unserem Land und hier in Europa Jahr für Jahr schon getötet werden, bevor sie das Licht der Welt erblickt haben. Ja, was für Schreie muss sich Gott da jeden Tag aus den Mülleimern der Krankenhäuser anhören, in denen die zerfetzten Glieder der ungeborenen Kinder nach ihrer Abtreibung entsorgt werden! „Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit von der Erde“ – ja, diese Worte gelten auch dem iranischen Regime und den anderen Regimen dieser Erde, die glauben, sie könnten durch die Tötung von Menschen, durch die Vollstreckung der Todesstrafe Recht auf Erden schaffen. Nein, nicht nur die Schreie des Blutes der bereits Getöteten gelangen an Gottes Ohr, sondern auch die Schreie der Menschen in den Todeszellen und in den Foltergefängnissen des Iran und so vieler anderer Unrechtsregime. Ja, Gott wird einmal die, die Blut vergießen, die mitwirken und zulassen, dass Menschen getötet werden, zur Rechenschaft ziehen, stellt sich dabei immer wieder auf die Seite der geringsten Brüder und Schwestern unseres Herrn, so hören wir es im heutigen Wochenspruch. Ja, um diesen Gott geht es in der Geschichte von Kain und Abel.


III.

Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Kain hat mit seiner Bluttat eigentlich sein Leben verwirkt. Doch das Unfassliche geschieht: Gott gibt den Kain nicht den Gesetzen der Blutrache anheim, er vollstreckt an ihm nicht die Bestrafung, die er verdient hätte. Sondern er schenkt dem Mörder Kain allen Ernstes ein neues Leben unter Gottes Schutz.

Helle Empörung dürfte diese Entscheidung Gottes auch heute bei vielen Menschen auslösen. Gehört Gott etwa auch in die Kategorie der unsäglichen Gutmenschen; hätte er nicht besser daran getan, Kain einen Kopf kürzer zu machen und damit die Geschichte zu einem gerechten Abschluss zu führen?

Gott reagiert anders – und schenkt damit nun auch uns eine Hoffnungsperspektive, mit der wir eigentlich gar nicht rechnen konnten. Am Ende der Geschichte von Misserfolg und Neid und Mord und Totschlag steht nicht die Rache und die Bestrafung, sondern die unfassliche Bereitschaft Gottes zu einem Neuanfang. Und das gilt eben nicht bloß für Kain, das gilt eben auch für dich und für mich.

Ja, Gottes Strafe hätten auch wir allemal verdient, selbst wenn wir nicht unbedingt eigenhändig einen Menschen umgebracht haben. Aber wie oft haben auch wir in unserem Leben schon weggeschaut und geschwiegen, wo wir eigentlich unseren Mund hätten aufmachen müssen! Wie oft haben auch wir uns in unserem Leben schon von Neid und Missgunst und manch anderen bösen Gedanken, ja auch Worten und Werken überwältigen lassen, haben nicht auf Gottes Warnungen und Weisungen in seinen Geboten gehört! Allen Grund hätte Gott dazu, auch mit uns Schluss zu machen, uns jede Zukunft abzuschneiden.

Doch Gott hat ganz anders reagiert, hat sich selber in die Rolle des Abel begeben, hat sich selber von uns Menschen töten lassen – und hat damit die Schuld aller Menschen am Kreuz von Golgatha auf sich genommen: die Schuld von Kain, die Schuld derer, die Menschen in den Tod geschickt haben und noch immer schicken, die Schuld der Verbrecher in der Regierung des Iran – und auch meine und deine Schuld. Christus hat sie getragen, hat sie weggetragen, ja Gott sei Lob und Dank! Und in der Taufe hat er auch dich mit eben diesem Zeichen des Heiligen Kreuzes bezeichnet, hat dir in der Taufe Anteil gegeben an seiner Vergebung, ja, an seinem Schutz vor den Mächten des Bösen. Ja, wie gut, dass die Geschichte von Kain und Abel so endet! Wie gut, dass wir nicht in einer Welt ohne Gott leben müssen, sondern dass Gott zu wenden vermag, was wir Menschen mit unseren Appellen und Träumen niemals zum Guten wenden könnten! Noch stärker als das Blut Abels, noch stärker als das Blut aller Getöteten auf dieser Welt schreit das Blut Christi zum Himmel und gelangt in Gottes Ohr. So lässt es sich leben in einer Welt voller Unrecht, so lässt es sich durchhalten in einer Welt, die von Sünde und Tod gezeichnet ist. Ja, imagine! Stell dir vor: Gott ist für dich am Kreuz gestorben, damit du leben kannst! Das ist kein Wunschtraum, das ist Realität – für Kain und für dich und für mich. Halleluja! Amen.

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