1. Petrus 5,5b-11 | Mittwoch nach dem 15. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Zu den besonders ernüchternden Erkenntnissen, die ich aus meiner Mitwirkung bei einer Fragebogenaktion von Open Doors über die konvertierten christlichen Flüchtlinge gewonnen habe, zählt diese, dass ich voraussichtlich noch etwa 400 Gemeindeglieder zu Verfahren vor dem Verwaltungsgericht werde begleiten müssen. Ja, wie soll ich das denn bloß schaffen, frage ich mich, selbst wenn mir Verwaltungsrichter erklärt haben, dass es in Zukunft wohl bis zu zehn Jahre dauern wird, bis die Gerichtsverhandlungen für Asylbewerber, die jetzt ihre Klage einreichen, stattfinden werden. Ja, wie soll ich das denn nicht bloß zeitlich schaffen, sondern wie soll ich es schaffen, mit denen, für die ich da vor Gericht eintrete, diese Unrechtserfahrungen zu teilen, mit denen die Betroffenen bei diesen Verhandlungen immer wieder fertig werden müssen. Und dabei sind meine Sorgen ja immer noch sehr überschaubar im Vergleich zu den Sorgen, die die Betroffenen selber auf ihren Schultern zu tragen haben, Sorgen, die ihnen oft genug die Luft zum Atmen nehmen. Und daneben schleppen sich viele Glieder unserer Gemeinde ja auch noch mit ganz anderen Sorgen ab, Sorgen, die sie oft nicht weniger zu Boden drücken.

Es ist wunderbar, dass die kirchliche Leseordnung extra einen Sonntag dem Thema der Sorge zugewiesen hat, und zwar jeweils den 15. Sonntag nach Trinitatis. Und wenn wir denn am letzten Sonntag St. Michaelis gefeiert haben, wollen wir wenigstens heute aus dem Schatz des Wortes Gottes uns stärken lassen im Umgang mit den Sorgen, die uns Tag für Tag zu schaffen machen.

„Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch“, so schreibt es der Apostel Petrus an die Christen in Kleinasien, die, ganz ähnlich wie unsere Schwestern und Brüder heute auch, unter einer Umgebung litten, die den Christen gegenüber zunehmend feindlich eingestellt war, und die zu ahnen begannen, was für staatliche Schikanen sie in der Zukunft erwarteten.

Ja, Petrus weiß: Sorgen sind eine Last, eine schwere Last. Die kann man nicht einfach mal mit einem Fingerschnips verschwinden lassen. Die kann man sich auch nicht selber ausreden. Aber es gibt tatsächlich einen Ort, an dem man diesen Giftmüll der Sorgen entsorgen kann: Bei Gott selber. Bei dem muss man keine Angst haben, dass die Entsorgung nicht funktioniert, dass sie sich als ein Bumerang erweist, weil das ganze Zeug irgendwann doch wieder zum Vorschein kommt. Sondern Gott reagiert auf die Entsorgung unserer Sorgen bei ihm so, dass er stattdessen für uns sorgt, dass er genau das übernimmt, worum wir in unserem eigenen Sorgen zuvor hilflos gekreist waren. Doch diese Entsorgung sieht eben so aus, dass wir unsere Sorgen auf ihn, unseren Herrn und Gott, „werfen“ sollen. Ja, das ist immer wieder schon eine ganz bewusste Bewegung, die wir in unserem Leben vollziehen sollen, dass wir unsere Sorgen Gott anvertrauen und sie ihm übergeben. Das ist eine gute Übung für jeden Tag, dass wir jeden Tag neu Gott unsere Sorgen anvertrauen und zu ihm sagen: Jetzt sorge du dafür; ich habe sie dir gegeben. Jetzt bist du dafür zuständig! Ja, bleibt an diesem Wurf-Training dran – jeden Tag neu!

Und dann gibt uns der Apostel Petrus hier noch zwei weitere Hilfen an die Hand, wie wir mit unseren Sorgen umgehen können: Er spricht von Demut und von Nüchternheit. Beide Worte mögen erst einmal ein wenig altmodisch klingen – doch in Wirklichkeit ist das ganz hochaktuell, was Petrus uns damit sagen will:

Wenn wir uns sorgen, dann bestärken wir uns immer wieder neu in der Illusion, unsere Zukunft oder die Zukunft anderer hinge ganz und gar an uns, ja, mehr noch: hinge ganz und gar daran, dass wir uns über uns selber oder über andere sorgen. Und damit messen wir uns unbewusst eine Bedeutung bei, die in krassem Gegensatz zur Realität steht: Nein, durch dein Sorgen veränderst du in Wirklichkeit überhaupt nichts in deinem Leben, nimmst erst recht keinen Einfluss auf deine Zukunft oder auf die Zukunft anderer. „Wer ist unter euch, der seinem Leben eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?“ – So fragt Christus selber im Heiligen Evangelium. Ja, dringend nötig haben wir es immer wieder, uns von unseren unbewussten Allmachtsphantasien, die wir gerade auch in der Gestalt der Sorge entfalten, zu verabschieden und uns wieder neu dort zu positionieren, wo wir eigentlich hingehören: unter der gewaltigen Hand Gottes. Und diese realistische Neupositionierung nennt der Apostel hier „Demut“. Demut heißt: Ich versuche nicht länger, mich für wichtiger zu halten, als ich es in Wirklichkeit bin. Ich versuche nicht länger, meine Bedeutung höher einzuschätzen, als sie eigentlich ist. Ich lasse mir von Gott die Position zuweisen, die aus seiner Sicht gut und wichtig ist – und werde feststellen: Gott selber wird mich einmal viel höher positionieren, als ich es selber mit meinen Allmachtsphantasien jemals gekonnt hätte. Nein, meine Zukunft hängt nicht von mir ab, nicht von meinem Sorgen. Und die Zukunft anderer hängt ebenfalls nicht von mir ab, nicht von meinem Sorgen. Ja, das habe ich mir als Pastor immer wieder zu sagen, wenn ich auf unsere Gemeinde blicke, und das sagen wir uns am besten alle immer wieder selber: Ich bin unter Gottes Hand. Der sorgt, der kann, der macht. Und der hat es auch nicht nötig, sich erst durch unser Sorgen dazu bewegen zu lassen, etwas für uns zu tun. Er ist und bleibt doch unser Vater. Ach, wie gut und heilsam ist solche Demut, wie sie der Apostel hier beschreibt!

Und dann spricht der Apostel hier auch noch von der Nüchternheit: „Seid nüchtern“, so schreibt er es den Christen in Kleinasien, so schreibt er es auch uns. Gestern Abend sah ich auf Facebook ein Video von einem besoffenen Oktoberfestbesucher in München, der so betrunken war, dass er nicht merkte, dass er eine Rolltreppe in falscher Richtung hinaufzugehen versuchte und sich wunderte, dass die Treppe so lang war und er nicht vorankam. Wenn man nicht nüchtern ist, dann kämpft man sich völlig unnötig an Dingen ab und kommt am Ende doch nicht vorwärts.

Wenn wir als Christen nüchtern sind, dann erkennen wir sehr schnell, dass wir unser Leben und die Geschichte dieser Welt nur richtig einordnen können, wenn wir wissen, dass wir uns zeit unseres Lebens in einem Kampf mit dem Teufel befinden, der uns kaputt zu machen versucht, ja, der vor allem versucht, uns von unserem Vertrauen auf Christus abzubringen. Nüchtern zu sein heißt also: mit dem Teufel zu rechnen, zu verstehen, dass er in dem am Werk ist, was uns begegnet. Wir können den Widerstand, der konvertierten Christen vonseiten der staatlichen Stellen in unserem Land entgegengebracht wird, nicht richtig verstehen, wenn wir nicht darum wissen, dass unser Widersacher, der Teufel, umhergeht wie ein brüllender Löwe. Das sind nicht bloß ein paar sachliche Fehleinschätzungen, denen wir da begegnen: Es geht um viel mehr. Es geht letztlich um eine Bedrohung unseres Glaubens. Den sollen wir uns nicht nehmen lassen, wenn uns in unserem Leben so viel Leid, so viel Unrecht widerfährt. Und dabei sollen wir unsere Situation zugleich nüchtern einordnen: Mit der Erfahrung der immer weiter um sich greifenden Einschränkung und Verletzung der Religionsfreiheit in unserem Land stehen wir eben nicht allein da. „Wisst, dass ebendieselben Leiden über eure Brüder und Schwestern in der Welt kommen“, schreibt der Apostel. Christ zu sein bedeutet eben gerade nicht, ein einfacheres Leben zu haben. Verfolgung, Schikanen, Unrecht – sie sind für Christen überall auf der Welt Realität. Wieso sollte dies in unserem Land anders sein? – So sollen wir es ganz nüchtern sehen und Abschied nehmen von der Illusion, dass Christen hier in unserem Land noch einen besonderen Schutz genießen könnten.

Aber zur Nüchternheit gehört eben auch, dass wir Gott zutrauen, dass er zu einem guten Ende zu führen vermag, was wir in unserem Sorgen gar nicht mehr für möglich halten, ja, dass er uns aufrichten und stärken wird, wenn wir unter unseren Sorgen zusammenzuklappen drohen. So gewiss der Teufel eine Realität ist, so gewiss ist es eben auch die Fürsorge unseres Herrn, der uns schon in unserer Taufe zur ewigen Herrlichkeit berufen hat. Er wird uns ganz gewiss zu diesem Ziel führen, auch wenn seine Wege vielleicht nicht die sind, die wir uns vorgestellt haben. Jawohl: Er sorgt für euch! Amen.

Zurück