1. Timotheus 1,12-17 | 3. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

„Religionen sind zu schonen, sie sind für Moral gemacht.“ – So erklärt es uns Herbert Grönemeyer in seinem Lied „Ein Stück vom Himmel“. Leuchtet doch eigentlich ein – wozu sollen Religionen denn sonst da sein, wenn nicht dazu, dass sie die Leute dazu anleiten, anständig zu leben und miteinander umzugehen? - So möchte man meinen.

Der jüdische Rabbi Saulus war damals vor knapp 2000 Jahren auch ein hochmoralischer Mensch. Er hielt sich an alle Gesetzesbestimmungen seiner Religion und regte sich heftig über diejenigen auf, die auch nur in irgendeiner Weise von diesen Bestimmungen abwichen. Doch dann begegnete ihm mit einem Mal der auferstandene Jesus Christus und haute ihm seine ganze Moralreligion in kleine Stücke, dass davon nichts mehr übrigblieb, im Gegenteil: Saulus erkannte, dass all sein ganzes hochmoralisches Leben, sein ganzes religiöses Engagement in Wirklichkeit Sünde war, Sünde vor Gott, gerade kein Weg, der ihn am Ende in den Himmel führte.

„Die Zerstörung der CDU“ – so lautet der Titel eines Youtube-Videos, das vor einigen Wochen vor der Europawahl großes Aufsehen erregte. Ob das Video tatsächlich hielt, was der Titel versprach, darüber gab es durchaus unterschiedliche Ansichten. „Die Zerstörung der Religion“ – so könnte man die Epistel des heutigen Sonntags zusammenfassen. Und diese Zerstörung, die nimmt nun nicht irgendein Jüngling vor, sondern kein geringerer als der auferstandene Herr Jesus Christus selber. Der lässt den Paulus erkennen, dass sein ganzes hochmoralisches, hochreligiöses Leben in Wirklichkeit in die völlig falsche Richtung gelaufen ist.

Ja, so lässt er es den Paulus erkennen: Du kannst alle religiösen Gebote einhalten, du kannst genau darauf achten, dass du die richtigen Sachen isst, dass du deine Gebete richtig verrichtest, dass du fastest und dein Leben ganz auf Gott ausrichtest: Wenn du nicht an mich, Christus, glaubst, dann ist all dein frommes, religiöses Leben, dann ist all deine Moral Sünde in Gottes Augen.

Ich erlebe das ja immer wieder in den Gerichtsverhandlungen beim Verwaltungsgericht, dass die Richter eben diese Frage stellen, nein, nicht als Fangfrage, sondern weil das ganz ehrlich ihre Vorstellung, ihre Gedankenwelt ist: Sie sagen: Eigentlich haben der Islam und der christliche Glaube doch ganz ähnliche Moralvorstellungen: Man darf nicht lügen, man darf nicht stehlen, man darf nicht töten, man soll anderen Menschen helfen. Warum muss man denn dann seine Religion wechseln, wenn sich die Moral im Grunde genommen doch gar nicht so sehr unterscheidet?

Und dann machen manche in der Gerichtsverhandlung den Fehler und sagen: „Ja, die Moral ist natürlich grundsätzlich dieselbe – aber die Christen halten sich an diese religiösen Vorschriften und die Muslime nicht.“ Ach, Schwestern und Brüder: Was für ein Unsinn! Der Unterschied zwischen Christen und Muslimen besteht nicht darin, dass Christen moralisch höherstehende Leute sind als Muslime. Was für eine Arroganz wäre das, wenn wir das behaupten würden! Es gibt viele Muslime, die ein hochmoralisches Leben führen. Nicht wenige unserer Gemeindeglieder können dies beispielsweise von ihren eigenen Eltern behaupten. Es wäre mehr als borniert, wenn wir behaupten würden, wir als Christen wären moralisch bessere Menschen, ja daran könnte man uns im Vergleich zu anderen Menschen erkennen. Es gibt auch viele Atheisten, die moralisch hochanständig sind, von denen sich die meisten Christen noch eine gewaltige Scheibe abschneiden könnten. Und darüber können wir uns freuen, das ist gut so. Wir haben es als Christen wahrlich nicht nötig, andere niederzumachen, damit wir zeigen können, dass wir als Christen besser sind als andere.

Der Apostel Paulus schreibt hier in unserer Epistel sehr klar: Jawohl, ich bin die Nummer eins, gar keine Frage. Aber ich bin nicht die Nummer eins in Fragen der Moral oder der Religiosität. Ich bin nicht besser als andere, sondern ich bin der erste, die Nummer eins unter den Sündern!

Das unterscheidet den Apostel, das unterscheidet den Christen von anderen Menschen, die vielleicht ein viel moralischeres Leben führen als sie: Paulus hatte erkannt, dass seine ganze Moral, sein ganzer religiöser Einsatz ihn eben nicht in den Himmel bringt, im Gegenteil: Er hatte erkannt: Wenn ich mich auf mich selber, auf meinen eigenen Anstand verlasse, dann gehe ich verloren. Nein, es war bei Paulus ja nicht so gewesen, dass er sich immer größere Mühe gegeben hätte, alle Gebote Gottes zu halten, und dass er dann am Ende gemerkt hätte: Ich schaffe das niemals zu 100%. Paulus ist nicht an seinen eigenen moralischen Ansprüchen gescheitert. Sondern in dem Augenblick, als er den auferstandenen Christus damals sah, erkannte er: Das ist Sünde, was ich bisher als moralisch richtig ansah. Das ist Sünde, mich auf meine eigenen guten Werke zu verlassen. Das ist Sünde, ein Leben zu führen, das nicht ganz und gar auf Christus ausgerichtet ist. Von Christus her erscheint mein ganzes Leben noch einmal in einem ganz anderen Licht, erscheint mein ganzer Einsatz für die Religion nur noch als Lästerung und Frevel.

Ja, das macht einen Christen aus, dass er mit Paulus bekennt: Ich bin Sünder. Ich war es nicht bloß mal und habe mich dann zu einem anständigen Menschen gewandelt, sondern ich bleibe mein ganzes Leben lang einzig und allein auf die Geduld, auf die Barmherzigkeit meines Herrn angewiesen.

Im Islam gibt es die Vorstellung, dass da am Tag des letzten Gerichts eine große Waage sein wird. Und dann werden in der einen Waagschale die ganzen Sünden sein, die ich begangen habe, und dann werden in der anderen Waagschale meine guten Werke sein, mit denen ich versucht habe, meine Sünden wieder auszugleichen. Und wenn am Ende meine guten Werke doch mehr waren als meine Sünden, dann reicht es am Ende für mich hoffentlich doch noch, ins Paradies zu gelangen.

O nein, ruft der Apostel Paulus: Wenn du mit deinen guten Werken deine Sünde ausgleichen müsstest, dann würde es nie und nimmer reichen, dann hättest du nicht die geringste Chance. Deine Sünden wiegen auch nicht deshalb weniger schwer, weil du sie vielleicht nicht absichtlich oder unwissentlich getan hast. Das Einzige, was bei dieser Waage die Schale mit deinen Sünden doch noch hochdrücken kann, ist das, was Christus für dich getan hat, als er für dich am Kreuz gestorben ist. Denn er ist in die Welt gekommen, die Sünder selig zu machen, jawohl, höre es: nicht die moralisch anständigen Menschen, sondern die Sünder!

Wenn du auf dein Leben schaust, dann mag es sein, dass du darin tatsächlich eine Menge Schuld und Versagen erkennst, dass du erkennst, wie du tatsächlich in deinem Leben oft genug in die völlig falsche Richtung gelaufen bist. Wenn du es erkennst, dann höre dieses teuer werte Wort: Christus Jesus ist in die Welt gekommen, die Sünder selig zu machen. Bist du ein Sünder, bist du jemand, der Gottes Ansprüchen nicht genügt? Dann ist Christus auch für dich in die Welt gekommen, um dich selig zu machen!

Es mag aber auch sein, dass dein Leben scheinbar in ganz geordneten Bahnen gelaufen ist, dass du dir im Vergleich zu anderen vielleicht gar nicht so viel vorzuwerfen hast. Dann schaue auf den Apostel Paulus, lass dich von ihm dazu anleiten, zu erkennen, wer du wirklich bist: Ein Mensch, der ohne Christus verloren ist und bleibt, ein Mensch, der nur darum in Gottes Gericht bestehen wird, weil Christus für ihn eintreten wird.

Dann werden auch wir barmherziger mit der Schuld und dem Versagen anderer Menschen umgehen. Dann werden wir auch niemals von oben auf Menschen herabblicken, die keine Christen sind, als ob wir etwas Besseres wären. Nein, wir sind nicht besser, wir haben es nur besser, dass uns Christus begegnet ist, dass er uns seine Vergebung geschenkt hat.

Gott geb’s, dass wir genau dies ausstrahlen im Umgang mit anderen Menschen, dass wir uns jedes Richten über andere Menschen verkneifen und stattdessen immer wieder nur Christus danken, der uns gerettet hat, der uns in seinen Dienst gerufen hat! Nein, es geht wahrlich nicht darum, dass wir die Religionen schonen sollen, weil sie für Moral gemacht sind. Es geht nur darum, dass wir Gott danken, dass er uns geschont hat, dass er unserem Leben eine neue Richtung gegeben hat. Ja, gerade so ist unser Leben reich geworden an Glaube und an Liebe, so formuliert es Paulus hier. Ja, Gott geb’s, dass gerade auch Menschen aus anderen Religionen etwas von dieser Liebe erfahren, davon, dass Gott den Sünder, jawohl, den Sünder liebt! Amen.

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