1.Timotheus 1,12-27 | 3. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens
Heute Abend tritt die deutsche Fußballnationalmannschaft zu ihrem ersten Spiel während der Fußballeuropameisterschaft an. Das Ziel der Mannschaft ist klar: Erste wollen sie werden, ganz vorne am Ende dastehen, den Pokal als beste Mannschaft Europas in den Händen halten. Und sollte es die Mannschaft schaffen, dann wird sie von allen umjubelt werden, werden ihre Spieler Vorbilder sein für viele andere, die versuchen werden, ihnen nachzueifern.
Von einem, der auch immer der Erste sein wollte, handelt auch die Epistel des heutigen 3. Sonntags nach Trinitatis. Nein, der junge Schriftgelehrte Saulus hatte sich nicht damit zufriedengegeben, sorgfältig alle Gebote Gottes zu beachten. Er wollte mehr, wollte besser sein als alle anderen, wollte auch alle anderen, die es mit diesen Geboten nicht so ernst nahmen, auf Linie bringen – und waren sie nicht willig, so brauchte er Gewalt. Vor allem auf die Christen hatte er es abgesehen, auf diese Leute, die allen Ernstes behaupteten, Gott habe einen Gotteslästerer, einen, der behauptete, selber Gottes Sohn zu sein, wieder von den Toten auferweckt. Das war vollkommen unmöglich, dann hätte Gott ja dieser Gotteslästerung und vor allem diesem Gotteslästerer Recht gegeben. Und dagegen musste Saulus vorgehen, tat dies mit der ihm eigenen Radikalität: Keiner hatte so viele Christen wie er dingfest gemacht und zur Auspeitschung nach Jerusalem gebracht. Saulus war nicht nur irgendwer, nein, er war der Erste unter den Christenverfolgern, ganz klar.
Doch dann begegnet ihm der auferstandene Christus persönlich kurz vor Damaskus und macht ihm klar, dass er an dem völlig falschen Wettbewerb teilgenommen hatte, dass der Titel, Erster unter den Christenverfolgern zu sein, in Wirklichkeit völlig wertlos war, weil er von einer völlig falschen Voraussetzung ausgegangen war, nämlich davon, dass Christus natürlich tot sei, nicht von den Toten auferstanden sei. Er dachte allen Ernstes, bei Gott mit seinem Einsatz besonders gut dazustehen, genau das getan zu haben, was Gott von ihm erwartete, seinem Willen, seinem Wort ganz und gar entsprochen zu haben.
Doch nun muss er mit einem Mal feststellen, dass er stattdessen in einer völlig anderen Disziplin den ersten Platz errungen hat: nicht in der Disziplin „treuer Befolger des göttlichen Gesetzes“, sondern in der Disziplin „besonders krasser Sünder“. Erster unter den Sündern – das ist der Titel, den Saulus mit seinem Eifer errungen hat, ja, Obersünder zu sein, das ist der Titel, den ihm in der Tat keiner streitig machen kann.
Wie wird man also Erster unter den Sündern, wie kann man in der Disziplin „besonders krasser Sünder“ den ersten Platz belegen? Der Apostel Paulus zeigt es uns im Rückblick: Besonders krasser Sünder wird man nicht dadurch, dass man besonders viele Verstöße gegen das sechste Gebot vorweisen kann, dass man besonders viele Menschen beleidigt oder verprügelt hat, dass man besonders viele Menschen beklaut oder belogen hat. Sondern erster unter den Sünder wurde Saulus damals dadurch, dass er sich bemühte, alle Gesetze Gottes einzuhalten und ihre Geltung bei allen unerbittlich durchzusetzen. Erster unter den Sündern wurde Saulus damals dadurch, dass er glaubte, an Christus vorbei sich einen Platz im Himmel verdienen zu können. Schwestern und Brüder: Prägt es euch bitte gut ein: Sünde hat nichts mit schlechter Moral zu tun. Erster unter den Sündern wurde damals ein moralisch einwandfreier Mensch, voll von Religiosität, ganz und gar beseelt von dem Gedanken, Gott mit dem ganzen Leben dienen zu wollen. Doch er wird erster unter den Sündern, weil er allen Ernstes glaubte, sich seinen Weg in den Himmel an Christus vorbei bahnen zu können. Wer glaubt, aufgrund seiner eigenen guten Werke, aufgrund seines eigenen anständigen Lebens in den Himmel kommen zu können, ja, der ist in Wirklichkeit ganz vorne mit dabei im Kampf um den Titel des besonders krassen Sünders. Da kommen Ehebrecher, Diebe und Betrüger einfach nicht mit.
Schwestern und Brüder: Ist euch das noch klar, wie provozierend das ist, was der Apostel Paulus hier von sich selber schreibt? Wer an Christus vorbei in den Himmel kommen will, ist ein Gotteslästerer und Frevler, wer Christen von ihrem Glauben abzubringen versucht, der tut damit größere Sünde als das, was man sich landläufig unter dem Begriff der Sünde vorzustellen vermag. Der oberanständigste Saubermann ist der oberste Sünder, schlägt alle Verbrecher um Längen, wenn es um den Titel des Ersten unter den Sündern geht.
Zu den Fragen, die ich bei der Prüfung der Täuflinge vor ihrer Taufe stelle, gehört immer wieder diese eine: Wenn Gott dich am Ende deines Lebens einmal fragen wird, warum er dich in den Himmel lassen soll, was wirst du antworten? Und wenn dann jemand antwortet: Ich war doch immer solch ein anständiger Mensch, ich habe mich doch immer darum bemüht, die Zehn Gebote zu halten, ich war doch nie ein großer Sünder – dann zeigt er damit, dass er noch nichts vom christlichen Glauben verstanden hat, dass er noch nicht so weit ist, dass er getauft werden kann. Wer sich vor Gott auf seinen eigenen Anstand, auf seine eigenen guten Werke beruft, der verschließt sich gerade selber die Tür zum Himmel. Und wenn wir meinen, wir müssten mit besonderem Eifer anderen auf den richtigen Weg verhelfen, müssten sie mit Druck und vielleicht gar Drohungen dahin bringen, dass sie nun endlich auch alles so sehen wie wir, dann sollen wir uns nicht wundern, wenn Gott auch uns eine Goldmedaille der besonderen Art verleiht: Obersünder, Frevler gegenüber Gottes Auftrag, total verrannt, statt Gottes besonderer Liebling zu sein. Na, wie viele Medaillen baumeln da wohl auch schon um unseren Hals, wie oft haben wir vielleicht schon diesen Eindruck gehabt, wir seien vielleicht doch ein bisschen besser als andere, die das mit dem christlichen Glauben nicht so ernst nehmen wie wir! Ja, mit dieser Einstellung können auch wir Erste werden – Erste unter den Sündern, Menschen, die die Begegnung mit dem lebendigen Christus in der Tat noch viel dringender brauchen als so manche, auf die wir vielleicht so gerne herabblicken möchten.
Erster unter den Sündern zu sein – ja, überhaupt Sünder zu sein, das ist keine Kleinigkeit, die man ein wenig augenzwinkernd zur Kenntnis nehmen kann, frei nach dem Karnevalsschlager: Wir sind alle kleine Sünderlein und kommen alle in den Himmel. Nein, Sünder rutschen nicht einfach mal so nebenbei durch in den Himmel, weil der liebe Gott zwischendurch mal besonders gute Laune hat. Sondern Sünder sind verloren, müssen dringend gerettet werden. Das ist schon eine ganz ernste Angelegenheit. Sünder können sich nicht selber retten, nicht dadurch, dass sie mit ihren guten Werken aufwiegen, was sie in ihrem Leben falsch gemacht haben. Es gibt nur einen, der uns retten kann, ja der uns gerettet hat: Ihn, Christus Jesus, der eben darum in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, die Sünder zu retten. Nein, Jesus hat die Sünder nicht dadurch gerettet, dass er sie auf den Pfad der Tugend zurückgeführt hat. Sondern er hat sie dadurch gerettet, dass er für ihre Schuld am Kreuz gestorben ist. Das allein rettet, das allein hat den Saulus gerettet, und das allein rettet auch uns, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, dass er getan hat, was wir nie hätten tun können. Das ist ein Wort, des Glaubens wert, wie Paulus es hier so schön formuliert, ja, das allein ist die richtige Antwort, wenn wir gefragt werden, warum wir eigentlich einmal in den Himmel kommen: Dass Jesus für unsere Sünden am Kreuz gestorben ist, dass er uns die Tür zum Himmel aufgemacht hat, dass er uns gerettet hat. Das ist das Allerwichtigste, was ein jeder wissen soll, wenn er getauft wird: Jesus ist mein Retter, er hat am Kreuz meine Schuld auf sich genommen, durch ihn allein komme ich in den Himmel.
Das dauert bei manchen eine ganze Weile, bis ihnen das richtig aufgeht. Das hat auch bei dem Saulus damals vor seiner Begegnung mit Christus lange gedauert, viele Jahre, bis er das erkannt hat, was da am Kreuz auf Golgatha tatsächlich passiert ist, bis ihm aufgegangen ist, dass der, den er als Gotteslästerer abgetan hatte, ihn, Saulus, den eigentlichen Gotteslästerer, gerettet hat. Und da sagt der Apostel Paulus jetzt noch ein zweites Mal: Ich bin der Erste – nicht in dem, was ich Gutes getan haben, sondern ich bin der Erste, an dem Christus alle Geduld erwiesen hat. Schaut euch mich an: Ich habe die Christen verfolgt, ich habe geglaubt, ich könnte mir mit meinen guten Werken den Weg in den Himmel bahnen, ich war auf der völlig falschen Spur. Doch Christus hat mich nicht aufgegeben, hat Geduld mit mir gehabt – und wie! Schaut euch mich an: Hier stehe ich, ein geretteter Mensch, der von nichts anderem lebt als von der Geduld seines Herrn.
Christus hat Geduld, Christus gibt Menschen nicht auf – darin allein will der Apostel Paulus anderen ein Vorbild sein. Das ist es, was wir von Paulus lernen sollen und dürfen. Christus hat Geduld. Er kann lange warten, bis er Menschen dahin führt, dass sie erkennen, dass sie auf dem völlig falschen Weg waren. Christus hat Geduld. Er schreibt Menschen nicht ab, steckt sie nicht in Schubladen und lässt sie darin liegen. Mit Barmherzigkeit hat er damals auf Saulus geschaut. Mit Barmherzigkeit schaut er auch auf uns, ja, auch auf die, die ihn noch nicht als Herrn und Retter erkannt haben. Wenn Paulus davon spricht, dass er der Erste ist, dann möchte er nicht selber groß herauskommen, sondern dann möchte er, dass Christus groß herauskommt, sein Erbarmen, seine Liebe, seine Geduld. Lernen wir eben dies von dem großen Vorbild Paulus: Dass auch wir anderen mit Geduld begegnen, weil wir wissen, dass Christus mit ihnen und mit uns Geduld hat, dass auch wir niemals andere Menschen aufgeben, die jetzt noch nichts von ihm, Christus, wissen wollen. Wo wir mit unseren Möglichkeiten an unsere Grenzen kommen, da fängt Christus erst an, er, der doch nur dazu in diese Welt gekommen ist, um die Sünder, jawohl, die Sünder zu retten.
Gestern Abend sah ich beim Abendessen einen Ausschnitt aus der Trauerfeier für Muhammad Ali. „Der Größte“ – so hat er sich selber genannt, und er hat in seinem Leben in der Tat Großes geleistet, Großes, das Respekt verdient. Und so wurden eben diese großen Taten nun auch bei der Trauerfeier gewürdigt, verständlicherweise. Wenn Christen beerdigt werden, dann ist bei diesen Beerdigungen, Gott geb’s, nicht davon die Rede, wie gut sie waren und was sie geleistet haben. Dann ist hoffentlich allein davon die Rede, dass da ein Sünder gestorben ist – und dass diesem Sünder Barmherzigkeit widerfahren ist, dass dieser Sünder selig geworden ist, weil Christus für ihn am Kreuz gestorben ist. Das allein ist wirklich wichtig, allein das hat Ewigkeitswert. Ja, das ist gewisslich wahr. Amen.