1. Timotheus 3,16 | Heilige Christnacht | Pfr. Dr. Martens

Es ist eine atemberaubende, geradezu unfassliche Geschichte, die wir in der vergangenen Woche in unserem Land vernommen haben: Sie handelt von einem Reporter namens Claas Relotius, einem vielfach preisgekrönten Journalisten, der im SPIEGEL in den vergangenen Jahren viele spannende und zu Herzen gehende Geschichten veröffentlicht hatte, die im SPIEGEL-Leser immer wieder das wohlige Gefühl aufkommen ließen, dass die Welt um ihn herum ja tatsächlich genauso sei, wie er sich das immer schon vorgestellt hatte. Doch nun kam vor einigen Tagen der große Knall: Es hat sich herausgestellt, dass diese ganzen spannenden Berichte und Reportagen von Herrn Relotius zum größten Teil frei erfunden oder zumindest äußerst phantasiereich ausgeschmückt waren, die Geschichten von armen guten Flüchtlingen und bösen Amerikanern, diese ganzen schönen Geschichten, die einen innerlich immer wieder so sehr bestätigten in dem, was man immer schon für richtig und falsch gehalten hatte. Ja, damit nicht genug: Mittlerweile besteht sogar der Verdacht, dass der Starreporter für von ihm erfundene Flüchtlingskinder Spenden auf sein Privatkonto eingesammelt hat, die er sicher an die vermutlich gar nicht existierenden Flüchtlingskinder weiterleiten konnte.

Fake News auf allerhöchstem Niveau – so viele sind darauf hereingefallen, der SPIEGEL selber, aber eben auch so viele andere, die sich bei der Lektüre der Relotius-Artikel so gerne in ihren eigenen Auffassungen bestärkt sahen. Und alle miteinander haben wir gelernt: Wir fühlen uns doch so wohl in unseren eigenen Filterblasen, sind bereit, so ziemlich alles zu glauben, wenn es uns in unseren eigenen Auffassungen bestätigt, kommen gar nicht auf die Idee, es noch für möglich zu halten, dass Dinge in Wirklichkeit auch ganz anders sein könnten. Doch irgendwann platzt die Blase, irgendwann fliegt der ganze Betrug doch auf, und so viele fragen sich jetzt, wie sie glauben konnten, was doch bei näherem Hinsehen von vornherein so unglaubwürdig war.

Fake News – die hat nicht nur Herr Relotius verbreitet. Fake News – die haben wir in den vergangenen Wochen auch über das Weihnachtsfest immer wieder zu hören bekommen: Weihnachten sei ein Fest der Familie, das Wichtigste an Weihnachten seien eine gute Stimmung, leuchtende Kinderaugen und passende Geschenke – und über allem ein bisschen Frieden. Und so viele sind auf diese Fake News allen Ernstes hereingefallen, haben es allen Ernstes geglaubt, dass das Gelingen von Weihnachten daran festzumachen ist, dass der Weihnachtsbraten die richtige Konsistenz hat, dass der Weihnachtsbaum schön aussieht und die Schwiegermutter sich mit giftigen Kommentaren zurückgehalten hat. Ja, darauf sind sie hereingefallen, weil so etwas genau den eigenen Erwartungshaltungen entspricht, weil sich so viele gar nicht vorstellen können, dass Weihnachten in Wirklichkeit etwas ganz anderes sein könnte, als was doch scheinbar jeder über Weihnachten denkt.

Doch in diese Filterblase sticht nun kein Geringerer als Gott selber in der Predigtlesung dieser Heiligen Christnacht hinein und lässt sie zerplatzen: Während wir Menschen so leicht geneigt sind, gerade auch zu Weihnachten immer nur um uns selber zu kreisen, um unsere Wünsche und Bedürfnisse, während wir Menschen so leicht geneigt sind, Gott zu Weihnachten höchstens die Rolle eines feierlichen religiösen Hintergrundgeräuschs zu überlassen, öffnet uns Gott die Augen für das tiefste Geheimnis dieser Welt, für das tiefste Geheimnis auch unseres Lebens: Sinn und Ziel unseres Lebens besteht nicht bloß darin, um uns selber zu kreisen, unsere eigenen Wünsche und Erwartungen erfüllt zu bekommen, sondern Gott selbst ist in diese Welt hineingekommen, „offenbart im Fleisch“, wie es in dem Kirchenlied heißt, das der Apostel Paulus hier in unserer Predigtlesung zitiert. Um Gott geht es, um einen Gott, der im Fleisch offenbart ist, auf Deutsch: der als ein kleines Baby in einer Futterkrippe liegt. Ja, das feiern wir zu Weihnachten, nicht bloß ein bisschen Stallromantik, nicht bloß ein bisschen stille Nacht. Gott mischt sich ein in unser Leben, weil er weiß: Wenn wir in unserer Filterblase verharren, wenn unsere Gedanken nur um Familie, Essen, Geschenke und ein bisschen feierliche Stimmung kreisen, dann kostet uns das am Ende das Leben, ja, das ewige Leben. Und darum hat es Gott eben nicht gereicht, uns eine himmlische Gegendarstellung von oben zukommen zu lassen. Nein, er ist selber zu uns gekommen, um uns nicht nur aus der Filterblase zu holen, sondern um uns in den Himmel zu bringen.

Nein, diese Nachricht ist nicht das, was wir uns immer schon gewünscht, was wir immer schon erwartet haben. Sie geht uns nicht runter wie Butter, wenn wir sie hören. Im Gegenteil: Sie mag uns gewaltig stören, unsere Vorstellungen durcheinanderbringen. Und doch hat sich diese so unfassliche Nachricht von dem Gott, der Mensch geworden ist, längst bewährt, hat sich gerade nicht widerlegen lassen, erst recht nicht durch irgendwelche armseligen angeblichen Enthüllungsgeschichten über Jesus, mit denen uns der SPIEGEL in vergangenen Jahren ja immer wieder einmal beglückt hatte. Ausgebreitet hat sie sich seit 2000 Jahren von Bethlehem aus in die ganze Welt, ist verkündigt den Völkern – und geglaubt von Menschen, die doch ursprünglich gar keinen Zugang zum Volk Gottes, gar keinen Zugang auch zu dieser Geschichte vom Kommen Gottes in diese Welt hatten.

Ja, merkt ihr es: Ihr seid selber Teil dieser Anti-Fake-News-Bewegung, die Gott selber mit seiner Menschwerdung in dieser Welt angestoßen hat. Das ist kein Fake, dass du heute Nacht hier in der Kirche sitzt, und ich weiß: Dir geht es eben auch nicht bloß um ein bisschen schöne Stimmung oder um Weihnachtslieder als Verdauungshilfe nach dem üppigen Abendessen. Du bist heute Nacht hier, weil Gott auch in die Filterblase deines Lebens hineingestochen hat, dich hat erkennen lassen, dass es da eine ganz andere Welt gibt, mit der du in Verbindung kommen, ja, in der du für immer leben sollst. Das ist kein Fake, wenn du gleich nach vorne kommst, um den heiligen Leib und das heilige Blut deines Herrn und Gottes zu empfangen, der für dich Fleisch geworden ist. Du bekommst hier nicht nur ein Stück Brot und einen Schluck Wein und kannst dir dann deine eigenen Vorstellungen darüber machen, dir deine eigene Story dazu zusammenbasteln. Nein, er ist da, leibhaftig da, ob du es glaubst oder nicht, macht sich nicht von deinen Vorstellungen und Gedanken abhängig, sondern will in dir gleich Wohnung nehmen, um auch dich mit sich zusammen in die Herrlichkeit aufzunehmen.

Und da können wir tatsächlich nur in jedem Gottesdienst anbetend auf die Knie sinken und singen: „Geheimnis des Glaubens“! Von uns aus wären wir nie darauf gekommen. Aber nun ist er da, er, unser Herr und Gott, er, der uns nicht zu seinem eigenen Vorteil an der Nase herumführt, sondern der für uns auf alle Vorteile verzichtet, sich für uns ganz nackt und bloß macht, damit wir erkennen, was wirklich wahr ist, was wirklich hält und trägt. Darum lohnt es sich, hierher zur Kirche zu kommen, nicht nur in der Christnacht, sondern immer wieder, weil ihr hier euch darauf verlassen könnt, dass ihr keine Storys zu hören bekommt, die wir später irgendwann mal wieder reumütig zurücknehmen oder umdeuten müssen, sondern auf die ihr euch verlassen könnt.

„Sagen, was ist.“ – So lautet der Titel des neuen SPIEGEL. Doch das ist unser Motto als Kirche schon seit 2000 Jahren: „Sagen, was ist!“ Das gilt, seit ER, unser Herr und Gott, offenbart ist im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit. Jawohl, so ist es – darauf darfst du dich verlassen im Leben und im Sterben. Der Himmel ist auf die Erde gekommen, damit du in den Himmel kommst. Und darum freue dich, o Christenheit! Amen.

Zurück