1. Timotheus 4,4+5 | Erntedankfest | Pfr. Dr. Martens
Vor ein paar Jahren sprach ich kurz vor der Herbstfreizeit unseres Jugendkreises noch einmal mit der Leiterin, die für die Verpflegung der Jugendlichen während der Woche zuständig war. Ich weiß, so sagte sie, dass in Ihrer Gruppe viele Flüchtlinge sind. Was dürfen die denn alles nicht essen? Ich schüttelte nur den Kopf: Wir sind eine christliche Jugendgruppe, da fragen wir überhaupt nicht danach, ob jemand etwas essen darf oder nicht!
Ja, das ist in der Tat ein besonderes Kennzeichen von Christen, dass sie keine Speisegebote oder Speiseverbote kennen, dass sie nicht darauf achten müssen, bestimmte Arten von Essen zu vermeiden, weil sie ansonsten eine Sünde begehen würden.
Die meisten derer, die heute hier in der Kirche sitzen, kennen ja solches Denken von früher noch ganz genau: Da musste genau darauf geachtet werden, dass man ja nichts aß, was haram war, dass man natürlich auch nichts trank, was haram war. Und wenn man es doch machte, war es eine schwere Sünde, die entsprechend auch vom Staat bestraft wurde. Und dieses Denken hält ja mittlerweile auch in unserem Land immer weiter Einzug: Viele Produzenten von Hähnchenfleisch hier in Deutschland achten schon genau darauf, dass ihre Produktionsanlagen nach Mekka ausgerichtet sind, dass der Schalter zu Beginn einer Schlachtungs-Schicht nur von einem muslimischen Mitarbeiter unter Anrufung Allahs bedient werden darf und auch die Tötung der Tiere genau nach den Vorschriften des Koran verläuft. Denn nur dann bekommt das Wiesenhof-Hähnchen im Supermarkt auch den begehrten Halal-Stempel. Regelmäßig wird dabei auch kontrolliert, dass die Hähnchen niemals mit Schweinefleisch oder mit Alkohol in Berührung kommen. Doch viele unserer Gemeindeglieder haben dieses Denken auch noch viel unmittelbarer hier in Deutschland erfahren, wenn ihnen in ihrem Asylbewerberheim beispielsweise verboten wurde, die Küche zu betreten, weil Christen das Essen, das dort zubereitet wird, unrein machen würden. Doch dieses Denken, dass es Sünde sein könnte, dieses oder jenes angeblich unreine Essen zu sich zu nehmen, gibt es eben nicht nur im Islam. Es begegnet uns auch bei Ernährungsfanatikern unserer Tage, die sich je nach Couleur vegetarisch, lakto-vegetarisch oder vegan ernähren oder die genau darauf achten, dass man Essen von diesem oder jenem Hersteller keinesfalls zu sich nehmen darf, weil man sich damit an irgendwelchen höheren Mächten, an der Natur, der Umwelt oder der politischen Korrektheit versündigen würde.
Strukturell ist das Denken immer das Gleiche: Ich darf bestimmte Dinge nicht essen oder trinken, weil ich mich sonst versündige, weil ich sonst die Strafe höherer Mächte auf mich herabrufe – ob nun hier im Diesseits oder einst im Jenseits.
Solch ein Denken gab es auch schon zur Zeit des Neuen Testaments: Gnosis, so nannte man diese Strömung, die unter dem Begriff „Erfan“ auch heute noch im Iran existiert. Und die Gnosis lehrte ebenfalls, dass man bestimmte Dinge nicht essen oder trinken dürfe, weil man sonst den inneren göttlichen Seelenfunken daran hindern würde, sich von der materiellen Welt zu befreien und sich in höhere geistige Welten aufzuschwingen.
Und darauf reagiert der Apostel Paulus hier in unserer kurzen, aber sehr prägnanten Predigtlesung sehr klar und eindeutig: Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut. Es gibt kein haram oder halal beim Essen oder Trinken, es gibt nichts, womit ich in irgendeiner Weise mein Seelenheil gefährden würde, dadurch, dass ich es zu mir nehme. Denn alles ist von Gott geschaffen. Die Materie ist nicht etwas Böses, wovon wir uns distanzieren müssten. Sondern Gott hat uns diese Schöpfung anvertraut, damit wir uns an ihr erfreuen können, damit wir sie genießen können. Und das kann eben auch ein Schweineschnitzel oder ein Glas Rotwein sein, selbstverständlich. Nein, das heißt nicht, dass ein anständiger Christ nun um jeden Preis Pfälzischen Saumagen zu sich nehmen oder unbedingt Bier trinken muss. Und erst recht gehört es nicht zum Kennzeichen eines wahren Christen, dass er auch dazu in der Lage ist, Hunderagout oder Weinbergschnecken sich einzuverleiben. Wer kein Schweinefleisch mag, der soll es bleiben lassen, und wer kein Bier trinkt, hat sicher manchen guten Grund, dies nicht zu tun. Aber keiner soll behaupten, diejenigen würden eine Sünde begehen, die andere Ernährungsgewohnheiten haben als man selber. Denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut. Durch Essen oder Trinken gefährde ich nicht mein Verhältnis zu Gott.
Doch damit ist der Apostel Paulus nun noch nicht fertig. Er sagt ja nicht einfach: Esst, was ihr wollt! Sondern er spricht von Gott dem Schöpfer, ja, mehr noch, er fährt fort: Nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird. Um es einmal etwas zuzuspitzen: Ich kann mit dem, was ich esse und trinke, sehr wohl mein Verhältnis zu Gott belasten – dann nämlich, wenn ich für das, was ich esse, Gott nicht danke, wenn ich es ohne Danksagung zu mir nehme.
Schweineschnitzel zu essen, kann also in der Tat eine Sünde sein – wenn ich es ohne Dank an Gott zu mir nehme. Hühnchenfleisch zu essen, kann in der Tat eine Sünde sein – wenn ich Gott dafür zuvor nicht im Gebet gedankt habe. Die Danksagung über dem Essen macht also den entscheidenden Unterschied. Lasse ich Gott beim Essen draußen vor, stürze ich mich auf das Essen wie ein Tier, oder halte ich vor dem Essen inne, nehme ich das Essen, das da vor mir steht, ganz bewusst als ein Geschenk von Gott an und danke ihm dafür?
Ja, Schwestern und Brüder, um das Tischgebet, um das Gebet vor und nach dem Essen geht es hier in unserer Predigtlesung. Das Tischgebet, das Gebet vor und nach dem Essen, ist eben nicht bloß eine ehrwürdige Tradition, die man ja vielleicht noch von den Großeltern kennt oder bei der man eben auch mitmacht, wenn man an einer Jugendkreis- oder Konfirmandenfreizeit teilnimmt. Sondern im Tischgebet wird deutlich, ob ich Gott als Geber aller guten Gaben in meinem Leben ansehe oder ob ich meine, ich käme in meinem Leben auch ganz gut ohne Gott klar, ja mehr noch: ob ich meine, ich hätte mir mein Essen letztlich ja wohl selber verdient.
In den Gerichtsverhandlungen beim Verwaltungsgericht werden unsere Gemeindeglieder immer wieder danach gefragt, ob sie denn auch vor und nach dem Essen beten. Diejenigen, die dies fragen, haben in aller Regel selber kaum Ahnung vom christlichen Glauben. Aber so viel wissen sie denn doch noch: Jemand, der nicht Gott für sein Essen dankt, der nicht ganz konkret sein Tischgebet spricht, kann ganz sicher kein ernsthafter Christ sein. Nein, das heißt natürlich nicht, dass wir nur so lange unser Tischgebet sprechen sollten, bis wir hier in Deutschland unsere positive Antwort haben. Doch es heißt in der Tat: Es geht wirklich nicht, dass wir uns Christen nennen und ohne Dank mit dem Essen anfangen – auch und gerade wenn es noch so lecker aussieht. Und es heißt in der Tat: Es ist die besondere Verantwortung von Eltern, ihren Kindern von klein auf vorzumachen, dass es selbstverständlich ist, vor und nach dem Essen zu beten, dass die Kinder gar nicht auf die Idee kommen, dass es vielleicht auch ohne gehen könnte.
Ja, Rituale sind nicht grundsätzlich etwas Falsches. Sie haben durchaus ihren Sinn. Aber wichtig ist dabei natürlich, dass wir wissen, was wir da tun, wenn wir das Tischgebet sprechen – ja, mehr noch: Dass das Tischgebet nicht bloß etwas Isoliertes in unserem Leben ist, sondern dass es ausstrahlt in unser ganzes Leben, unsere ganze Lebenshaltung prägt. Das Tischgebet soll uns daran erinnern, dass unser ganzes Leben ein Geschenk Gottes ist, dass es nicht selbstverständlich ist, dass wir genug zu essen und zu trinken haben, dass es nicht selbstverständlich ist, dass wir Kleidung und ein Dach über dem Kopf haben, dass es nicht selbstverständlich ist, dass wir Geld haben, um uns zu versorgen und uns vielleicht sogar noch das eine oder andere Extra zu gönnen. Das Tischgebet soll uns an die vielen Geschenke erinnern, die uns Gott außer dem Essen und Trinken auch noch gegeben hat: Dass wir unsere Sinne brauchen können, dass wir einen mehr oder weniger entwickelten Verstand haben, dass es so vieles gibt, woran wir uns in dieser Welt einfach auch erfreuen können: an lieben Menschen, mit denen wir zu tun haben, an den Schönheiten der Natur, ja, daran, dass wir überhaupt am Leben sind und uns Gott all die Lebensjahre, die hinter uns liegen, geschenkt hat. Ja, wie sollte uns da nicht immer wieder die Liedzeile über die Lippen kommen: „In wieviel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet!“ – Und da kann jeder von uns ohne Ausnahme dann seine eigene Lebensgeschichte in dieser Liedzeile unterbringen.
Ja, danken sollen und dürfen wir Gott auch für unseren Verstand, wenn er uns denn mit solchem begabt hat. Und zu diesem Dank für unseren Verstand gehört dann eben auch, dass wir ihn in der rechten Weise einsetzen, dass wir Gott auch damit preisen, dass wir unsere Gesundheit, die er uns geschenkt hat, nicht fahrlässig ruinieren. Ja, wir dürfen auch einmal einen Burger bei McDonalds mit Danksagung und Tischgebet zu uns nehmen. Und dennoch würden wir unseren Verstand eben nicht in der rechten Weise einsetzen, wenn wir uns dauernd nur von Fast Food ernähren würden. Wir dürfen auch ein gutes Glas Wein mit Danksagung zu uns nehmen. Aber wenn wir wissen, dass wir gefährdet sind, uns durch den Genuss von Alkohol in Abhängigkeiten zu begeben, dann tun wir gut daran, auf dieses Stück der guten Schöpfung Gottes auch zu verzichten. Und dann gehört es mit zu dem Dank an Gott auch dazu, dass wir uns informieren über wirtschaftliche Zusammenhänge in dieser Welt, dass wir uns einsetzen für die Würde von Menschen, ohne dass wir nun meinen, wir könnten mit der Auswahl von den Lebensmitteln, die wir zu uns nehmen, die Welt retten.
Ja, wir wissen, die Schöpfung Gottes ist nicht so gut, wie sie ursprünglich einmal war. Sie ist gezeichnet von der Schuld und dem Versagen von Menschen. Doch das ändert nichts daran, dass wir nicht doch vor jedem Essen Grund zum Dank dafür haben, dass unser Schöpfer uns diese Gaben gegeben hat. Doch gerade weil wir darum wissen, dass auch wir uns auch mit einer noch so politisch korrekten Ernährung niemals von unserer Schuld befreien können, tun wir gut daran, uns immer wieder zu dem Essen und Trinken rufen zu lassen, das uns tatsächlich von Sünde und Schuld befreit und uns ewiges, unvergängliches Leben schenkt – zum Mahl der Danksagung, zum Mahl des heiligen Leibes und Blutes unseres Herrn. Was wir sonst auch zu uns nehmen mögen, und mag es noch so viele Öko-Siegel tragen: Wir essen und trinken uns damit doch nur unserem Tod entgegen. Doch diese heiligen Gaben des Leibes und Blutes Christi, mit denen essen und trinken wir tatsächlich unzerstörbares Leben, das selbst unser leiblicher Tod nicht vernichten kann. Wieviel mehr Grund haben wir dazu, diese Speise und diesen Trank nicht einfach nur mal schnell zu uns zu nehmen, sondern Gott zu loben und zu danken und zu singen, bevor wir diese Arznei des ewigen Lebens zu uns nehmen! Ja, Gott geb’s, dass dieser Dank dann auch ausstrahlt in unseren Alltag, dass wir keinen Tag verbringen, kein Essen zu uns nehmen ohne diesen Ruf: Gott sei Dank! Amen.