2. Chronik 5,2-5.12-14 | Kantate | Pfr. Dr. Martens

Mit dem heutigen Sonntag ruft die Kirche Jesu Christi öffentlich zu einer Straftat auf: „Kantate!“ – So heißt dieser Sonntag, und das heißt auf Deutsch: „Singet!“ Doch Singen ist in diesen Wochen in vielen Kirchen unseres Landes streng verboten, weil dadurch angeblich Aerosole in die Luft gesetzt werden, durch die sich Menschen mit dem Corona-Virus infizieren können. Nun hat zwar gerade die Münchener Bundeswehr-Universität das Corona-Infektionsrisiko beim gemeinsamen Singen anhand strömungsmechanischer Experimente untersucht und festgestellt, dass die Luft beim Singen selbst durch professionelle Sänger nur im Bereich eines halben Meters vor dem Mund in Bewegung versetzt wurde und eine Virusausbreitung über diese Distanz hinaus „äußerst unwahrscheinlich“ sei. Dennoch wird an diesem Singe-Sonntag Kantate in vielen Kirchen unseres Landes gerade nicht gesungen, weil einem die Angst vor dem Corona-Virus den Gesang im Halse stecken lässt.

Doch gerade in dieser geradezu irrealen Situation, in der wir uns im Augenblick befinden, stellt sich noch einmal in ganz neuer Weise die Frage danach, welche Bedeutung das Singen eigentlich für unseren christlichen Glauben hat: Ist es einfach nur eine verzichtbare Form der gottesdienstlichen Informationsvermittlung, die man auch, wie uns unsere Bundesregierung kürzlich gerade nahegelegt hat, auch auf andere Weise bewerkstelligen kann? Kann man Gottesdienste nicht ohnehin auf diese Weise ganz erheblich kürzen, weil das gesprochene Wort ja nun nicht so lange dauert wie das gesungene? Oder geht es beim Singen einfach nur um die Erzeugung eines schönen Gruppengefühls, das man eben aber auch auf andere Weise corona-konformer erzeugen kann? Oder sollte man Singen auch in Zukunft ganz grundsätzlich in der Kirche verbieten, weil es einfach nur eine gesundheitsgefährdende Verzierung des Gottesdienstes ist?

In der Predigtlesung des heutigen Sonntags wird uns die Weihe des Tempels in Jerusalem geschildert, der vom König Salomo erbaut worden war. Einen interessanten Einblick in den damaligen Gottesdienst erhalten wir hier: Zunächst einmal wird uns hier eine Prozession geschildert: Die Bundeslade, also der Kasten, in dem sich die Tafeln mit den Zehn Geboten befanden und der Ausdruck der Gegenwart Gottes inmitten seines Volkes war, wird in einer feierlichen Prozession an langen Stangen in den Tempel gebracht. Bisher war sie immer nur in einer provisorischen Unterkunft gelagert worden; doch jetzt erhält sie ihren Platz in dem großen Tempel im Allerheiligsten.  Und zu einer feierlichen Prozession gehört eben auch, dass jeder seinen festen Platz hat, dass man nicht einfach nur durcheinanderläuft, sondern auch in dem äußeren Vollzug etwas von der Schönheit zum Ausdruck kommt, die dem Einzug dieses besonderen Symbols der Gegenwart Gottes entspricht.

Jeder hat dabei seine besondere Aufgabe – und zu diesen besonderen Aufgaben zählt nun eben auch der Gesang. Zum Tempelpersonal gehörten nämlich auch die Leviten, und unter diesen Leviten gab es eine Gruppe, die ihren Dienst als Sänger versahen. Ja, nicht nur das Auge, sondern auch das Ohr sollte bei solch einem feierlichen Gottesdienst beteiligt sein: Wenn Gott selber Einzug hält in sein Haus, dann kann es im Gottesdienst nicht stumm bleiben, dann muss gesungen werden. Die Sänger, angetan mit feierlichen liturgischen Gewändern, stehen östlich vom Altar, und neben ihnen steht ein Posaunenchor von nicht weniger als 120 Trompeten spielenden Priestern. Das muss schon ganz großartig ausgesehen und erst recht geklungen haben.

Doch besonders erwähnt wird von dem Chronisten, dass der Posaunenchor so spielt, dass es wie von einer Stimme klang, und dass auch die Sänger so einmütig gesungen haben, dass es ebenso wie von einer Stimme klang. Wo im Gottesdienst Musik erklingt, da geht es niemals darum, dass sich irgendwelche einzelnen Personen besonders hervortun, da geht es nur noch darum, dass alle miteinander eins werden im Lob des lebendigen Gottes.

Ja, der Chronist schildert auch, dass diese Musik und dieser Gesang einen Inhalt hatten: Gesungen und musiziert wurde der Satz: „Er, der Herr, ist gütig, und seine Barmherzigkeit währt ewig.“ Die Musik, die im Tempel erklingt, hat ihren Grund darin, dass Gott gütig und barmherzig ist. Ein Gott, vor dem man sich fürchten müsste, ließe einen in seinem Singen und Musizieren verstummen. Nur da, wo Gott gelobt werden kann, weil er so gütig und barmherzig ist, ist Singen und Musizieren möglich.

Und während dieses Lobpreises Gottes geschieht nun Wunderbares: Die Herrlichkeit des Herrn, umschrieben als eine Wolke, erfüllt das Haus des Herrn und macht es den Priestern unmöglich, in das Haus des Herrn zu treten, das ganz von der Herrlichkeit Gottes erfüllt wird. Was für ein wunderbarer Gottesdienst, der da bei der Weihe des Tempels in Jerusalem gefeiert wurde!

Was können wir diesem Bericht von der Tempelweihe in Jerusalem für unsere Frage nach dem Singen entnehmen?

Zunächst einmal macht der Bericht deutlich, dass Singen und Musizieren zum Lob Gottes ganz selbstverständlich zum Gottesdienst schon im Alten Testament mit dazugehören. Für viele von uns ist das erst einmal so klar, dass sich manche wundern mögen, dass ich das überhaupt erwähne. Doch wir haben viele Glieder unserer Gemeinde, denen von Kindheit an beigebracht wurde, dass es „haram“ ist, dass es sündig ist, Musik zu machen. Wir haben Glieder unserer Gemeinde, die angegriffen und bestraft wurden, weil sie musiziert haben, weil sie Freude am Singen hatten. Und für viele Glieder unserer Gemeinde war das dann auch ein ganz wichtiger Zugang zum christlichen Glauben, dass sie gemerkt haben: Christen singen und musizieren im Gottesdienst. Bei denen muss tatsächlich etwas ganz anders sein als im Islam. Ja, es ist schon ein regelrechtes Erkennungszeichen des christlichen Glaubens, dass er ein singender und musizierender Glaube ist, denn dieses Singen und Musizieren verweisen darauf, dass es in unserem Gottesdienst ohnehin um etwas völlig anderes geht als im Gottesdienst des Islam:

Bei der Tempelweihe wird gesungen und musiziert, weil Gott selber Einzug hält bei seinem Volk, weil er uns Menschen ganz nahe kommt und in ihrer Mitte wohnt. Ja, genau darum geht es eben auch in unseren Gottesdiensten: Gerade nicht um die Vermittlung religiöser Inhalte oder Informationen, nicht um Anstöße zur eigenen Selbsterbauung, sondern um die Erfahrung der Gegenwart des lebendigen Gottes in unserer Mitte. Wenn der Mensch gewordene Gott Jesus Christus bei uns Einzug hält im Gottesdienst, wenn er zu uns kommt mit seinem Leib und Blut, dann können wir gar nicht anders, als zu singen und zu musizieren, weil wir dieses Wunder nicht einfach nur freundlich-distanziert interessiert zur Kenntnis nehmen können. Und da mögen Verwaltungsgerichte noch so oft erklären, dass die Feier des Heiligen Mahles im Gottesdienst nicht zum Kernbereich unseres christlichen Glaubens gehört – es bleibt doch dabei: Hier schlägt das Herz unseres Glaubens, wo wir den Einzug des Herrn der Welt bei uns feiern, ja, wenn dieser Einzug darin sein Ziel findet, dass Christus mit seinem Leib und Blut in uns selber, in unseren Leib, in unsere Seele zieht. Nein, da können wir uns das Singen einfach nicht verkneifen, weil wir doch wissen, dass jetzt der Himmel auf die Erde kommt, der Himmel, in dem in alle Ewigkeit gesungen und musiziert wird. Wenn alle Engel und Heiligen um uns herum singen, dann können wir nicht den Mund halten, dann muss Gott gelobt werden, zur Not auch hinter einem Mundschutz, aber doch so, dass das, was wir in unserem Herzen erfahren, dann auch unsere Stimmbänder in Bewegung setzt.

Ja, das Lied, das wir dabei anstimmen, ist auch heute dasselbe wie vor 3000 Jahren: Wir besingen in unseren Gottesdiensten nicht uns selber, nicht unsere eigene Seele, nicht unsere eigenen religiösen Gefühle. Sondern es geht in unseren Liedern, wenn sie denn biblisch begründet sind, immer wieder um Gott, darum, dass er gütig ist, dass seine Barmherzigkeit ewig währt. Es geht in unseren Liedern immer wieder um eben diese Gewissheit, dass Gott sich endgültig zu unseren Gunsten festgelegt hat und wir darum so sehr aufatmen können, dass unser Ausatmen dann ganz von selbst die Form des Gesangs annimmt.

In diesen Tagen halten Muslime den Ramadan, und gerade schiitische Muslime glauben, dass in einer der kommenden Nächte Allah wieder einmal für ein Jahr die Entscheidung darüber fällen wird, wer denn in diesem kommenden Jahr in die Hölle geschickt wird und wer nicht. Einen solchen Gott kann man nicht besingen, vor dem kann man sich letztlich nur stumm niederwerfen. Aber wenn ich einen Gott habe, der in seinem Wesen gütig, ja, die Liebe ist, wenn ich einen Gott habe, bei dem nicht unklar ist, wie er sich mir gegenüber verhält, sondern dessen Barmherzigkeit ewig währt, dann muss ich singen, weil dies eine so wunderbare, so großartige, so befreiende Lebensperspektive ist, die mir dieser Gott eröffnet.

Ja, ich spreche es aus, was heute so viele nicht aussprechen dürfen: „Kantate! Singt!“ Die Kirche Christi kann schlichtweg nicht aufhören zu singen, eben weil sie nicht bloß eine religiös angehauchte Schule ist und nicht bloß ein Club zur Erzeugung religiöser Gefühle. Wir singen, auch wenn es sich oft nicht annähernd so perfekt anhört wie der Gesang damals bei der Tempelweihe in Jerusalem. Darauf kommt es nicht an. Denn das Gotteslob, das wir in diesen Wochen immer wieder durch unseren Mund-Nasenschutz brummeln mögen, vereinigt sich mit dem Gesang der ganzen Kirche Gottes im Himmel und auf Erden. Es ist schon die Vorwegnahme einer Welt, in der Corona einmal endgültig besiegt sein wird, in der es keinen Tod, kein Leid, kein Geschrei, keinen Schmerz mehr geben wird. Und bis wir das einmal auch leiblich erfahren werden, werden wir es in unseren Gottesdiensten immer wieder singen: „az to amniyat daram dar keshmakeshe tufan“ – Bei dir bin ich geborgen auch in den Stürmen meines Lebens, auch in den Stürmen, die nun gerade in diesen Wochen um uns toben. Das kann man nicht einfach nur sprechen, das kann man tatsächlich nur singen. Darum singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder! Halleluja! Amen.

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