2. Korinther 4,16-18 | Jubilate | Pfr. Dr. Martens

Es ist drei Uhr morgens, als ich am Computer sitze, um die Predigt für den heutigen Sonntag zu schreiben. Hinter mir liegt ein Tag, an dem ich wieder einmal eine niederschmetternde Meldung nach der anderen erhalten habe, Meldungen über Ablehnungen von Asylanträgen von Gemeindegliedern, Meldungen über negative Gerichtsurteile, ein Tag mit Gesprächen mit Menschen, die einfach kaputt sind und nicht mehr weiterkönnen, ein Tag, der mich wieder vor eine ganze Reihe von neuen Aufgaben gestellt hat, die ich in dieser Nacht ganz sicher nicht mehr werde bewältigen können. Und nun soll ich also nachts um drei Uhr eine Predigt über die Predigtlesung schreiben: „Darum werden wir nicht müde!“ Doch, ich bin müde, und wie, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch, kaputt, verzagt, enttäuscht davon, dass alle Bemühungen um Glieder der Gemeinde letztlich völlig sinnlos zu sein scheinen.

Da gefällt mir der nächste Satz schon sehr viel besser: Unser äußerer Mensch verfällt. Das griechische Wort, das da steht, beschreibt die allmähliche Korrosion eines Bauwerks, den Rostfraß eines Eisenträgers, der am Ende so zerfressen ist, dass er kollabiert. Ja, unser äußerer Mensch verfällt – wohl wahr. Ich merke es deutlich, dass ich keine 30 mehr bin, merke es, wie mein Körper auf mein tägliches Arbeitspensum reagiert – und mehr noch auf die menschlichen Enttäuschungen, die ich erlebe. Ich merke es, wie nicht nur meine körperliche, sondern auch meine seelische Belastungsfähigkeit abnimmt, wie Verzagtheit an die Stelle von österlicher Freude oder Zuversicht zu treten scheint.

Schwestern und Brüder, was ich da gerade geschildert habe, ist ja nicht bloß meine persönliche Erfahrung. Sondern in diesen Worten des Apostels Paulus finden sich so viele von euch gewiss auch wieder: Da gibt es nicht wenige unter euch, die können aus eigener Erfahrung sehr viel zum Thema „Unser äußerer Mensch verfällt“ beitragen, die können erzählen von körperlichen Schmerzen und körperlicher Schwäche, die können davon erzählen, wie sie immer mehr anstrengt, was vor einigen Jahren für sie noch gar kein Problem gewesen war. Da gibt es nicht wenige unter euch, die können aus eigener Erfahrung davon erzählen, wie ihre Seele allmählich mürbe geworden ist wie ein korrodiertes Eisenrohr: Schon so viele Jahre auf der Flucht, so viele Jahre darum gekämpft, in einem anderen europäischen Land als christlicher Konvertit anerkannt zu werden, schließlich hierher nach Deutschland geflohen, im Kirchenasyl untergekommen – und nun gleich wieder von Deutschland abgelehnt mit der Androhung, in das muslimische Heimatland abgeschoben zu werden. Das macht kaputt, und wie! Ja, unser äußerer Mensch verfällt – und wenn ich mir die Facebook-Bilder von Gemeindegliedern anschaue, dann fällt das ins Auge, wie Menschen innerhalb von drei, vier Jahren äußerlich um 20 Jahre gealtert zu sein scheinen nach all dem, was sie hier in Europa und in unserem Land durchgemacht haben. Und da gibt es nicht wenige unter euch, die einfach nicht mit dem fertig werden, was sie in ihrem Leben an Schwerem erfahren haben, die oftmals gerade dann von einer tiefen Müdigkeit übermannt werden, wenn sie scheinbar ihre Kämpfe hier in Deutschland erst einmal gewonnen haben.

„Darum werden wir nicht müde“ – Nein, Paulus präsentiert sich hier nicht als der Superheld, dem es möglich ist, 24 Stunden am Tag ohne Schlaf durchzuarbeiten, der immer stark und immer gut drauf ist. Sondern Paulus spricht in dieser Formulierung davon, dass er nicht aufgibt, trotz all dessen, was er in seinem Leben schon erfahren hat: Verfolgungen und körperliche Misshandlungen, Krankheiten und jede Menge menschliche Enttäuschungen in seiner Arbeit, ja gerade auch in der Gemeinde in Korinth, an die er hier seinen Brief schreibt. Ja, der äußere Mensch verfiel auch bei Paulus sehr deutlich, vermutlich für jedermann sichtbar: Als amerikanischer Fernsehprediger wäre er jedenfalls denkbar ungeeignet gewesen.

Doch wie kommt Paulus nun dazu, zu erklären, dass er nicht müde wird, dass er also immer noch weitermacht und nicht aufgibt? Nein, Paulus predigt hier kein preußisches Pflichtbewusstsein, dass er nun mal seine Aufgaben zu erledigen hat, wenn sie ihm einmal aufgetragen worden sind. Paulus ist auch kein Schwärmer, der die Probleme, die er in seinem Leben hat, einfach ignoriert und stattdessen lieber mit erhobenen Händen durch die Gegend läuft und Halleluja ruft. Er argumentiert hier viel tiefgründiger – und was er als Gründe dafür angibt, nicht aufzugeben in seiner Arbeit, in diesem Sinne nicht müde zu werden, das ist auch für uns, die wir den Verfall des äußeren Menschen oftmals so deutlich wahrnehmen, immer noch hochaktuell.

Zunächst einmal spricht der Apostel davon, dass unser innerer Mensch von Tag zu Tag erneuert wird. Paulus spricht damit eine Realität an, die über das hinausgeht, was wir zunächst einmal mit unseren Augen wahrnehmen können. Nein, mit dem inneren Menschen ist nicht irgendein unsterblicher Teil in uns gemeint, nicht unser Geist im Unterschied zu unserem materiellen Körper. Sondern dieser innere Mensch, das sind wir selber mit Leib und Seele, seit dem Tag unserer heiligen Taufe. Da hat Gott eine neue Wirklichkeit in unserem Leben geschaffen – ach, was sage ich: Er hat nicht bloß eine neue Wirklichkeit in unserem Leben geschaffen, sondern er hat uns selber ganz neu geschaffen, als neue Menschen, als innere Menschen, wie Paulus es hier nun formuliert. Mein Abbau, den ich Tag für Tag an mir selber erlebe, meine Müdigkeit und Verzagtheit – das ist also nicht alles. Sondern ich bin zugleich schon neuer, innerer Mensch, ein Mensch, der schon von den Kräften aus Gottes neuer Welt lebt, der durch diese Kräfte aus Gottes neuer Welt Tag für Tag erneuert wird. Ich denke daran, dass ich an diesem Tag, an dem ich so viele ermüdende Erfahrungen gemacht hatte, auch drei Hauskommunionen bei älteren Gemeindegliedern gemacht habe. Ihrem äußeren Menschen geht es so schlecht, dass sie nicht mehr hierher in den Gottesdienst kommen können. Aber als ich mit ihnen das Sakrament feierte, konnte ich es sogar sichtbar miterleben, wie der innere Mensch erneuert wurde, wie diese Gemeindeglieder eine Freude ausstrahlten, die in deutlichem Kontrast zu ihrem körperlichen Befinden stand.

Ja, darum werden wir nicht müde, weil wir zugleich auch neuer, innerer Mensch sind, weil wir Kraftquellen aus Gottes neuer Welt haben, vor allem die Gabe des Leibes und Blutes Christi im Heiligen Mahl. Ja, da empfangen wir immer wieder neu das Gegenmittel gegen alle menschliche Müdigkeit und Verzagtheit, wenn der auferstandene Christus selber leibhaftig in uns Wohnung nimmt und er damit in uns bleibt und wir in ihm, wie wir es eben auch im Heiligen Evangelium vom Weinstock und den Reben gehört haben. Ja, da empfangen wir im Heiligen Mahl ganz leibhaftig und real das Heilmittel des ewigen Lebens, den Muntermacher, der uns sogar noch aus dem Grab wieder herausholen wird. Darum werden wir nicht müde.

Doch, um es noch einmal zu betonen: Paulus verdrängt nicht, dass es hier und jetzt in seinem Leben und in unserem Leben vieles gibt, was uns müde macht, was uns abnutzt und unseren äußeren Menschen auch mehr und mehr kaputt macht. „Trübsal“, so übersetzt Martin Luther das Wort hier, das Paulus an dieser Stelle für diese Erfahrungen gebraucht, die uns so sehr zusetzen und abnutzen. Die gibt es, und zwar reichlich, und wir haben den Eindruck, die wiegen so schwer, dass sie uns ganz und gar plattmachen und zu Boden drücken. Doch Paulus spricht hier davon, dass diese Trübsal „zeitlich und leicht ist“. Damit erinnert er daran, dass all die Leiden, die uns jetzt in unserem Leben zu schaffen machen, immer begrenzt sind, eben zeitlich begrenzt sind. Krankheiten dauern nicht ewig; sie mögen uns am Ende den Tod einbringen. Aber, so sagt Paulus, länger dauern sie eben auch nicht. Wir nehmen unsere Krankheiten nicht mit bis in die Ewigkeit. Bescheide des BAMF mögen für unser Leben hier und jetzt gewaltige Konsequenzen haben – doch sie sind zeitlich begrenzt. Kein Bundesamt kann euch den unbefristeten Aufenthalt in Gottes neuer Welt streitig machen, in der Welt, in der es einmal keine bloßen Duldungen und erst recht keine Abschiebungen mehr geben wird. Und diese neue Welt Gottes, die hat eben ein viel größeres Gewicht, eine viel größere Bedeutung als alle Bedrohungen und Anfeindungen, denen ihr jetzt ausgesetzt sein mögt. Diese neue Welt Gottes hat ein viel größeres Gewicht als alle Probleme, die ihr mit eurem Körper haben mögt.

Doch Paulus geht sogar noch weiter: Er sagt: Diese Trübsal schafft, bewirkt eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit. Was wir jetzt an Schwerem in unserem Leben erfahren, widerspricht gerade nicht der Hoffnung, die wir als Christen haben dürfen, sondern sie sind genau der Weg, auf dem Gott uns zu der Herrlichkeit seiner neuen Welt führt.

Deine kaputte Hüfte schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit. Dein Ablehnungsbescheid durch das Bundesamt schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit. Deine Enttäuschung über das Verhalten anderer Gemeindeglieder schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit. Deine Arbeit, die dich an die Grenzen deiner Kräfte und darüber hinaus bringt, schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit. Ja, buchstabiere das in deinem Leben immer wieder durch! Paulus möchte, dass du gerade so dein Leben mit all den ermüdenden Erfahrungen noch einmal mit anderen Augen zu sehen beginnst.

Mit anderen Augen sehen, das heißt eben, so sagt es der Apostel hier zum Abschluss unserer Predigtlesung: nicht auf das Sichtbare sehen, sondern auf das Unsichtbare. Das ist die Schule des Sehens, die uns Paulus hier lehrt. Das, was uns zunächst einmal ins Auge springt, ist nicht das, was am Ende zählt. Es zählt in deinem Leben nicht der Erfolg, nicht die Zahl der Stunden, in denen du dich gut gefühlt hast, es zählt erst recht nicht das Geld, das du in deinem Leben verdient hast. Wichtig ist und bleibt einzig und allein, dass du mit Christus verbunden warst und verbunden geblieben bist, wichtig ist und bleibt einzig und allein, dass dein Leben stets ausgerichtet war auf das eine große Ziel, das wir jetzt noch nicht sehen können und dem wir doch Tag für Tag entgegengehen.

Das lässt uns nicht aufgeben, auch wenn uns mitunter danach zumute sein mag. Das lässt uns am Ende eben doch nicht müde werden, auch wenn wir äußerlich betrachtet noch so kaputt zu sein scheinen. Wir leben aus einer Realität und einer Realität entgegen, die stärker und größer ist als alles, was wir mit unseren Augen hier und jetzt schon erfassen können.

Schwestern und Brüder: Wenn ich heute Nacht noch den Pfarrbrief fertiggestellt habe, werde ich danach mal wieder einige Tage lang nichts anderes tun als auszuschlafen. Der äußere Mensch, der allmählich korrodiert, soll nach Möglichkeit noch ein paar Jahre bis zum Kollaps aufrechterhalten werden. Doch der innere Mensch braucht keinen Urlaub, der braucht nur Christus, sein Wort, seinen Leib und Blut. Lasst euch darum alle miteinander von Christus immer wieder erneuern, indem ihr euch mit ihm verbinden lasst durch sein Wort, durch sein Heiliges Mahl. Dann braucht ihr nicht aufzugeben und zu resignieren. Es geht der Herrlichkeit entgegen! Amen.

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