2. Korinther 5,14-21 | Karfreitag | Pfr. Dr. Martens

 

Heute hast du Zeit. Selbst wenn es an diesem Tag keine Corona-Kontaktsperre gäbe: Am heutigen Tag käme auch sonst das öffentliche Leben fast zum Erliegen. Denn heute, am Karfreitag, am Tag der Kreuzigung des Herrn, kehrt ohnehin Ruhe ein in unserem Land, Ruhe angesichts dieses unfasslichen Geschehens, dass er, der Herr der Welt, für uns am Kreuz stirbt.

Heute hast du Zeit. Du kannst zwar heute nicht in die Kirche gehen, kannst sie nicht sehen, die schwarzen Paramente an der Kanzel und am nackten Altar, die schwarzen Gewänder des Pastors, kannst es nicht miterleben, wie die Gemeinde die ergreifenden Karfreitagsgesänge ohne Begleitung der Orgel singt. Aber dafür kannst du dir in aller Ruhe das Bild anschauen, das dieser Predigt beigefügt ist. Es zeigt den sogenannten Isenheimer Altar, vor mehr als 500 Jahren geschaffen von Mathis Gothart Nithart, genannt Grünewald. In einem Antoniter-Kloster stand dieser Altar, und dieses Bild hatten die Kranken vor Augen, wenn sie dort im Kloster gepflegt wurden, weil sie an einer der gefürchtetsten Seuchen der damaligen Zeit erkrankt waren, dem Ergotismus, hervorgerufen durch verunreinigte Getreidekörner.

Der gekreuzigte Christus in Großformat – mit 269 x 307 Zentimetern das größte Kreuzigungsbild, das bis dahin in der europäischen Malerei geschaffen worden war. Ja, blicke auf ihn, den gekreuzigten Christus, wie damals die Menschen im Angesicht der Seuche auf ihn geschaut haben! Präge ihn dir in aller Ruhe ein! Folge dem ausgestreckten Zeigefinger Johannes des Täufers, der deine ganze Aufmerksamkeit auf ihn, den Gekreuzigten, richten will. Und dann höre, was der Apostel Paulus über diesen gekreuzigten Christus schreibt:

Denn die Liebe Christi drängt uns, da wir erkannt haben, dass einer für alle gestorben ist und so alle gestorben sind. Und er ist darum für alle gestorben, damit, die da leben, hinfort nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben ist und auferweckt wurde. Darum kennen wir von nun an niemanden mehr nach dem Fleisch; und auch wenn wir Christus gekannt haben nach dem Fleisch, so kennen wir ihn doch jetzt so nicht mehr. Darum: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. Aber das alles ist von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt. Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.

I.

Schau sie dir an, diese Elendsgestalt, und dann höre sie noch einmal, diese Worte des Apostels: „Gott war in Christus“.

Wo ist Gott? So fragen sich Menschen gerade in diesen Tagen und Wochen immer wieder. Wo ist Gott angesichts des Elends dieser Welt? Wo ist Gott angesichts des Leides, das ich in meinem Leben erfahre? Wo ist Gott, wenn ich vor Angst fast erstarre? Und Paulus sagt: Da ist Gott! Gott war in Christus. Gott konnte man sehen und finden in dieser Elendsgestalt am Kreuz mit ihren verkrampften Händen, mit ihren blauen Lippen, kurz vor dem elenden Erstickungstod. Nein, Gott ist nicht irgendwo weit weg oben. Er ist ganz unten, ganz bei dir. Der Gekreuzigte hängt nicht irgendwo meterweit hoch in der Luft, sondern er ist ganz nahe bei den Menschen, ganz unten bei ihnen.

Gott war in Christus – der Gott, an den wir glauben, ist nicht ein Gott, der allem menschlichen Leid enthoben ist, sondern der dieses Leid im wahrsten Sinne des Wortes am eigenen Leibe erfährt. Zu diesem Gott in Christus kann ich schreien in meiner Not, in meiner Verzweiflung. Er ist mir nicht fern, ist mir nicht fremd, im Gegenteil: Er ist ein vollkommen heruntergekommener Gott.

Warum hängt dieser heruntergekommene Gott da am Kreuz? Der Apostel Paulus gibt hier eine geradezu atemberaubende Antwort: „Er versöhnte die Welt mit ihm selber.“ Versöhnung findet statt zwischen zwei Parteien, die zuvor verfeindet waren. An die Stelle von Feindschaft tritt Frieden und Gemeinschaft. Ja, Feindschaft herrschte zwischen Gott und der Welt – nicht weil Gott sich von der Welt abgewandt hätte, sondern weil die Welt sich von Gott abgewandt hatte, mit ihm nichts zu tun haben wollte. Doch diesen Zustand der Feindschaft zwischen Gott und der Welt konnte Gott nicht ertragen – und darum wird er Mensch, lässt sich ans Kreuz hängen, um gerade so Frieden zwischen sich und den Menschen, ja, allen Menschen, der ganzen Welt zu schaffen.

Ja, höre es noch einmal genau, was hier steht: Gott versöhnte die Welt mit ihm selber. Das heißt: Nicht wir Menschen sollen, müssen, können einen zornigen Gott dadurch versöhnen, dass wir uns anständig benehmen, dass wir irgendwelche Opfer darbringen oder etwas anderes anstellen, um Gottes Laune zu ändern. Und Paulus sagt hier auch nicht, dass Christus mit seinem Opfer am Kreuz Gott versöhnt hätte. Sondern er sagt: Alles, was da am Kreuz geschieht, geht ganz und gar von Gott selber aus: Er gibt sich in seiner Liebe selber in den Tod, erbringt den allertiefsten Liebesbeweis überhaupt, um gerade so unsere Herzen zu gewinnen, um uns gerade so mit ihm zu versöhnen. Gott versöhnt uns mit ihm – das ist das Geheimnis des Karfreitag, dass Gott uns Menschen, die wir von ihm nichts wissen wollten, mit seiner Liebe überwindet und uns so in die Gemeinschaft mit sich zurückführt.

Und wie kommt diese Versöhnung nun bei uns an? So, dass die, die Boten an Christi statt sind, bitten, jawohl bitten: Lasst euch versöhnen mit Gott! Gott zwingt seine Versöhnung den Menschen nicht mit Gewalt auf, er kommt nicht mit dem Schwert; und er zwingt uns seine Versöhnung auch nicht dadurch auf, dass er uns so starke Argumente präsentiert, dass wir gar nicht mehr anders können, als ihnen zu folgen. Gott überwältigt uns nicht, sondern er begibt sich in die Position der Schwäche, in die Position eines Bittstellers. Doch gerade so gewinnt er unser Herz, gerade so wirkt er bei uns den Glauben: Er lässt sich für uns ans Kreuz hängen und sagt zu uns, die wir so wenig von ihm wissen wollten: Bitte, bitte lass dich mit mir versöhnen! Ja, diese Bitte hat mehr Kraft als alle staatlichen Zwangsmaßnahmen, hat mehr Kraft als alle psychologischen Tricks. Diese Bitte verändert uns, verändert unser Leben. Schau also noch einmal auf das Bild des Gekreuzigten! Höre, wie er es auch zu dir sagt: „Bitte, lass dich mit mir versöhnen!“ Ja, so kommt er zu dir, dein Gott!


II.

Und dann schau ihn dir noch einmal an, diesen gekreuzigten Christus, diese Elendsgestalt, gezeichnet von einer Seuche. Paulus erklärt dir, warum er so aussieht: „Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht.“

Wenn du also auf ihn, den Gekreuzigten, schaust, dann siehst du da die Sünde in ihrer ganzen ekelhaften Gestalt. Der Teufel versucht uns ja immer wieder einzureden, dass Sünde doch eigentlich etwas Schönes, Nachvollziehbares, ja sogar Befreiendes ist. Doch hier am Kreuz siehst du, was die Sünde in Wahrheit ist: Eine ekelhafte Seuche, die Menschen zerstört, sie in den Tod befördert, den ewigen Tod. „Er hatte keine Gestalt noch Hoheit“, so schreibt es Jesaja – ja, wie sollte er auch schön aussehen, da er doch unsere Krankheit getragen, unsere Schmerzen auf sich geladen hat!

Aber dann schau noch einmal hin: Die Sünde, die diesen Christus da am Kreuz so furchtbar entstellt, ist tatsächlich deine Sünde. All das Ekelhafte in deinem Leben, all das, was dich für immer von Gott trennen müsste – es liegt nicht mehr bei dir, auf deinen Schultern, sondern auf dem Leib deines Herrn am Kreuz. Christus tauscht mit dir: Er bekommt deine Sünde, deine Verdammnis – und du bekommst stattdessen seine Gerechtigkeit, seine Gemeinschaft mit Gott. Was für ein unglaubliches Wunder! Das kann man nicht einfach nur mal schnell zur Kenntnis nehmen. Dem kann man immer wieder nur nachsinnen, ganz in Ruhe: Meine Sünde, all das, was mich belastet hat – ich finde es nicht mehr bei mir. Er, Christus hat es schon längst für mich getragen!


III.

Und dann schau noch einmal auf ihn, den Gekreuzigten. Schau genau hin – und du entdeckst in ihm: dich selber! Du bist bei diesem Bild nicht nur der Betrachter, sondern Christus zieht dich sozusagen in sein Bild mit hinein, ja er hat es schon längst getan am Tage deiner Taufe. Da bist du mit Christus eins geworden, ja seitdem lebst du in Christus, teilst sein Geschick bis in die letzte Konsequenz.

Gewiss: Zu diesem Geschick gehört auch, dass der Weg deines Lebens immer wieder auch ein Leidensweg ist, dass er dich durch Leiden zum Ziel führt. Aber zugleich darfst du auch schon wissen: Seit meiner Taufe bin ich schon gestorben. Ich habe den Tod schon hinter mir. Mit den Worten des Apostels: „Wir haben erkannt, dass einer für alle gestorben ist und so alle gestorben sind.“ Wer getauft ist, der ist schon gestorben, der braucht den Tod nicht mehr zu fürchten, weil der Tod in seiner grausamen Gestalt, als Trennung von Gott, schon längst hinter ihm liegt, weil nun auf ihn nur noch das Leben wartet.

Ach, was sage ich: Das Leben wartet doch nicht bloß auf uns. Es ist schon da: „Ist jemand getauft, ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ Du hast schon hier und jetzt Anteil an dem neuen Auferstehungsleben deines Herrn, auch wenn dir danach in den gegenwärtigen Corona-Zeiten gar nicht zumute sein mag. Nein, auch Corona kann nichts daran ändern: Du bist hier und jetzt schon, mit all deinen Problemen und Sorgen und Ängsten, dennoch eine neue Kreatur, ein neuer Mensch, für den auch der Tod nichts anderes mehr ist als der Durchgang zum ewigen Leben.

Ja, schau noch einmal auf das Bild von ihm, deinem gekreuzigten Herrn! Es zeigt dir alles, was deine Rettung, dein ewiges Leben ausmacht: Es zeigt dir deinen Herrn und Gott, der dich mit ihm versöhnt. Es zeigt dir deine Sünde, die nicht mehr auf dir, sondern auf ihm liegt, ja es zeigt dir den Weg, der vor dir liegt, den Weg, dessen Ziel man auf der Rückseite dieses Altarbildes betrachten kann: die Auferstehung – ein Bild von solcher Wucht und Schönheit, dass man sich ihm gar nicht entziehen kann. Doch noch ist Karfreitag, noch kann man diese Rückseite nicht sehen. Und Karfreitag bleibt es bei uns auch noch länger im Leben. Wir müssen noch auf die Rückseite unseres Lebens warten. Aber sie ist schon da – so gewiss du getauft bist, so gewiss auch du gestorben bist mit ihm, Christus, deinem Herrn. Amen.

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