2. Mose (Exodus) 12,1-14 | Gründonnerstag | Pfr. Dr. Martens
Da hatten sich die Israeliten in ihren Häusern um einen Tisch versammelt, auf dem ein gebratenes Lamm lag. In den Tagen zuvor hatten sie befolgt, was Mose ihnen aufgetragen hatte, hatten aus ihren Herden Lämmer ausgewählt, hatten die Lämmer schließlich geschlachtet und am Feuer gebraten. Dazu gab es ungesäuertes Brot und bittere Kräuter. Doch es war nicht ein Abendessen wie sonst auch, zu dem die Israeliten zusammengekommen waren. Denn das Blut der Lämmer hatten sie zuvor an die Türrahmen ihrer Häuser gestrichen – zum Schutz derer, die sich in den Häusern versammelt hatten. Denn in eben derselben Nacht vollzog Gott selbst die zehnte, die schwerste und schlimmste Plage an den Ägyptern, ließ überall dort den ältesten Sohn in den Häusern sterben, an denen nicht das Blut der Lämmer an die Türrahmen gestrichen war. Das Mahl in den Häusern – es war eine todernste Angelegenheit.
Und zugleich war die Kleiderordnung bei diesem abendlichen Mahl mehr als ungewöhnlich: Straßenschuhe an den Füßen – das ist auch heute bei den Mahlzeiten unserer persischen und afghanischen Gemeindeglieder eigentlich ein Unding. Dazu auch noch das lange Gewand bereits nach oben gezogen und mit einem Gürtel festgemacht, damit man schneller laufen konnte und einem das lange Gewand beim Laufen nicht zwischen die Beine geriet – und dazu auch noch der Wanderstab in der Hand. Ein Essen im Aufbruch. Schnell soll es gehen – leckerer Lammbraten als Fastfood. Was für ein ungewöhnlicher Abend! Doch der Anlass für die Eile ist ja ein höchst erfreulicher: Noch in derselben Nacht soll es rausgehen, raus aus der Sklaverei in die Freiheit. Ja, da ist es verständlich, dass die Israeliten beim Essen zugleich schon wie in den Startlöchern sitzen: Das Essen, es soll doch zugleich eine letzte Stärkung sein für den langen Weg ins Gelobte Land, der nun vor ihnen liegt. Was für ein einmaliger Abend! Was für ein Wendepunkt in der gesamten Geschichte Israels!
Dreieinhalbtausend Jahre später geht es uns an diesem Frühlingsabend in vielem ganz ähnlich wie den Israeliten damals in Ägypten: Auch wir sitzen in unseren Häusern, während draußen ein Todesengel seine Bahnen zieht, ein Todesengel namens Corona. Allerdings haben wir uns nicht wie damals die Israeliten mit unseren Nachbarn zusammengetan, denn das ist nach der Kontaktsperreverordnung streng verboten. Allein sitzen wir da und warten, was draußen wohl passieren wird, wen es wohl treffen wird. Ein Abend reicht da allerdings nicht aus; bei uns dauert der Einschluss in den Wohnungen schon sehr viel länger. Auch versuchen wir nicht, uns mit dem Blut von Lämmern an unseren Türrahmen vor dem Corona-Todesengel zu schützen. An die Stelle des Blutes sind Desinfektionsmittel und Mundschutztücher getreten. Aber bereit zum Abmarsch in die Freiheit, zum Auszug aus den Wänden, in denen wir jetzt uns ständig befinden, sind wir allemal, stehen innerlich auch schon mit dem Wanderstab in der Hand da und warten darauf, endlich losziehen zu können – doch losziehen wohin eigentlich?
Wenn wir heute Abend die Erzählung von dem Ursprung des jüdischen Passahfestes gehört haben und bedenken, dann geht es natürlich nicht bloß darum, dass diese Erzählung uns hilft, unsere eigene Situation in der Corona-Isolation noch einmal unter einem anderen Gesichtspunkt zu betrachten. Sondern dieser Abend, an dem wir diese Worte hören, ist eben nicht irgendein Abend, sondern einer der wichtigsten Abende des Jahres für uns Christen überhaupt. Gründonnerstag feiern wir heute – und da treten vor unser inneres Auge die ganz besonderen Elemente, die diesen Gottesdienst bei uns in unserer Dreieinigkeitskirche jedes Jahr von neuem zu einem einmaligen Gottesdienst gemacht haben: Die besonderen Paramente am Altar, die dort jedes Jahr nur am Gründonnerstag hängen, das festliche Weiß mitten in der Passionszeit, das „Ehre sei Gott in der Höhe“, das wir seit vielen Wochen nicht mehr gesungen haben, die Litanei vom Heiligen Altarsakrament, das festliche Hochgebet bei der Sakramentsfeier – und schließlich der Schluss des Gottesdienstes, wenn der Altar beim letzten Lied leergeräumt wird, die Kerzen gelöscht werden, die Orgel verstummt und die Gottesdienstteilnehmer schließlich ganz still aus der dunklen Kirche hinausgehen – in die Nacht des Verrats.
Ja, an diesem Gründonnerstagabend hat Jesus selber das Passahmahl mit seinen Jüngern gefeiert, hat genau befolgt, was hier im 2. Mosebuch geschrieben steht: Gemeinsam mit seinen Jüngern hat er an einem Tisch Platz genommen, auf dem das ungesäuerte Brot und die Schüssel mit den Bitterkräutern standen, dazu die Becher mit Wein. Gemeinsam mit den Jüngern hat er die Geschichte von der Befreiung aus Ägypten gehört, hat mit ihnen gefeiert, dass sie freie Menschen sind, hat mit den Jüngern das Passahlamm gegessen und die Gebete über dem Wein gesprochen.
Doch mit einem Mal unterbricht Jesus die feierliche Liturgie dieses Passahabends, kündigt den Jüngern seine baldige Verhaftung und seine Hinrichtung an, dazu auch seinen Verrat. Und dann stiftet er mit den Elementen des Passahmahls eine ganz neue Liturgie, nimmt das ungesäuerte Brot, spricht das Dankgebet, bricht es und reicht es seinen Jüngern mit den Worten: Nehmt, esst, das ist mein Leib, der für euch gegeben wird. Das tut, damit das, was jetzt geschieht, immer wieder neu Gegenwart wird. Und dann nahm Jesus nur seinen Becher, obwohl doch eigentlich jeder Jünger auch seinen eigenen Becher hatte, sprach das Dankgebet und reichte ihn den Jüngern mit den Worten: Nehmt, trinkt alle aus diesem einen Becher: Das ist mein Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Das tut, damit das, was jetzt geschieht, immer wieder neu Gegenwart wird. Die Jünger können in diesem Augenblick die Tragweite dessen, was Jesus da gerade sagt und tut, wohl nur erahnen. Aber sie erahnen etwas davon, dass es bei diesem neuen Passah jetzt um ein ganz anderes Passahlamm geht, um ihn, Jesus, selber, und sie erahnen, dass hier nun eine viel weiterreichende Verschonung und Befreiung vollzogen wird: Die Befreiung von der Knechtschaft unserer Schuld, die Befreiung von der Knechtschaft des Todes.
Eine dringend nötige Horizonterweiterung erfahren wir damit an diesem Gründonnerstagabend, den wir nun so ganz anders verbringen als all die Gründonnerstagabende der vergangenen Jahre. Der Todesengel Corona ist nicht unsere Hauptbedrohung. Eine viel größere Gefahr lauert da draußen vor unserer Tür: Uns droht nicht weniger als die ewige Trennung von Gott, die Nacht des ewigen Todes. Und vor der können wir uns auch mit noch so gut gemeinten Isolierungsmaßnahmen nicht schützen, da hilft kein Mundschutz und kein Desinfektionsmittel, da helfen auch keinerlei Abwehrmaßnahmen in Form von guten Werken oder anderen Versuchen, Gott zu besänftigen. Da hilft nur eins: Das Blut des einen Lammes Gottes, das die Sünden der ganzen Welt auf sich nimmt, damit wir nicht länger von Gott getrennt bleiben, damit unser Leben nicht in der Nacht des ewigen Todes endet. Ja, wir denken an diesem Abend daran, dass auch wir verschont worden sind, als Jesus sich an jenem Passahabend auf den Weg machte, um seinen Leib am Kreuz in den Tod zu geben, um sein Blut zu vergießen zur Vergebung aller unserer Sünden. Ja, wir denken an diesem Abend in diesem Jahr daran, dass seit jenem Abend der Todesengel Corona seinen Schrecken für uns verloren hat, weil auch er uns nicht mehr von Gott zu trennen vermag, weil er nicht verhindern kann, dass Gott uns um des Blutes Christi willen verschont und uns ein Leben in der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes schenkt.
Ja, auch wir stehen heute Abend in den Startlöchern, warten darauf, dass wir endlich wieder losmarschieren können. Doch wohin eigentlich? Was ist das Ziel, das wir unbedingt erreichen wollen, wenn die Zeit der Kontaktsperre endet? Einfach wieder mit der Familie, mit Freunden zusammen sein, endlich wieder Party machen können, verreisen können? Oder ist unser erstes und oberstes Ziel, auf das wir gerade an diesem besonderen Gründonnerstagabend hinfiebern, endlich wieder teilhaben zu können an dem Sakrament des Leibes und Blutes Christi, das er in dieser Nacht eingesetzt hat? Stehen wir schon an den Lenden gegürtet bereit, um dem Ruf unseres Herrn wieder neu zu folgen: „Kommt, denn es ist alles bereit?“ Und was ist das Gelobte Land, dem wir entgegenziehen wollen? Ein Leben wieder ohne Mundschutz und Einschränkungen, ein Leben, in dem wir einfach wieder die Entbehrungen dieser Wochen vergessen können? Oder ist uns klar, dass auch der heutige Abend wie alle weiteren Abende der kommenden Zeit uns einem ganz anderen Ziel näherbringen: Dem Ziel des großen Festmahls im Reich Gottes, das einmal kein Ende mehr haben wird? Wissen wir noch darum, dass jede Teilhabe am Heiligen Mahl, die uns, Gott geb’s, in der Zukunft wieder möglich sein wird, eine Wegzehrung ist auf dem Weg hin zum ewigen Leben, eine Wegzehrung, die uns immer wieder neu daran erinnert, dass wir als Christen stets mit dem Wanderstab in der Hand unterwegs sind, Migranten auf dem Weg in die ewige Heimat?
Ja, schmerzlich ist es für uns, den heutigen Gründonnerstag nicht am Altar unserer Kirche feiern zu können. Und doch mag uns gerade dieser Gründonnerstagabend zu einem besonderen Segen werden, wenn er unseren Blick wieder neu lenkt auf die eigentliche Befreiung, die wir durch Christus erfahren haben: Die Befreiung von Sünde und Tod, und wenn er unseren Blick wieder neu lenkt auf das Ziel, dem wir entgegeneilen: dem Fest der ewigen Freiheit vor dem Thron des Lammes – dort, wo es einmal endgültig kein Corona-Virus mehr geben wird! Amen.