2. Mose (Exodus) 14,8-14.19-23.28-30a; 15,20-21 | Heiliges Osterfest | Pfr. Dr. Martens

In den vergangenen Jahren habe ich in unserer Gemeinde sehr viele Fluchtgeschichten gehört: Dramatische Geschichten, wie Menschen denen, die sie an ihrer Flucht hindern wollten, oftmals im letzten Augenblick und auf wunderbare Weise entkommen konnten. Geschichten habe ich gehört von Menschen, die auf der Flucht vor dem iranischen Geheimdienst sich durch die Berge an der türkisch-iranischen Grenze durchgeschlagen haben, viele Stunden im Laufschritt immer weiter Richtung Freiheit marschierten. Geschichten habe ich gehört von Menschen, die in einem kleinen Boot auf dem Meer saßen und Angst hatten, dass sie jeden Augenblick untergehen könnten. Geschichten habe ich gehört von Menschen, denen es gelungen war, den Folterlagern in Bulgarien zu entkommen und die dann oft über viele Tage hinweg durch Wälder geirrt sind – immer in der Angst, dass die Polizei sie schließlich doch noch finden und in diese Lager zurückbringen könnte. Und immer wieder hört man in diesen Geschichten dann schließlich die große Erleichterung: Ich habe es geschafft, ich konnte all denen, die mich bedrohen, mich in den Tod zurückschicken wollten, entkommen.

Eine dramatische Fluchtgeschichte wird uns auch in der heutigen Predigtlesung des Heiligen Osterfestes geschildert: Da ist es den israelitischen Sklaven endlich gelungen, aus ihrer Knechtschaft in Ägypten zu fliehen. Fast wie im Traum gehen sie die ersten Schritte in die Freiheit, immer geleitet von der Wolken- und Feuersäule, dem Zeichen der Gegenwart Gottes in ihrer Mitte. Doch die Freude über die Freiheit währt nicht lange: Denn bald schon sehen die Israeliten, dass die Ägypter sie nicht einfach in Frieden ziehen lassen, sondern sie wieder einzuholen versuchen. Und da schlägt die Freude bei den Israeliten darüber, ihren Unterdrückern entkommen zu sein, sehr schnell um: Sie beschweren sich bei Mose, dass er diese verrückte Idee hatte, sie aus Ägypten zu führen. Wären wir doch nur in Ägypten geblieben!

Doch nun war es für solches Gemoser eigentlich längst zu spät. Denn die Israeliten steckten in der Falle: Hinter sich die Ägypter, vor ihnen das Meer – alle Fluchtmöglichkeiten schienen ihnen völlig abgeschnitten. Doch Mose selber bleibt in dieser Situation ganz cool. Er weiß schon darum, dass Gott sein Volk jetzt nicht im Stich lassen wird, dass er eingreifen wird – viel wunderbarer noch, als es sich die Israeliten selber jemals hätten vorstellen können: „Der HERR wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein!“

Und dann erleben die Israeliten, wie Gott selber eingreift, um die israelitischen Flüchtlinge zu schützen und zu retten: Mit der Wolkensäule stellt er sich zwischen die Israeliten und ihre Verfolger, sodass diese die Israeliten nicht einholen können. Und als dann Mose auf Geheiß Gottes seine Hand über das Meer streckt, das die Israeliten scheinbar in der Falle stecken ließ, geschieht das Unfassliche: Das Meer teilt sich; die Israeliten können trockenen Fußes durch das Meer gehen, der Freiheit entgegen. Doch noch sind die Israeliten nicht gerettet: Auch die ägyptische Armee nutzt die besondere Möglichkeit, die Gott den Israeliten hier auf ihrer Flucht eröffnet hat, und jagt den Geflüchteten auf ihrem Weg durch das Meer nach. Sehr weit kommt die Armee allerdings nicht. Erst bleibt sie mit ihren Streitwagen im sumpfigen Untergrund, der früher einmal Meeresboden gewesen war, hängen, und dann müssen sich auch noch erleben, wie Gott selbst den Mose dazu auffordert, nun noch einmal seine Hand über das Meer zu halten. Das Wasser geht zurück, und die Israeliten, die bereits bis ans andere Ende dieses Meeres gelangt sind, erleben mit, wie ihre Verfolger im Meer untergehen, wie sie ab jetzt tatsächlich freie Menschen sind.

Eine Fluchtgeschichte ist das, die sich Israeliten bis zum heutigen Tag erzählen, wenn sie bald nach dem Vollmond nach Frühlingsauftrag ihr Passahfest feiern. Sie feiern es auch mehr als 3000 Jahre später immer noch als diejenigen, die selber diese Befreiung erlebt haben, die erlebt haben, wie Gott sich ausgerechnet derer annimmt, die die Kleinsten und Schwächsten und Verwundbarsten sind. Als Jesus sich mit seinen Jüngern damals in Jerusalem traf, um mit ihnen das Passafest zu feiern, da hörten sie gemeinsam auch diese Geschichte, die wir eben vernommen haben: Die Geschichte, die sie daran erinnerte, dass Gott sein Volk und damit auch sie selber aus der Sklaverei in die Freiheit geführt hat, dass Gott allein ihnen Zukunft und Hoffnung geschenkt hat.

Auch wir haben diese Geschichte von der Flucht aus Ägypten gerade gestern Abend in der Heiligen Osternacht hier bei uns in der Kirche vernommen, haben sie damit auch als unsere eigene Geschichte gehört und wahrgenommen. Ja, auch wir sollen uns als Geflüchtete wahrnehmen, die im letzten Augenblick durch Gottes Eingreifen ihren Verfolgern entkommen sind und jetzt nur noch die Freiheit vor Augen haben.

In der Osternacht gestern Abend war dann noch einmal von der Rettung des Volkes Gottes in den Wassern des Roten Meeres die Rede: In dem Gebet, das der Taufe unserer Täuflinge unmittelbar voranging. Und damit wird uns nun schon der Weg gewiesen, wie auch wir diese Geschichte von der Flucht der Israeliten aus Ägypten als unsere eigene Geschichte wahrnehmen können:

Getauft worden sind in der Osternacht vier Glaubensgeschwister aus dem Iran und Afghanistan. Sie alle haben es im wahrsten Sinne des Wortes am eigenen Leib erfahren, wie Christus sie persönlich in ihrer Taufe gerettet hat, wie er sie gepackt hat und sie seinen eigenen Weg geführt hat: seinen Weg, der in den Tod und dann wieder aus dem Tod in ein neues Leben führt, seinen Weg, der unsere Täuflinge und uns alle miteinander staunend erfahren lässt, wie Gott uns vor unseren Feinden und Verfolgern bewahrt und gerettet hat.

Haben wir denn als Christen überhaupt noch Feinde; hat uns nicht Christus selber im Gegenteil dazu aufgefordert, unsere Feinde zu lieben, statt uns ihnen zu entziehen? Ja, wir haben auch und gerade als Christen Feinde, denen wir zu entkommen suchen: Sie sind nicht aus Fleisch und Blut, sind aber gerade darum noch viel gefährlicher für uns, weil wir sie eben nicht so einfach erkennen können, wie die Israeliten damals mit eigenen Augen das Heranrücken ihrer Sklaventreiber wahrnehmen konnten. Ja, vor diesen Feinden müssen wir gerettet werden, weil wir allein uns überhaupt nicht gegen sie wehren können, weil sie so übermächtig sind, dass wir von uns aus keine Chance ihnen gegenüber haben.

Der Tod ist solch ein Feind, der hinter uns her ist, der uns am liebsten für immer in seiner Gewalt behalten möchte. Seine Staubwolken, die er hervorbringt, wenn er uns nachjagt, die können wir gerade jetzt in dieser Corona-Pandemiezeit besonders deutlich erkennen: Alles tut dieser Feind, damit wir Angst bekommen, damit wir resignieren, damit wir Christus nichts mehr zutrauen in der Lage, in der wir uns befinden.

Doch unsere heutige Predigtlesung öffnet uns die Augen: Wir stehen doch schon am anderen Ufer, seit Christus auch uns in der Taufe durch das Wasser hindurch in die Freiheit geführt hat. Der Tod, er hat seinen Schrecken für uns verloren, seit uns in unserer Taufe ein neues Leben geschenkt worden ist, das dieser Tod nicht mehr zu zerstören vermag. Ja, selbst wenn wir irgendwann einmal an oder mit oder auch ohne Corona sterben werden, hat der Tod seine Macht und seinen Schrecken verloren, kann er uns nicht für immer in seiner Gewalt behalten, weil wir doch nicht mehr ihm, sondern allein dem auferstandenen Herrn Jesus Christus gehören.

„Der HERR wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein.“ Ja, genau das feiern wir an diesem Osterfest: Mitten in den düsteren Aussichten, die sich uns für die kommenden Wochen eröffnen, mitten in unseren Sorgen und in unserer Angst und Verzweiflung dürfen wir unseren Blick ganz von uns selber abwenden hin auf ihn, den auferstandenen Herrn, der für uns gestritten hat, der für uns alles getan hat, dass wir nur noch staunend dastehen können und mit Mose und Mirjam singen können von ihm, dem HERRN, der ganz allein mit unseren Feinden fertig  werden wird, der auf unsere Mitwirkung dabei nicht angewiesen ist.

Ja, das feiern wir heute an diesem Osterfest mitten in der Corona-Pandemie: Wir brauchen uns vor dem Tod nicht mehr zu fürchten, weil wir ihn seit unserer Taufe schon hinter uns haben, wir können fröhlich und gelassen sein, weil sich unser auferstandener Herr Jesus Christus immer zwischen uns und unsere Feinde stellt und sie uns damit vom Leibe hält: Den Tod, den Teufel, ja selbst die Hölle.

Den Israeliten blieb damals nach ihrer Rettung am Schilfmeer noch ein langer Weg von weit über 40 Jahren, den sie zurückzulegen hatten. Doch ihre Freiheit, die konnte und kann ihnen niemand mehr nehmen. Auch wir bleiben unser ganzes Leben lang noch weiter Flüchtlinge, Flüchtlinge, die immer wieder dankbar auf ihre Rettung in ihrer Taufe zurückblicken und die doch zugleich ihren Blick immer wieder nach vorne richten – hin auf das Gelobte Land, das uns Christus in unserer Taufe doch schon so fest zugesagt hat. Nein, wir brauchen uns wirklich nicht zu fürchten: Unser Herr Jesus Christus wird für uns streiten, und wir werden stille sein, werden einfach nur darüber staunen, dass er uns niemals fallen lassen wird, selbst nicht in der Stunde unseres leiblichen Todes. Denn er geht uns doch immer voran, hat den Tod selber schon hinter sich gelassen. Also nichts wie hinter ihm her! Er wird uns an den Ort bringen, an dem wir einmal endgültig unsere wahre Heimat finden werden. Halleluja! Amen.

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