2. Mose (Exodus) 24,1-2.9-11 | Mittwoch nach dem letzten Sonntag nach Epiphanias | Pfr. Dr. Martens

Manchmal komme ich mir ein wenig vor wie ein Dinosaurier. Ich stamme noch aus einer Zeit, in der die Kommunikation, in der auch der Unterricht in der Schule und in der Kirche wesentlich nur über das gehörte und gelesene Wort funktionierten. Als Schüler hörte man im Wesentlichen zu; das übliche Medium war die Tafel mit Kreide, und gegen Ende meiner Unterrichtszeit kamen dann tatsächlich die ersten Overhead-Projektoren und Episkope auf, mit denen man auch Bilder an die Wand werfen konnte. Dass man gerade mal schnell seinem gesamten Bekanntenkreis per Facebook optisch mitteilen könnte, mit wem man gerade im Restaurant zu Abend isst und wie das Gericht aussieht, das dort serviert wird, hätte ich mir als Schüler niemals vorstellen können.

Ja, wir leben heute in einer Zeit, in der das Sehen immer wichtiger wird. Schüler erwarten, dass ihnen alles auch optisch präsentiert wird; Vorträge ohne Power Point gelten als arg rückständig – und auch in den Medien hat offenkundig nur das einen gesteigerten Wert, was auch visuell dargestellt werden kann. Wenn man etwas nicht nur hören, sondern auch sehen kann, dann muss das ja wohl die Wahrheit sein!

Doch mittlerweile müssen wir immer wieder mühsam nicht nur unseren Kindern vermitteln, dass es nicht nur geschriebene und gehörte, sondern auch visuelle Fake News gibt, dass längst nicht alles, was wir sehen, tatsächlich auch der Realität entspricht, sondern den Betrachter täuscht. Es gibt nicht nur Foto Shop, es gibt auch gestellte Videoszenen, es gibt Filme, die eine ganz andere Begebenheit schildern als die, die sie angeblich darstellen sollen. Die Einstellung „Ich glaube nur, was ich sehe“ ist mittlerweile längst überholt.

Vor dreieinhalbtausend Jahren waren die Möglichkeiten der visuellen Wahrnehmung von Ereignissen natürlich noch sehr viel begrenzter, als es für uns heute so selbstverständlich ist. Vor allem aber wusste man noch darum, dass es Bereiche gibt, die unserer sichtbaren Wahrnehmung grundsätzlich entzogen sind – zuerst und vor allem natürlich der Bereich Gottes, ja Gott selber. Das war völlig klar: Gott kann man nicht sehen, nicht, weil er so weit weg wäre, sondern weil das kein Mensch überleben würde, ihn zu sehen. Gott lässt sich nicht einfach mit dem Handy aufnehmen und posten. Das wäre etwa so ähnlich, wie wenn man versuchen würde, die Explosion einer Atombombe aus nächster Nähe zu filmen.

Ja, kein Mensch wird leben, der Gott sieht. Das wusste man damals schon genau – und das gilt auch im Zeitalter von Instagram. Gott ist unserer Wahrnehmung nicht deshalb entzogen, weil er sich irgendwo hinter dem Mond versteckt hätte. Sondern es dient allein unserem Schutz, dass wir Gott nicht sehen können, weil es für uns tödliche Konsequenzen hätte, wenn der Unterschied zwischen ihm, dem heiligen Gott, und uns sündigen Menschen sichtbar würde. Ja, das ist etwas, was wir uns immer wieder deutlich machen müssen, wenn wir heutzutage mitunter so leichtfertig über Gott sprechen, wenn wir meinen, über ihn nach unseren Wünschen verfügen zu können.

Nur auf diesem Hintergrund können wir die Geschichte verstehen, die uns in der heutigen Abendlesung erzählt wird. Da ist das Volk Israel nach seiner Befreiung aus Ägypten am Berg Sinai angekommen. Dort hat es schon etwas erlebt von der Heiligkeit Gottes, dem allein Mose sich dort oben auf dem Berg nahen durfte. Doch nun gibt Gott dem Mose hier einen sehr viel weiterreichenden Befehl: Nicht nur Mose, sondern auch sein Bruder Aaron, dazu Nadab und Abihu, ja die siebzig Ältesten, die das Volk Israel leiteten und repräsentierten, werden dazu aufgefordert, hoch auf den Sinai zu steigen und Gott dort anzubeten. „Von ferne“ sollen sie dies tun, so heißt es zunächst. Ja, darin wird deutlich, dass eine zu dichte Annäherung an Gott tatsächlich für die Bergsteiger gefährlich werden könnte.

Und dann steigen die 74 Personen hoch auf den Berg – und dann? Ja, dann heißt es hier allen Ernstes: „Sie sahen den Gott Israels.“ Das war nun in der Tat unendlich mehr, als man erwarten konnte, als sie selber auch in ihren kühnsten Träumen erwartet hätten. Sie sahen den Gott Israels – ja, da waren sie mit einem Mal im Himmel, im Bereich Gottes.

Nun hätte nicht nur die heutige Instagram-Generation, hätten wohl wir alle nur allzu gerne gewusst, wie denn Gott nun aussieht, wenn die Leute ihn dort oben doch gesehen hatten. Was für eine Gestalt hat er, hat er tatsächlich einen Bart oder nicht? Doch auf all diese Fragen bekommen wir hier keine Antwort. Beschrieben wird hier nur, wie es unter seinen Füßen aussah – himmelblau, ein Symbol dafür, dass der Bereich Gottes den Bereich unserer Welt übersteigt. Viel wichtiger ist es jedoch, was auf diese Beschreibung folgt: Die Feststellung, dass Gott seine Hand nicht gegen diese Männer ausreckte, die ihn sahen. Die Feststellung, dass Gott diese Menschen verschonte, sie nicht sterben ließ, obwohl sie ihn sehen durften. Ja, das ist dann eben doch der entscheidende Unterschied zwischen Gott und einer Atombombe. Gott kann eben auch Menschen seine Nähe erfahren lassen, ohne dass dies für sie Vernichtung bedeutet.

Und was machen die Männer nach dieser unfasslichen Schau Gottes? Sie veranstalten ein Mahl, essen und trinken und feiern diese unfassliche Erfahrung der sichtbaren Gegenwart Gottes. Nein, man kann sich nicht einfach Gott anschauen und dann wieder zur Tagesordnung übergehen. Das muss in der Tat mit einem Festmahl gefeiert werden.

Was hat diese Geschichte mit uns, mit unserem Leben zu tun? Uns hat Gott nicht irgendwo auf einen Berg eingeladen, um ihn zu schauen. Und als ich damals auf den Berg Sinai gestiegen bin, habe ich Gott dort nicht sehen können. Gott ist eben keine Berggottheit, die ihr Wohnzimmer da oben auf einem Berggipfel hat und sich dagegen wehren muss, dass da nicht jemand bei ihm eindringt. Wenn Gott sich sehen lässt, dann ist es immer seine Entscheidung – und es ist immer seine Gnade, wenn jemand diese Begegnung mit ihm auch überlebt.

Was die Männer damals auf dem Berg Sinai gesehen haben, ist für uns noch Zukunftsmusik. Aber sie bezeugen uns auf ihre Weise, dass die Welt Gottes in der Tat eine Realität ist, dass Gott nicht nur ein schöner Gedanke ist, sondern tatsächlich geschaut werden kann – und dass genau darauf unser Leben zuläuft: Genau das bedeutet ja das ewige Leben: Nicht dass wir von 72 Jungfrauen verwöhnt werden, sondern dass wir Gott selber schauen werden, dass wir ihn voller Freude schauen werden, so wie damals Petrus und Jakobus und Johannes Christus, den lebendigen Gott, auf dem Berg der Verklärung schon einmal einen Augenblick schauen durften.

Ja, Vorfreude soll diese Geschichte bei uns wecken, Vorfreude auf das, was das Ziel unseres Lebens ausmacht: Gott selber zu sehen – und in seinem Licht dann auch endlich all das zu verstehen, was uns hier in unserem Leben noch so dunkel und unfasslich bleibt. Und diese Geschichte lässt uns zugleich noch einmal neu erkennen, was in jeder Feier des Heiligen Mahls geschieht: Da kommen wir noch viel dichter an den lebendigen Gott heran als damals die Bergsteiger auf dem Sinai, so dicht, dass der lebendige Gott sich mit seinem Leib und Blut in unseren Mund legen lässt. Unfasslich ist es, dass Gott uns so nahe an sich herankommen lässt. Unfasslich ist es, dass wir nicht schon auf dem Weg zum Altar von seiner Herrlichkeit, von seiner Heiligkeit erschlagen werden. Doch der lebendige Gott tritt hier nicht in unsere Mitte, um uns zu vernichten, sondern um uns zu verschonen, nicht nur für diesen Augenblick, sondern für alle Ewigkeit. Mit der Schau Gottes hat Gott damals seinen Bund mit seinem Volk geschlossen. Und auch wir empfangen hier das Blut des neuen Bundes im Heiligen Mahl, empfangen seine Zusage, dass wir mit Gott verbunden bleiben unser Leben lang bis in die Ewigkeit. Ja, wir feiern die Erfahrung der unmittelbaren Gegenwart Gottes mit einem Festmahl, wie damals Mose und seine Begleiter auch. Und wenn wir dann wieder vom Altar zurückkehren, singen wir es auch heute wieder: „Meine Augen haben deinen Heiland gesehen.“ Nein, es ist noch nicht die Vollendung. Wir leben noch im Glauben und nicht im Schauen, so betont es der Apostel Paulus. Und doch sind wir hier am Altar schon ganz, ganz dicht dran – dichter als Mose am Sinai, so dicht, dass uns wirklich nur noch ein ganz dünner Schleier von der Schau der Ewigkeit, von der Schau Gottes trennt.

Ach, Schwestern und Brüder, mögen wir dafür unseren Kindern und Jugendlichen eine Ahnung vermitteln, mögen wir dafür auch selber immer mehr eine Ahnung entwickeln, wieviel mehr uns hier am Altar geboten wird als in allen Videoclips, als in allen Reizüberflutungen, denen unsere Sinne sonst jeden Tag ausgesetzt sind! Hier passiert so viel mehr als in jedem Actionfilm: Begegnung mit dem Herrn des Universums, Verschonung von Strafe für unsere Schuld, Teilhabe an einem ewigen, unzerstörbaren Leben. „Steig herauf“, sagte Gott damals zu Mose. „Kommt, denn es ist alles bereit!“ – So ruft uns gleich derselbe Herr zu sich in seine Gegenwart. Ja, kommt und lasst uns anbeten! Amen.

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