2. Timotheus 1,7-10 | 16. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Alles war schon zu spät, als sie ihn schließlich in dieser vergangenen Woche fanden – ihn, den jungen Iraner aus einem Asylbewerberheim in der Nähe unserer Kirche. Er hatte es nicht verkraftet, dass das BAMF seinen Asylantrag abgelehnt hatte, ihm nicht geglaubt hatte in dem, was er dort vorgetragen hatte. Und so hatte er sich schließlich das Leben genommen. Und seine Freunde, auch hier aus unserer Gemeinde, mussten es voller Schmerz erleben, was für eine Macht der Tod hat, dass man gegen ihn nicht ankommt, dass man ihn nicht mehr rückgängig machen kann, wenn er einmal dem Leben eines Menschen ein Ende gesetzt hat.

Er war doch noch topfit gewesen, scheinbar noch im besten Lebensalter, der Vater eines Gemeindegliedes. Doch dann wurde er mit einem Mal schwer krank. Covid 19 – die Diagnose. Als der Sohn die Nachricht von der Erkrankung erhielt, hatte er kaum noch Zeit, für seinen Vater zu beten, da erhielt er schon die zweite Nachricht: Der Vater ist tot, innerhalb von wenigen Tagen von einem tödlichen Virus dahingerafft. Keine Chance mehr, ihn noch einmal zu treffen, noch einmal mit ihm zu reden. Ja, erschreckend ist es, was für eine Macht der Tod in unserem Leben zu entfalten vermag. Und wir können es alle nur ahnen, was vielleicht auch so manchem Gemeindeglied in diesen kommenden Monaten in unserem Land noch bevorstehen mag, wenn sich dieses Virus auch bei uns wieder stärker ausbreiten sollte.

Er war ein Modellathlet gewesen, ein Champion in seiner Sportart, dem Ringen. Doch dann hatte das iranische Regime ihn verhaftet, hatte ihn auf bestialische Weise immer weiter gefoltert und am Ende vermutlich hingerichtet, wenn er denn nicht schon vorher an den Folgen seiner Folter verstorben war. Schnell verscharrt in der Erde, ohne dass seine Familie davon erfuhr – ja, es ist erschütternd, welche Macht der Tod hat, wie Menschen und Regime sich zum Komplizen des Todes machen und ihn als Waffe einsetzen, um Menschen mit der Furcht vor dem Tod einzuschüchtern.

Ja, wir erleben sie in diesen Wochen immer wieder ganz hautnah: Die Macht des Todes, der eben nicht immer vornehm im Leben von Menschen anklopft, die ohnehin längst darauf warteten, von ihm endlich abgeholt zu werden. Die Macht des Todes, der oft genug ohne Vorankündigung in das Leben von Menschen einbricht und diesem Leben ein Ende bereitet und die, die ihm wehren wollten, schließlich doch nur völlig hilflos dastehen lässt.

Ein halbes Jahr ist es nun schon wieder her, dass sich die Türen unserer Kirche und der anderen Kirchen in unserem Land schlossen und sich auch für die Feier der Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus nicht öffneten. Doch jetzt, ein halbes Jahr später, am 16. Sonntag nach Trinitatis, dem Ostersonntag der Trinitatiszeit, können wir wenigstens ein wenig Ostern nachfeiern, Osterlieder singen, den Triumph unseres Herrn Jesus Christus über den Tod bejubeln in einer Zeit, in der wir miterleben, wie unsere Gesellschaft vor der Macht des Todes erstarrt, ja, wie uns die Macht des Todes auch selber die Luft zum Atmen zu nehmen droht.

„Christus Jesus hat dem Tod die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht!“ – So lautet der Wochenspruch dieser Woche, den wir nun eben auch in unserer Predigtlesung vernommen haben. Das ist keine nette Allerweltsweisheit, kein schöner Spruch fürs Poesiealbum, sondern ein vehementer Protest gegen die Macht des Todes, mit der wir in unserem Leben immer wieder so direkt konfrontiert werden. Es ist ein vehementer Protest, der sich allerdings nicht aus der ohnmächtigen Wut der Opfer, der Betroffenen speist, sondern seinen Grund hat in dem, was Jesus Christus selber getan hat, als er am Ostermorgen das Grab verlassen und damit in der Tat die Macht des Todes gebrochen hat. Ja, wir haben in der Tat allen Grund zu behaupten, dass der Tod nicht das letzte Wort in unserem Leben hat, dass wir uns nicht zwangsläufig von der Furcht vor dem Tod in unserem Leben treiben lassen müssen. Und dieser Grund ist das leere Grab, das die Jünger am Ostersonntagmorgen vorfanden, dieser Grund ist das Evangelium, in dem diejenigen, die den auferstandenen Jesus Christus selber gesehen haben, selbst bezeugen, dass es die Wahrheit ist, dass der Herr lebt, dass sie ihn gesehen, berührt, gehört, als den lebendigen Herrn angebetet haben.

Ja, eines der stärksten Argumente dafür, dass der Protestgesang gegen den Tod tatsächlich begründet ist, dass Christus tatsächlich die Macht des Todes gebrochen hat und auferstanden ist, ist dies, dass diejenigen, die die Auferstehung des Herrn bezeugt haben, dazu bereit gewesen sind, für dieses Zeugnis in den Tod zu gehen. Ich lasse mich nicht umbringen für eine Botschaft, von der ich selber im Grunde genommen genau weiß, dass sie nicht mehr als Fake News ist, Ich lasse mich nicht selber ans Kreuz nageln oder mir bei lebendigem Leibe die Haut vom Körper ziehen, wenn ich mir gar nicht so ganz sicher bin, ob Jesus denn tatsächlich lebt.

Ja, das Leiden ist die Form, in der Christen immer wieder den Sieg ihres Herrn über die Mächte des Todes bezeugt haben. So war es damals bei dem Apostel Paulus, der aus dem Gefängnis seinen Brief an seinen Schüler Timotheus schrieb, so war es bei Timotheus selber, den Paulus hier auffordert, gemeinsam mit ihm für das Evangelium in der Kraft Gottes zu leiden. Genau so hat sich der Glaube an den auferstandenen Christus in den ersten Jahrhunderten der Kirche verbreitet – und genau so verbreitet er sich bis heute gerade in den Ländern, in denen Christen am stärksten unter Druck gesetzt und verfolgt werden.

Ja, das sollte gleichsam der Lackmustest für alle kirchliche Verkündigung sein: Bin ich bereit, für das, was ich verkündige, in den Tod zu gehen; hat das, was ich da verkündige, eine solche Bedeutung, dass es sich lohnt, dafür auch zu leiden und zu sterben? Oder verkündige ich nur einige Nettigkeiten, die beim Publikum gut ankommen, die keinem Menschen wehtun, aber beweisen, dass ich ideologisch auf der richtigen Seite stehe? Wenn das, was ich als Pastor, was wir als Kirche verkündigen, nicht wichtig genug ist, dass wir dafür auch bereit sind, in den Tod zu gehen, sollten wir den Mund halten und anderen diese Worte ersparen!

Ja, wenn es in einem Gottesdienst nicht mehr um Leben und Tod geht, sondern nur um ein wenig religiöse Unterhaltung, dann sollte ein solcher Gottesdienst nicht nur in Lockdown-Zeiten abgesagt werden, sondern auch danach unterbleiben. Ich gehe nicht zum Gottesdienst, damit ich mich danach vielleicht ein bisschen besser fühle oder einige Gedankenanstöße für die neue Woche mitnehme. Ich nehme allein deshalb am Gottesdienst teil, weil ich um die Macht des Todes weiß, die mich selber persönlich in meinem Leben erschüttert und die ja auch meinem Leben früher oder später ein Ende setzen wird, wenn der Herr nicht bis dahin wiedergekommen sein wird. Ich nehme allein deshalb am Gottesdienst teil, weil ich etwas brauche, was ich dieser Macht des Todes entgegensetzen kann, ja, weil ich den brauche, der dem Tod die Macht genommen hat und dem ich hier in diesem Gottesdienst begegne, wenn ich sein Evangelium höre, wenn ich den Zuspruch der Vergebung meiner Schuld höre, wenn ich seinen Leib und sein Blut, die Medizin gegen den ewigen Tod, empfange. Ja, weil es im Gottesdienst um Leben und Tod, um mein Leben und meinen Tod geht, eben darum kann ich als Christ nicht einfach auf den Gottesdienst verzichten, darum werden wir auch weiter energisch widersprechen, wenn Politiker oder Gerichte die Teilhabe an den Sakramenten im Gottesdienst für verzichtbar erklären und uns mit Online-Angeboten zu vertrösten versuchen.

In unserer heutigen Predigtlesung erinnert Paulus den Timotheus an die Gaben des Heiligen Geistes, die er durch die Auflegung der Hände bei seiner Heiligen Ordination empfangen hat: Nicht den Geist der Furcht hat er dort empfangen, sondern den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Genau diese Gaben des Geistes Gottes brauchen wir auch heute wieder neu in der Kirche so sehr, gerade jetzt in diesen Corona-Zeiten:

Wir brauchen den Heiligen Geist, damit wir vor den Nachrichten von der Macht des Todes nicht zurückweichen und verzagen, damit wir uns nicht treiben lassen in unserem Handeln und Entscheiden von der Furcht vor dem Tod. Wie wahnsinnig ist es eigentlich, dass ich aus Angst vor dem Tod dem Gottesdienst fernbleibe, wo mir das Heilmittel gegen den Tod geschenkt wird? Wir brauchen den Heiligen Geist, damit er uns helfe, Entscheidungen in unserer Kirche in Liebe zu treffen, in Liebe zu denen, deren Gesundheit gefährdet ist, in Liebe zu denen, die sich von der Angst vor dem Tod eben doch haben lähmen lassen. Und wir brauchen den Heiligen Geist, damit er uns helfe, besonnen zu bleiben, uns nicht von dümmlichen Argumenten oder auch von Angstmacherei beeindrucken zu lassen, sondern nüchtern zu erkennen, was wir als Kirche in diesen Zeiten zu tun haben.

Und das Wichtigste, was wir als Kirche in diesen irrsinnigen Zeiten zu tun haben, ist und bleibt doch eben dies: Dass wir einer Welt, die wie gebannt auf den Tod starrt, die Osterbotschaft wieder neu zurufen: Christus Jesus hat dem Tod die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium. So mächtig der Tod auch sein mag, so schmerzlich auch die Wunden sein mögen, die er reißt – er hat nicht mehr das letzte Wort. Der Sieger steht jetzt schon fest, gibt sich auch heute wieder zu erkennen, wenn er in unsere Mitte tritt als der auferstandene Herr mit seinem Leib und Blut. Ja, um dies zu verkündigen, sollen wir den Mund aufmachen – ganz gleich, was für Konsequenzen dies auch haben mag. Wenn wir diese Botschaft den Menschen nicht verkündigen – wer denn sonst? Amen.

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