2. Timotheus 3,14-17 | Mittwoch nach dem 1. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens
Nun steht das große Reformations-Wochenende unserer Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche vor der Tür. Am Samstag werden wir gemeinsam einen Beichtgottesdienst in der Stadtkirche in der Lutherstadt Wittenberg feiern, und am Sonntag werden wir hier einen Festgottesdienst zum Tag des Augsburger Bekenntnisses mit internationalen Gästen aus verschiedenen Ländern feiern. Ja, es ist eine gute und sinnvolle Idee gewesen, dass unsere Kirche entschieden hat, die 500 Jahre Reformation nun nicht so sehr am 31. Oktober zu feiern, sondern vielmehr am Gedenktag des Augsburger Bekenntnisses. Damit wird unser Blick weggelenkt von der Person Martin Luthers und von der leidigen Frage, ob es in Wirklichkeit überhaupt einen Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 in Wittenberg gegeben hat – hin zu dem Eigentlichen, warum wir das Reformationsjubiläum feiern: um des Evangeliums willen, das uns fröhlich und getröstet Gottesdienste feiern und als Christen leben lässt. Ja, das kann man gar nicht oft genug betonen in diesem Jahr, in dem man angesichts all dessen, was da unter dem Titel „Reformationsjubiläum“ verkauft wird, aus dem Fremdschämen gar nicht mehr herauskommt. Für was für einen Unsinn und für was für Belanglosigkeiten wurde Martin Luther in diesem Jahr schon in Anspruch genommen – und wie wenig von dem, was ihn eigentlich bewegte, ist bisher in diesem Jahr öffentlich zur Sprache gekommen!
Dabei ist es doch eigentlich so einfach, so macht es uns die Predigtlesung des heutigen Abends deutlich. Reformation bedeutet nicht, dass jeder sich seinen eigenen Glauben zusammenbastelt und sich dabei von niemandem hineinreden lässt. Reformation bedeutet nicht, dass man mit allem bricht, was die Menschen vor einem geglaubt haben, und sich stattdessen an dem orientiert, was jetzt gerade die Mehrzahl der Leute für zeitgemäß hält. Vielmehr geht es bei der Reformation um zweierlei:
- bei der Heiligen Schrift zu bleiben
- bei der Kirche zu bleiben
I.
Ja, es geht natürlich bei der Reformation um die Heilige Schrift. Der Ausdruck „Heilige Schrift“, den wir so selbstverständlich verwenden, stammt übrigens aus dieser unserer heutigen Predigtlesung. Ja, es geht um die Heilige Schrift. Der Ausdruck ist allemal besser, als nur von der „Bibel“ zu reden. Heilige Schrift – das Wort erinnert uns daran, dass wir es hier nicht bloß mit einem interessanten antiken Text zu tun haben. Nein, die Heilige Schrift ist voll von Heiligem Geist, von ihm gewirkt, von ihm durchdrungen; in ihr spricht Gott selber zu uns, ja, durch sie wirkt Gott an uns.
Ja, natürlich ist in diesem Jahr auch viel davon die Rede, dass Martin Luther die Bibel ins Deutsche übersetzt hat und dass das auch eine gewaltige kulturelle Leistung gewesen ist. Doch es ging Martin Luther ja nicht bloß darum, Menschen über den Inhalt der Bibel zu informieren. Er wusste, was die Heilige Schrift vermag: Sie konnte den Timotheus, sie kann auch uns unterweisen zur Seligkeit durch den Glauben an Christus Jesus. Wir verstehen die Heilige Schrift nur dann richtig, ja, wir gebrauchen sie nur dann richtig, wenn sie uns zur Seligkeit durch den Glauben an Jesus Christus führt. Wenn ich die Bibel nur als Sprungbrett für meine eigenen religiösen Gedanken gebrauche, wie wir dies gerade etwa wieder beim Motto des diesjährigen Evangelischen Kirchentags erleben konnten, wenn ich sie nur verstehe als Handlungsanweisung für mein Leben, dann habe ich noch überhaupt nicht begriffen, wofür sie da ist und was sie mit mir macht und machen will. Sie will mir überall Christus vor Augen stellen, will uns zeigen, wie sehr wir ihn brauchen, will uns zeigen, was er für uns getan hat und tut. Ja, mehr noch: Dieses Wort der Heiligen Schrift ist so voll des Heiligen Geistes, dass es dann auch den Glauben an Christus wirkt, dass durch dieses Wort dann auch mein Leben verändert wird. Wenn ich mit der Heiligen Schrift zu tun habe, muss ich immer damit rechnen, dass ich anschließend nicht mehr einfach so bin wie vorher, dass Gott durch sein Wort anfängt, an mir und in mir zu arbeiten.
Ach, wie nötig haben wir es auch heute wieder, uns durch diese Worte aus dem 2. Timotheusbrief wieder zurückrufen zu lassen zur Heiligen Schrift! Wie nötig haben wir es, dass wir wieder neu erfassen, was wir an der Heiligen Schrift haben und wie wichtig es ist, uns von ihr prägen, uns von ihr im Glauben stärken zu lassen! Wir leben in einer Zeit, in der Lesen und Hören immer mehr zurückgedrängt werden zugunsten des Sehens, zugunsten von Unterhaltungseffekten. Doch die Heilige Schrift hat mehr zu bieten als bloß ein Computerspiel; sie ist nicht für einen geistlichen Fast-Food-Konsum geeignet. Sie lässt sich nicht einfach ersetzen durch kurze Werbebotschaften. Der Apostel Paulus konnte damals den Timotheus noch darauf verweisen, dass er die Heilige Schrift von Kind auf kennengelernt hatte. Ach, was für eine wichtige Aufgabe haben wir, auch unseren Kindern die Heilige Schrift nahezubringen, dass sie sie von klein auf kennenlernen, dass sie ihnen vertraut ist und vertraut bleibt! Ach, wie wichtig ist da gerade auch die Arbeit der Kindergottesdienst-Mitarbeiterinnen in unserer Gemeinde! Immer wieder geht es um das Gleiche: Dass wir Menschen, ob klein oder groß, die Heilige Schrift nahebringen – und durch die Heilige Schrift ihn, Christus, selber, unseren einzigen Retter.
II.
Nun betont der Apostel Paulus einen Sinn der Heiligen Schrift ganz besonders: Sie ist nütze zur Lehre – und entsprechend ermahnt der Apostel den Timotheus, bei dem zu bleiben, was er gelernt hat und was ihm anvertraut ist.
Wie oft ist in der Vergangenheit die Berufung auf die Heilige Schrift auch missverstanden worden und falsch gedeutet worden! Es geht gerade nicht darum, dass jeder Mensch die Heilige Schrift nur für sich lesen und auslegen könnte, als sei er der erste, der mit diesem Buch zu tun hat. Nein, wenn wir die Heilige Schrift lesen, dann immer so, dass wir dabei zugleich bei dem bleiben, was wir gelernt haben, und dabei zugleich auch wissen, von wem wir gelernt haben. Anders ausgedrückt: Es geht immer auch darum, bei der Kirche zu bleiben, in der die Heilige Schrift ausgelegt wird, bei der Kirche, die uns hilft, uns beim Lesen der Heiligen Schrift immer wieder am Zentrum, an Christus, auszurichten, bei der Kirche, in deren Gemeinschaft die Worte der Heiligen Schrift ganz anders zu leuchten beginnen.
Ja, es geht bei der Reformation in der Tat darum, bei der Kirche zu bleiben und sich nicht von der Kirche zu trennen. Im Augsburger Bekenntnis, an das wir an diesem kommenden Sonntag in besonderer Weise denken, heißt es zum Abschluss der 21 Lehrartikel ausdrücklich, dass „diese Lehre in der Heiligen Schrift klar begründet ist und außerdem der katholischen, ja auch der römischen Kirche, soweit das aus den Schriften der Kirchenväter festzustellen ist, nicht widerspricht.“ „Du aber bleibe bei dem, was du gelernt hast“ – Ja, wir bleiben als lutherische Kirche in der Gemeinschaft der Kirche aller Zeiten, bei dem, was Menschen in ihr geglaubt, gelehrt, erfahren haben. Wir sind keine neue Kirche, sondern verstehen uns als Kirche, die bei dem geblieben ist, was in der einen Kirche zu allen Zeiten gelehrt worden ist, und die eben darum damals in Konflikt mit denen geriet, die gerade nicht bei der Lehre der Kirche aller Zeiten geblieben waren, und die heute wiederum gegen den Strom derer schwimmt, die das Bleiben bei der Lehre der Kirche aller Zeiten für altmodisch und überholt erklären.
Doch vergessen wir es nie: Es geht in dieser Lehre doch immer wieder letztlich nur um den einen: um Christus allein. „Lehre“ ist nicht eine staubtrockene Theorie, kein Relikt aus vergangenen Zeiten. Nein, Lehre geschieht hier und jetzt, geschieht in jeder Predigt. „Lehre“ bedeutet: Christus groß vor Augen zu stellen. Mögen wir uns darum gerade in diesem Reformationsjubiläumsjahr immer wieder dazu anleiten lassen, bei der Heiligen Schrift zu bleiben, bei der Kirche zu bleiben – und eben so durch den Glauben an Christus selig werden! Amen.