5. Mose (Deuteronomium) 7,6-12 | 6. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Er blickte mich ganz entsetzt an: „Ich dachte, Sie sind eine bibeltreue Gemeinde. Warum taufen Sie denn dann Kinder?“ Das war für meinen Gesprächspartner ganz klar: Wer sich an die Bibel hält, der kann doch keine Kinder taufen! Denn wer getauft wird, muss sich doch für Jesus entschieden haben, muss doch verstehen können, was er glaubt! Sonst ist das doch keine richtige Taufe, wenn sich der Getaufte nicht selber zuvor entschieden hat. In den vergangenen Jahren hat es hier in Deutschland viele Gründungen von freien Gemeinden gegeben, die sich als „Biblische Gemeinde“ oder als „Biblische Glaubensgemeinde“ oder mit ähnlichen Begriffen bezeichnen. Und „biblisch“ bedeutet für all diese Gemeinden: Bei uns werden keine Kinder getauft!

Müssen wir also das besondere Prädikat „biblisch“ solchen Gemeinden überlassen und verschämt eingestehen, dass wir in unserer Gemeinde einer unbiblischen Sondertradition folgen, wenn wir bei uns immer noch Kinder bald nach ihrer Geburt taufen, die sich nun wahrlich in ihrer kurzen Lebenszeit noch nicht für Jesus entscheiden konnten?

Der 6. Sonntag nach Trinitatis ist jeweils in besonderer Weise dem Gedächtnis der Heiligen Taufe gewidmet, erinnert uns an unsere eigene Taufe, aber auch ganz grundsätzlich daran, was da denn eigentlich in der Heiligen Taufe passiert. Und da ist uns nun nach der neuen Ordnung der Predigtlesungen ein Abschnitt aus dem Alten Testament vorgegeben – also ein Abschnitt aus einer Zeit, in der es noch gar keine Taufe gab, aber eben auch ein Abschnitt, der uns sehr deutlich macht, auf welchem biblischen Hintergrund die Taufe zu verstehen ist, die Christus gestiftet hat, ja, der uns deutlich macht, warum die Taufpraxis in unserer Gemeinde und Kirche in der Tat biblisch ist, jawohl, der Botschaft der gesamten Heiligen Schrift entspricht.

Da wendet sich am Ende der 40jährigen Wüstenwanderung Mose an das Volk Israel und hält ihm eine lange Rede, blickt zurück auf diese Zeit und macht ihm deutlich, was das Volk aus dieser Zeit lernen sollte.

Und da redet Mose das Volk Israel nun zunächst einmal als „heiliges Volk“ an. Nein, heilig bedeutet gerade nicht sündlos, bedeutet nicht, dass das Volk Israel auf seinem langen Weg durch die Wüste nicht immer wieder versagt und Gott bitter enttäuscht hätte. Sondern „heilig“ bedeutet: Das Volk Israel gehört in besonderer, ja einmaliger Weise Gott dem Herrn. Das ist das Entscheidende: Nicht der moralisch vollkommene Lebenswandel, nicht eine Entscheidung, die das Volk Israel zugunsten seines Gottes getroffen hätte, sondern allein die Tatsache, dass Gott dieses Volk von sich aus zu seinem Volk, zu seinem Eigentum „erwählt“ hat, wie es gleich danach heißt. Die Israeliten gehören zu Gott, nicht, weil sie sich für Gott entschieden hätten, nicht, weil sie sich als besonders fromm und zuverlässig qualifiziert hätten, sondern einzig und allein, weil Gott sich für sie entschieden hat.

So sieht der biblische Zusammenhang aus, in dem wir verstehen sollen und können, worum es auch in der Taufe geht: Der Gedanke, dass Menschen zu Gottes Volk gehören könnten, weil sie eine bewusste Entscheidung für Gott oder Jesus getroffen haben, liegt der Heiligen Schrift völlig fern. In der Heiligen Schrift ist immer Gott allein der Handelnde, der, der anfängt, der, der die Initiative ergreift, um Menschen zu retten. Und genau so ist es eben auch in unserer Taufe: Unsere Taufe ist nicht Ausdruck unserer menschlichen Entscheidung für Gott. Sondern in der Taufe sagt es uns Gott ganz persönlich zu: Ich habe dich erwählt, ich habe mich dafür entschieden, dass du für immer zu mir gehören sollst. Längst bevor du Ja sagen konntest, habe ich schon zu dir Ja gesagt. Und dieses Ja soll dir eben auch bekannt sein, auf dieses Ja sollst du in deinem Leben bauen können, sollst dich darauf verlassen können – und eben darum spreche ich es dir auf den Kopf zu, rufe dich in der Taufe bei deinem Namen, mache dich zu meinem Eigentum. Ja, einen Eid hat Gott in der Taufe geschworen, wie er auch damals den Vätern des Volkes Israels einen Eid geschworen hat – und an diesen Eid bindet sich Gott so fest, dass er davon nicht mehr loskommt. Weil er damals den Vätern Abraham, Isaak und Jakob einen Eid geschworen hat, hat er das Volk Israel aus Ägypten gerettet. Und weil er dir in deiner Taufe einen Eid geschworen hat, wird er auch dich retten – selbst noch aus dem Dunkel des Todes. Was für eine wunderbare Perspektive! Nichts hängt von dir, von deiner Entscheidung, von deiner Glaubensstärke ab – alles hängt allein von Gottes Treue ab, von seiner Zuverlässigkeit, dass er wirklich zu dem steht, was er verspricht. Und auf diese Treue darfst du dich verlassen. „Sind wir untreu, so bleibt er doch treu, er kann sich selbst nicht verleugnen“, so schreibt es der Apostel Paulus im 2. Timotheusbrief. Gottes Treue hängt nicht von unserer Treue ab. Ja, genau darum geht es eben auch in der Taufe.

Wie ist Gott damals auf die Idee gekommen, ausgerechnet das Volk Israel zu seinem Volk zu erwählen? Gerade nicht deshalb, weil dieses Volk ihn mit irgendwelchen Qualitäten beeindruckt hätte. Zumindest einen kleinen Hinweis gibt Mose hier in seiner Rede an das Volk Israel: Gott hat ein Faible für die Kleinen, für die Schwachen. Das Volk Israel, das er erwählt hat, war das Kleinste unter den Völkern. Gottes Liebe gilt den Kleinen und Schwachen – das gilt bis heute. Gott stellt sich nicht auf die Seite der Starken, sondern stürzt sie vom Thron, so singt es Maria in ihrem Lied. Und so sind es die Kleinen, denen Gott sein Ja in der Taufe zuspricht: Die kleinen Kinder, diejenigen, die in unserer Gesellschaft ihren Platz ganz unten haben. Wenn wir in unserer Gemeinde neben so vielen Erwachsenen auch ganz bewusst kleine Kinder taufen, dann eben darum, weil wir biblisch denken, weil wir darum wissen, dass Gottes Erwählung in besonderer Weise den Kleinen gilt, denen, die von sich aus nichts für Gott tun können.

Und noch etwas können wir aus dem Wort aus dem Alten Testament für das Verständnis der Taufe lernen: Gottes Erwählung gilt immer wieder einem Volk, nicht bloß einzelnen Menschen. Wenn wir gerettet werden, dann so, dass wir Teil eines Volkes sind, dass wir, neutestamentlich gesprochen, zur Kirche gehören. Wir sind es heutzutage gewohnt, immer vom Einzelnen her zu denken. Doch die Heilige Schrift nimmt uns immer wieder wahr als Glieder des Leibes Christi, als Glieder des Volkes Gottes.

Habt ihr es euch eigentlich schon einmal bewusst gemacht, dass auch der Taufbefehl Jesu, den wir eben im Heiligen Evangelium gehört haben, sich nicht auf einzelne Menschen bezieht, sondern auf Völker? Lehret alle Völker, sagt Jesus, ja, taufet sie, die Völker auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes! Nein, damit redet Jesus nicht einem völkischen Denken das Wort, ganz im Gegenteil, und er behauptet auch nicht, dass unsere Rettung so geschieht, dass wir zum christlichen deutschen Volk gehören. Dann wären zumindest die Deutschen wohl verloren. Aber Jesus macht uns deutlich, dass unsere Rettung immer in Gemeinschaft mit anderen Menschen geschieht, dass wir durch unsere Erwählung in eine Gemeinschaft eingebunden sind, in das eine Volk aus allen Völkern, in das eine Volk Gottes, dessen Wurzel immer das Volk Israel bleibt, dessen Erwählung Gott niemals zurücknehmen kann und zurücknehmen wird. Die Taufe ist niemals bloß unsere Privatangelegenheit, und darum taufen wir auch in aller Regel in Gemeindegottesdiensten, selbst wenn die Teilnehmerzahl dieser Gemeindegottesdienste wegen Corona im Augenblick begrenzt sein muss. Aber dass wir durch die Taufe in die Gemeinschaft des Gottesvolkes aufgenommen werden, das soll nach aller Möglichkeit auch im Taufgottesdienst selber zum Ausdruck kommen.

Warum hat Gott das Volk Israel erwählt? Mose bringt es ganz einfach auf den Punkt: „weil er euch geliebt hat“. Warum verlieben wir uns in einen Menschen? Das lässt sich letztlich nicht erklären – es ist einfach so. Und so ist es auch mit Gott und uns. Gott hat sich unbegreiflicherweise in uns verliebt – und in der Taufe macht er uns seine ganz persönliche Liebeserklärung – eine Liebeserklärung, von der wir unser ganzes Leben lang zehren können.

O nein, wir entscheiden uns nie und nimmer für Gott. Aber Gottes Liebeserklärung an uns, die wird in unserem Leben nicht ohne Folgen bleiben, wird dazu führen, dass auch wir Gott lieben, dass wir ihn lieben als den Vater unseres Herrn Jesus Christus. Es ist wirklich spannend zu beobachten, wie schon hier im Alten Testament das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk als Liebesverhältnis beschrieben wird – nicht anders, als wir es im Neuen Testament besonders deutlich im Johannesevangelium wiederfinden. Zu Gottes Volk zu gehören, erwählt zu sein, bedeutet also: Aus der Liebe Gottes zu leben und zu handeln.

Und genau diese Liebe Gottes sollen Eltern auch ihren Kindern bezeugen, sollen ihnen erzählen von Gottes großem Liebesbeweis in ihrer Taufe. So soll die Zugehörigkeit zum Volk Gottes in jeder Generation neu wieder Staunen hervorrufen, soll in jeder Generation neu als großes Geschenk wahrgenommen und gefeiert werden. Wir erleben zurzeit in unserem Land, wie diese Weitergabe des Glaubens weithin abbricht – mit schmerzlichen Konsequenzen für das Leben der Kirchen. Jawohl, wo Gottes Wort nicht mehr von einer Generation zur nächsten weitergereicht wird, da vollzieht sich Gottes Gericht – auch an unserem Volk, auch an den Kirchen unseres Landes. Doch in all dem sollen und dürfen wir weiter Zeugen der Treue Gottes sein, Zeugen dessen, dass Gott zu seinem Versprechen in der Taufe steht. Ja, wie gut, dass uns die Lesung aus dem Alten Testament wieder neu zu einem wahrhaft biblischen Verständnis der Taufe angeleitet hat! Amen.

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