5. Mose/Deuteronomium 7,6-12 | 6. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Es gibt einen Wunsch, den viele unserer Gemeindeglieder teilen – einen Wunsch, der bei vielen schon wahrgeworden ist und von dem ebenso viele immer noch träumen: den Wunsch, endlich eine Plastikkarte mit der Aufschrift „Aufenthaltserlaubnis“ und dem eigenen Namen darauf in den Händen halten zu können, einen blauen Pass mit dem eigenen Foto, ja, den Wunsch einfach hier in Deutschland auch ganz offiziell dazuzugehören, anerkannt zu sein in jeder Beziehung. Und bei so manchem richtet sich der Blick dann noch weiter in die Zukunft: endlich dann auch den roten Pass in den Händen halten zu können, den deutschen Personalausweis, schließlich ganz eingebürgert zu sein.

Doch der Weg bis dahin ist hart: Viel muss man selber dafür tun. Man muss sich gut präsentieren können bei der Anhörung, man muss Geduld haben, wenn der Asylantrag erst einmal abgelehnt wird, man muss ordentlich Deutsch lernen, sich gut integrieren – kurzum: Man muss zeigen, dass man es wert ist, als deutscher Staatsbürger schließlich angenommen zu werden.

Um Menschen, die zu einem Volk dazugehören dürfen, geht es auch in der Predigtlesung dieses Sonntags. Ja, auch dabei handelt es sich um Flüchtlinge, die so richtig draußen vor sind, mitten in der Wüste, und nicht wissen, wo sie eigentlich hingehören, wie ihre Zukunft eigentlich aussieht. Und diesen Flüchtlingen wird nun noch viel Größeres zugesprochen als eine Aufenthaltserlaubnis oder auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Mose, der Mann Gottes, verkündigt ihnen hier in den Worten unserer Predigtlesung, dass sie alle miteinander unbefristet aufgenommen werden nicht bloß in irgendein Volk, sondern in nicht weniger als Gottes heiliges Volk. Das ist das Größte, was man sich überhaupt vorstellen, wünschen und erträumen kann: zu Gottes eigenem Volk gehören zu dürfen für immer!

Eines müssen wir dabei natürlich von vornherein klarstellen: Gottes heiliges auserwähltes Volk sind nicht die Deutschen, Gottes heiliges auserwähltes Volk sind auch nicht die Amerikaner, und es sind auch nicht die Iraner. Sondern Gottes heiliges auserwähltes Volk sind tatsächlich die Israeliten, die Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs. Die werden hier in unserer Predigtlesung angeredet, die werden mit diesem Ehrentitel bezeichnet: heiliges Volk, Volk des Eigentums. Ja, das muss man gerade heute, ja gerade auch in unserem Land wieder neu betonen, in einer Zeit, in der der Antisemitismus wieder salonfähig zu werden droht, in der so viele in unserem Land wegschauen, wenn die, die zu diesem Volk gehören, beleidigt und angegriffen werden, wenn offen dazu aufgerufen wird, diese Menschen ins Meer zu treiben und zu töten. Als Christen können wir niemals Antisemiten sein, weil der Gott, an den wir glauben, kein anderer Gott ist als der Gott Israels, weil der Gott, an den wir glauben, dem Volk Israel seine bleibende Erwählung zugesagt hat. Wer Israel, Gottes Augapfel, anrührt, vergeht sich damit zugleich auch an Gott selber.

Gott macht jedoch zugleich hier auch sehr deutlich, warum Israel sein heiliges Volk, sein Volk des Eigentums ist. Es liegt nicht daran, dass die, die zu diesem Volk gehören, ihn mit irgendetwas besonders beeindrucken könnten – mit ihrer Größe oder mit ihrer Stärke, mit ihrer Leistungsbereitschaft oder auch mit ihrer Frömmigkeit. Ganz im Gegenteil: Gott hat Israel zu seinem Volk des Eigentums erwählt, weil es das kleinste unter allen Völkern ist, weil Gott ein Faible hat für die Schwachen, die Kleinen, die Unterdrückten, für die, die selber gar nichts dafür tun können, heilig und erwählt zu sein. Gott belohnt mit seiner Erwählung nicht diejenigen, die besonders gut, besonders moralisch korrekt sind, sondern er liegt mit seiner Entscheidung quer zu all dem, was wir Menschen für normal und richtig und nachvollziehbar halten würden. Israel hat also keinen Grund dazu, stolz darauf zu sein, dass es Gottes Volk ist. Es kann nur darüber staunen, dass Gott sich unbegreiflicherweise gerade in dieses Volk so sehr verliebt hat und ihm dabei unfassliche Versprechen gemacht hat.

Und wir – wir stehen nun eigentlich auch erst mal wieder draußen vor, alle miteinander, ganz gleich, ob wir in Berlin, in Shiraz oder in Herat geboren sind. Wir sind alle miteinander keine Juden, wir gehören nicht zu dem Volk, dem Mose damals im Auftrag Gottes verkündigte, dass es Gottes Eigentumsvolk ist. Doch zu diesem Volk Gottes dazuzugehören, das ist nun in der Tat noch viel wichtiger, als eine Aufenthaltserlaubnis oder einen deutschen Pass zu erhalten. Denn allein die Zugehörigkeit zu Gottes Volk eröffnet uns eine Lebensperspektive, die weit über die Gültigkeitsdauer von Reisepässen hinausreicht, die hinausreicht bis in die Ewigkeit. Wie können also auch wir zu diesem Volk dazugehören?

Es geht ganz sicher nicht so, dass wir das Volk Israel als Gottes heiliges Volk ersetzen könnten, dass wir einfach ein neues Volk Gottes gründen. Denn Gott ist ein treuer Gott, und wenn er etwas verspricht, dann hält er dies auch, nicht nur für ein paar Monate oder Jahre, nicht bloß bis zum Tag der nächsten Wahl, sondern tatsächlich für immer. „Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen“, so formuliert es der Apostel Paulus im Römerbrief. Wohl aber hat Gott etwas anderes gemacht: Er hat seinen Sohn Jesus Christus zu seinem Volk gesandt, damit durch ihn alle Menschen eingeladen werden, in das Volk Gottes aufgenommen zu werden, auch Gottes Eigentum zu werden.

Ja, mehr noch: Durch diese Einladung erreicht Gott bis zum heutigen Tag Menschen, die er schon von Ewigkeit her erwählt hatte, dass auch sie zu seinem Volk dazugehören sollten. Es ist mit der Zugehörigkeit zu diesem Volk also ganz, ganz anders als mit der Zugehörigkeit zur Bundesrepublik Deutschland. Wenn du deutscher Staatsbürger werden willst, dann musst du dich dafür selber entscheiden, wenn du nicht schon als Kind von Deutschen hier geboren wurdest. Und du musst dich nicht bloß dafür entscheiden, du musst auch richtig etwas dafür tun. Doch dass du zum Volk Gottes gehörst, liegt nicht daran, dass du dich dafür entschieden hättest. Gott hat sich für dich entschieden, hat dir seine Entscheidung mitgeteilt, ja hat sie an dir vollzogen am Tag deiner heiligen Taufe. Da hat er dich aufgenommen in sein heiliges Volk, da hat er dir Anteil gegeben an dem Leben in seiner Gemeinschaft, das niemals mehr enden wird. Ja, da hat Gott auch dir einen Eid geschworen, den er niemals brechen wird: Du gehörst zu mir, ja, ich werde dich niemals mehr fallen lassen.

Was für eine wunderbare Basis für dein Leben hast du damit seit dem Tag deiner Taufe: Du magst im Augenblick noch nicht wissen, ob Deutschland dich akzeptieren wird. Aber eines darfst du hundertprozentig wissen: Gott hat dich akzeptiert, hat dich angenommen, nicht weil du es verdient hättest, sondern weil er sich auch in dich verliebt hat, weil er in seiner unbegreiflichen Liebe zu dir einfach nicht mehr von dir loskommt. Du magst das überhaupt nicht verstehen können, wenn du auf dich und auf dein Leben schaust. Du magst nicht verstehen, warum Gott denn nun ausgerechnet dich in seinem Volk haben will. Du musst es auch nicht verstehen. Halte dich nur an das, was er dir gesagt hat, und vertraue darauf! Es gilt ohne Einschränkung, ohne Wenn und Aber. Es ist und bleibt nicht abhängig von dem, was du selber von dir aus bist, von dem, was du selber tust.

Ja, ein heiliges Volk seid ihr alle miteinander, die ihr euch heute Morgen um Gottes Altar versammelt habt, ein Volk, das darum heilig ist, weil ihr alle miteinander Gott gehört. Aber natürlich ist es nun klar, dass die, die zu diesem Volk gehören, auch darauf achten werden, sich in dieses Volk zu integrieren, zu dem sie gehören, so zu leben, wie es einem Angehörigen dieses Volkes entspricht. Wenn jemand deutscher Staatsbürger wird, erwartet Deutschland von ihm, dass er weiß, was es heißt, in diesem Land zu leben. Und so erwartet Gott von denen, die zu seinem Volk gehören, in der Tat auch, dass sie sich an seinem Willen, an seinem Wort orientieren, dass sie nicht innerhalb von Gottes Volk eine Parallelgesellschaft etablieren, die mit dem, was Gottes Volk ausmacht, gar nichts zu tun haben will. Ja, gut und wichtig ist es, dass ihr als getaufte Christen darauf achtet, Gottes Wort immer besser kennenzulernen, seinen Willen immer klarer zu erkennen, wie er in der Heiligen Schrift zum Ausdruck kommt. Bringt darum eure Freude darüber, zu Gottes heiligem Volk gehören zu dürfen, dadurch zum Ausdruck, dass ihr euch immer wieder an Gottes Willen ausrichtet, dass ihr seiner Wegweisung folgt! Und der Weg, den euch Gott in seinem Wort weist, der richtet sich eben immer wieder an Jesus Christus aus, an dem, der selber der Weg, die Wahrheit und das Leben ist. Der Weg, den euch Gott in seinem Wort weist, ist immer wieder der Weg zum Empfang von Gottes Vergebung, ist immer wieder der Weg in die Gemeinschaft derer, die gemeinsam den Leib und das Blut des Herrn empfangen. Nein, ihr müsst das nicht tun, damit ihr euch den Himmel verdient. Sondern ihr kommt hierher, weil ihr wisst, was Gott euch schon versprochen und geschenkt hat, ihr kommt hierher, weil ihr immer wieder neu gemeinsam erfahren wollt, was es heißt, zu Gottes Volk zu gehören: Es heißt doch: von Gottes Liebe immer wieder neu überschüttet zu werden. Ja, auch heute sagt es dir Christus wieder zu, wenn du seinen Leib und sein Blut empfängst: Ghaboul shodi, du bist angenommen von Gott, du darfst hierbleiben, hier bei ihm – in alle Ewigkeit. Amen.

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