Jakobus 5,7+8 | Zweiter Sonntag im Advent | Pfr. Dr. Martens
Ein Jahr hatte er nach seiner Ankunft hier in Deutschland auf seine Anhörung beim Bundesamt warten müssen. Die Anhörung war eine Farce gewesen; ein völlig inkompetenter Dolmetscher, ein Anhörer, der sich einen Spaß daraus machte, ihn und seinen Glauben zu verhöhnen – es war klar, wie die Entscheidung am Ende ausfallen würde. Doch bis es soweit war, musste er noch einmal zwei Jahre warten. Dann kam er endlich – der erwartete Abschiebebescheid, gegen den er dann Klage erheben konnte. Vier weitere Jahre musste er warten, bis endlich die Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht stattfand – doch schon nach fünf Minuten war deutlich: Der Richter hatte überhaupt kein Interesse daran, sich ernsthaft mit seiner Hinwendung zum christlichen Glauben zu befassen; dass alle Asylbewerber Betrüger sind, das war ihm schon vor der Verhandlung hinreichend klar. Mehr als sieben Jahre hatte er gewartet, hatte seiner Familie in der Heimat immer wieder erzählt, dass er nun endlich bald hier in Deutschland anerkannt würde – doch am Ende stand er nach sieben Jahren Warten mit leeren Händen da. Das Einzige, das ich ihm als Trost sagen konnte, war, dass sie sich alle einmal vor Christus, dem Richter, werden verantworten müssen: Die Politiker, die Menschen wie ihn nur als Problemfälle ansahen, die Richter und Entscheider beim Bundesamt, die ihm mit unverhohlenem Zynismus die Ernsthaftigkeit seines Glaubens abgesprochen hatten. Doch dieser Trost half dem Betroffenen wenig: Soll ich denn wirklich bis zum Jüngsten Tag warten, bis mir endlich Recht widerfährt?
Ich konnte und kann diesen Menschen so gut verstehen. Ich komme mit meiner Geduld auch immer mehr an meine Grenzen, wenn ich sehe, was für ein Unrecht Menschen in unserem Land widerfährt, wenn ich erlebe, wie diese Menschen hier in unserem Land von allen Seiten im Stich gelassen werden. Ja, ich weiß: Christus wird diese Menschen, die zu diesem Unrecht geschwiegen haben, es in Kauf genommen, vielleicht gar unterstützt haben, zur Rechenschaft ziehen. Doch es fällt mir eben auch so schwer, bis zum Kommen des Herrn zu warten, möchte so gerne, dass Menschen, die bei ihrem Warten auf Gerechtigkeit an die Grenzen ihrer Kräfte gekommen sind, schon hier in dieser Welt Gerechtigkeit widerfährt.
Und damit sind wir nun schon mitten drin in der Epistel dieses Zweiten Sonntags im Advent. Auch in ihr geht es um das Warten – nein, nicht um das Warten so ganz im Allgemeinen, sondern um das Warten auf das Kommen des Herrn angesichts des Unrechts, das hier auf Erden geschieht. Was hier in den Worten unserer Predigtlesung zunächst einmal so idyllisch klingt, hat einen ganz ernsten Hintergrund, der in den Versen, die dieser Predigtlesung unmittelbar vorangehen, sehr deutlich aufscheint. Da heißt es: „Wohlan nun, ihr Reichen: Weint über das Elend, das über euch kommen wird! Ihr habt den Gerechten verurteilt und getötet, und er hat euch nicht widerstanden.“ Darum, dass Reiche offenbar auch in der christlichen Gemeinde sich nicht entblödeten, arme Gemeindeglieder vor Gericht zu zerren und dort ihren Einfluss gegen sie zur Geltung zu bringen, dass die Armen keine Chance in der Gerichtsverhandlung hatten, ja um solches zum Himmel schreiende Unrecht geht es Jakobus hier. Darauf bezieht er sich, wenn er die Schwestern und Brüder, wie es in der neuen Luther-Übersetzung heißt, dazu ermahnt, geduldig zu sein bis zum Kommen des Herrn, von ihm allein Gerechtigkeit zu erwarten.
Ja, solche Mahnung zur Geduld war für die Armen damals in der Gemeinde, ist auch für uns heute oft schwer zu ertragen. Warten sollen wir – bis zum Kommen des Herrn! Das ist doch eine Zumutung!
Doch Jakobus gebraucht hier ein sehr einprägsames Beispiel: Er stellt uns einen Bauern vor Augen, der seine Aussaat auf dem Feld getätigt hat. Danach bleibt auch ihm nichts anderes übrig als zu warten. Er kann das Wachstum der Saat nicht beschleunigen, würde im Gegenteil alles kaputt machen, wenn er versuchen würde, bei diesem Wachstum irgendwie nachzuhelfen. Aber er weiß: Das Warten lohnt sich, auch wenn es sich lange hinzieht. In dieser Zeit geschieht in Wirklichkeit eine ganze Menge, auch wenn er, der Bauer, dabei scheinbar so wenig machen kann. Und am Ende bei der Ernte wird sich dann einmal herausstellen: Die Wartezeit war keine verlorene Zeit; gewachsen ist das, was dem Bauern seine Zukunft sichert.
Ein Bauer bleibt ja auch nicht untätig in der Zeit bis zur Ernte; er hat auch nach der Aussaat immer noch jede Menge zu tun. Geduldig zu sein heißt nicht: Einfach die Hände in den Schoß zu legen. Geduldiges Warten kann ganz schön leidenschaftlich sein, so sehen wir es ja auch an den Worten des Jakobus selber, der hier in seinem Brief den Reichen, denen, die die Gerichte für ihre Zwecke missbrauchen, so gewaltig den Marsch bläst. Jakobus findet sich nicht einfach mit dem Unrecht in dieser Welt ab – und richtet sich zugleich doch immer wieder an dem Ziel seines Lebens, an dem Ziel des Lebens von uns allen aus: an dem Tag, an dem Christus selber einmal Recht sprechen und Recht schaffen wird.
Ja, das ist schwer für uns und zugleich doch immer wieder eine heilsame Lernerfahrung, die wir machen sollen und dürfen: Wir sollen unser Leben immer wieder vom Ziel her verstehen, von dem, was am Ende kommt und uns erwartet. Das ist und bleibt doch das Allerwichtigste, dass wir selber am Ende einmal vor dem Richter Jesus Christus bestehen werden, wenn er wiederkommt. Das ist und bleibt unendlich wichtiger als jeder Richterspruch, der hier auf Erden gefällt wird. Und wenn wir hier auf Erden mitunter so lange auf Gerechtigkeit warten müssen, sollen wir diese Zeit ganz bewusst als Reifezeit ansehen, als Zeit, in der auch bei uns etwas wächst, auch wenn man dieses Wachstum nicht gleich immer sehen und beobachten kann. Unser Glaube und unsere Liebe, sie können in dieser Zeit wachsen, in der uns scheinbar die Hände gebunden sind, in der wir erfahren, wie wenig wir selber oft genug in unserem Leben ausrichten können. Kein Tag unseres Lebens ist von diesem Ziel her ein verlorener Tag, auch wenn wir an diesem Tag noch nichts ernten können.
Und diese Einsichten können uns nun auch gerade in dieser Corona-Zeit eine große Hilfe sein: Zurzeit müssen wir ja alle miteinander das Warten noch einmal ganz neu lernen, auch wenn wir nicht von den Schikanen unseres Staates gegen christliche Asylbewerber betroffen sind.
Vor einiger Zeit sah ich im Internet ein schönes Plakat auf einer der zahllosen Corona-Demonstrationen dieser Wochen: „Stoppt Corona!“ stand darauf ganz schlicht. Was für eine wunderbare Idee! Man muss nur demonstrieren, dann lässt sich Corona damit sehr einfach aufhalten. Ach, wenn man mit Demonstrationen tatsächlich Corona stoppen könnte, dann würde ich mir auch jeden Tag Zeit für solch eine Demonstration nehmen. Doch in Wirklichkeit lässt sich Corona eben nicht auf diese Weise stoppen – und wir erleben es immer wieder, wie unsere Geduld in diesen Wochen und Monaten immer wieder neu strapaziert wird, wie Hoffnungen auf ein schnelles Ende, auf eine schnelle Verbesserung sich immer wieder verflüchtigen. Wir warten und warten und warten – und es scheint sich nichts zu tun und zu verbessern. Ja, geduldig zu warten, fällt uns gerade auch in unserer Gemeinde sehr schwer, wenn wir immer wieder neu wahrnehmen, wie viel von dem, was wir ansonsten hier in unserer Gemeinde gemacht haben, im Augenblick nicht möglich ist, wie sehr uns Möglichkeiten aus der Hand geschlagen sind, Menschen Freude am Leben in der Kirche, ja auch Freude am Glauben selber zu vermitteln. Meine Hoffnungen richten sich im Augenblick auf die Osterferien. Aber wer weiß, ob sich nicht auch dieses Warten in einiger Zeit als vergeblich herausstellen wird, ob unsere Geduld nicht doch noch viel länger strapaziert wird!
Ja, solche Erfahrungen des scheinbar vergeblichen Wartens, die können einen geradezu kaputt machen. Durchhalteparolen helfen je länger, desto weniger. Doch was Jakobus uns hier vor Augen stellt, das kann uns in der Tat eine Hilfe sein: Auch diese Coronazeit ist eine Zeit des Wachsens und Reifens. Das gilt für uns persönlich, und das gilt auch gerade für unsere Gemeinde. Viel Samen haben wir in den letzten Jahren ausgesät, viel Samen des Wortes Gottes. Jetzt im Augenblick haben wir zu solcher Aussaat nur wenig Gelegenheit, und so manche Methode, mit der wir meinten, Wachstum hervorrufen oder beschleunigen zu können, hat sich als untauglich in dieser Zeit herausgestellt. Doch auch diese Zeit, in der uns in so mancher Hinsicht die Hände gebunden sind, ist eine wichtige Zeit, auch und gerade für unsere Gemeinde. Menschen erleben oftmals noch viel intensiver als vorher, was sie in ihrem Leben wirklich trägt. Gemeindeglieder sind dankbar dafür, dass sie nun im Unterschied zu früher jede Woche eine Predigt in Farsi hören und sagen, dass dadurch ihr Glaube in diesem Jahr sehr gewachsen ist. Und miteinander haben wir erlebt, wie wichtig es in dieser Zeit auch und gerade in unserer Gemeinde ist, füreinander da zu sein, wie wichtig es ist, dass wir nach den anderen in der Gemeinde fragen, dass uns die anderen Gemeindeglieder jetzt, wo wir sie nur so selten sehen können, noch lieber und wichtiger geworden sind.
Und über allem ist, so hoffe ich, auch in unserer Gemeinde, ja auch in unseren eigenen Herzen das Bewusstsein wieder neu dafür gewachsen, dass es mit dieser Welt, dass es auch mit unserem Leben nicht für immer so weitergehen wird, dass wir in der Tat dem wiederkommenden Christus entgegengehen, seinem großen Tag. Wenn alle anderen Planungen in unserem Leben sich oft so schnell als hinfällig erweisen, bleibt doch der eine Tag stehen und fällt keinesfalls aus: Der Tag, an dem wir Christus einmal selber mit eigenen Augen sehen werden, der Tag, an dem einmal endgültig von uns all das abfallen wird, was uns jetzt noch so bedrückt. Ja, mit diesem Tag vor Augen lässt es sich anders leben, lässt es sich geduldiger leben auch und gerade in Corona-Zeiten. Wir verpassen in Wirklichkeit nichts, solange nur das Ziel klar ist, dem wir auch in diesen Zeiten entgegengehen: „Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen des Herrn ist nahe.“ Amen.