Jeremia 20,7-11a | Okuli | Pfr. Dr. Martens

Vor einigen Wochen hat die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland beschlossen, sich für ein Tempolimit von 130 km/h pro Stunde auf deutschen Autobahnen einzusetzen. Nun mag man zu diesem Tempolimit stehen, wie man will. Doch nicht nur in Mitteldeutschland fragen sich viele Menschen, ob darin der Auftrag der Kirche besteht, Diskussionen über die Straßenverkehrsordnung in unserem Land zu befeuern, die von anderen Organisationen und Verbänden längst angestoßen worden waren. Kein Wunder, dass Jahr für Jahr Hunderttausende von Menschen aus den Kirchen austreten, wenn sie den Eindruck haben, dass sie das, was sie dort vernehmen, sich auch genauso gut in der Tageszeitung zu Hause durchlesen können.

Ja, Schwestern und Brüder, was wir im Augenblick in unserem Land wahrnehmen können, ist nicht weniger als Gottes Gericht über eine harmlose Kirche, über eine Kirche, die Gott selber verharmlost, die ihren Auftrag verharmlost und die das Wort verharmlost, das sie zu verkündigen hat. Was für ein Kontrastprogramm wird uns dagegen in der Predigtlesung des heutigen Sonntags geboten: Der Prophet Jeremia meldet sich hier zu Wort, redet sehr persönlich, sehr leidenschaftlich und macht uns dreierlei sehr eindrücklich deutlich:

  • Gott ist nicht harmlos
  • Bote Gottes zu sein ist nicht harmlos
  • Gottes Wort ist nicht harmlos


I.

Beinahe gotteslästerlich klingt es, was der Prophet Jeremia in den Versen unserer heutigen Predigtlesung Gott an den Kopf wirft: Er vergleicht Gott mit einem Sexualstraftäter, der ein ahnungsloses junges Mädchen zunächst verführt und sich dann gewaltsam über es her gemacht hat, es zu etwas gezwungen hat, was es nie und nimmer wollte.

Ja, genau so kommt sich der Jeremia in seinem Dienst als Prophet vor: Gott hat sich über ihn hergemacht, hat mit ihm getan, was er selber so gar nicht wollte, hat ihm damit sein Leben so sehr kaputt gemacht, dass Jeremia gleich darauf in den Versen, die unserer Predigtlesung folgen, den Tag seiner Geburt verflucht und sich wünscht, nie geboren worden zu sein.

Was für abgrundtiefe Erfahrungen mit Gott bringt der Prophet da zum Ausdruck, Erfahrungen, die uns zunächst einmal erschrecken mögen – und uns doch zugleich, wenn wir uns denn diesen Worten des Propheten stellen, mitunter auch gar nicht so fernliegen mögen:

Ich denke an den jungen Iraner, der in seinem Heimatland alles aufgeben musste, was er hatte, weil ihn die Botschaft der Bibel so sehr gepackt hatte, dass er sie nicht mehr für sich behalten konnte. Ganz allein war er hier angekommen – und dann musste er erleben, wie seine Flucht, wie sein Glaube von den deutschen Behörden nur verspottet wurden, überhaupt nicht ernst genommen wurden. Und dann saß er da nun in seinem Heim – mit der Ablehnung seines Asylantrags in der Tasche und in dem Wissen, dass es für ihn zugleich auch keinen Weg mehr zurück gab. „Herr, was hast du da eigentlich mit mir gemacht?“ – So fragte auch er: Du hast mich doch gepackt, dass ich gar nicht mehr anders konnte, als an dich zu glauben – und jetzt hast du alles in meinem Leben kaputtgehen lassen, was ich hatte. Ja, kann ich an einen solchen Gott überhaupt noch glauben?

Ich denke an einen Menschen, der sein ganzes Leben lang immer treu seinen christlichen Glauben praktiziert hatte. Aber dann traf ihn im Alter ein Schicksalsschlag nach dem anderen, und er begann sich zu fragen: Was ist das für ein Gott, dem ich mein ganzes Leben gewidmet habe? Ich dachte immer, er ist ein freundlicher, liebevoller Gott – aber wie soll ich solche Vorstellungen mit dem vereinbaren, was ich jetzt in meinem Leben erfahre?

Schwestern und Brüder: Der Gott, den wir in solchen Lebenssituationen erfahren mögen, der uns so fremd, so unverständlich bleibt, so erschreckend anders, als wir es uns wünschen – ja, dieser Gott ist in der Tat ein ganz anderer als der, der sein Bodenpersonal damit beauftragt, sich für die Einhaltung von Tempolimits auf deutschen Straßen einzusetzen. Der ist eben nicht bloß ein Motivator für den Einsatz von Menschen zur Rettung der Welt. Wer diesem ganz anderen, so wenig harmlosen Gott begegnet, der wird anfangen, ganz andere Fragen zu stellen, für den wird die Frage danach, wie ich mit diesem erschreckenden Gott in meinem Leben klarkommen kann, zu der entscheidenden Frage des Lebens schlechthin werden.


II.

Was veranlasste den Propheten Jeremia zu solch starken Worten gegenüber Gott? Er hatte erfahren, dass Gott ihn mit einer wenig erfreulichen Botschaft beauftragt hatte, mit der Botschaft von Gottes Strafgericht über sein Volk, das sich von ihm abgewandt hatte. Und er hatte erfahren, wie übel die Menschen in seiner Umgebung ihm diese Verkündigung genommen hatten, wie sie alle Tricks anwendeten, um ihn, Jeremia, fertigzumachen, ja auszuschalten: Sie machten sich öffentlich über ihn lustig, verspotteten ihn und seine Botschaft, ahmten ihn nach, versuchten, ihn bei irgendeinem Fehltritt stellen und damit unter dem Schein des Rechts aus dem Verkehr ziehen zu können. Jeremia ging das so nahe, dass er ernsthaft versucht hatte, sich dem zu entziehen, dass er ernsthaft versucht hatte, zu schweigen, nicht länger die Botschaft zu verkündigen, mit der Gott ihn beauftragt hatte. Doch es dauerte nicht lange, dann merkte er: Es geht nicht, ich kann nicht den Mund halten, ich muss erzählen, was Gott mir aufgetragen hat, sonst ginge ich erst recht kaputt, wenn ich’s nicht täte.

In den meisten christlichen Kirchen in unserem Land klingeln zurzeit die Alarmglocken: Sie finden einfach nicht mehr genügend junge Menschen, die Pastoren werden wollen. Als Erklärung hierfür wird in den Kirchen angegeben, der Beruf des Pastors sei heute nicht mehr attraktiv genug; Arbeitsaufwand und Bezahlung stünden in keinem angemessenen Verhältnis. Und so versuchen manche Kirchen jetzt schon, für die Ausbildung zum Pfarrer zu werben – immer wieder mit dem Hinweis darauf, was für ein spannender und abwechslungsreicher Beruf dies doch sei. Doch solche Werbeversuche dürften wohl kläglich scheitern, wenn überhaupt nicht mehr klar und bewusst ist, was es eigentlich heißt, Bote Gottes zu sein:

Bote Gottes zu sein, bedeutet, von Gott selber gerufen worden zu sein, dass man schließlich gar nicht mehr anders kann, als diesem Ruf zu folgen, sich von Gott mit Beschlag belegen zu lassen. Diesen Ruf Gottes erfahren Menschen immer wieder in ganz unterschiedlicher Weise; aber er wird eben für alle hörbar und vernehmbar, wenn einem Menschen dann die Hände aufgelegt werden und er im Namen Gottes als Bote Gottes berufen, gesegnet und gesendet wird. Und ab diesem Zeitpunkt gilt, was der Apostel Paulus selber in Bezug auf seine Person so beschrieben hat: Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht predigte! Da gilt dann in der Tat nur noch: Das weiterzusagen, womit man als Bote beauftragt wird.

Sagt sich so leicht – und dann erlebe ich es auch bei mir selber, wie groß die Gefahr ist, als Bote Gottes doch immer wieder einzuknicken, sich doch von dem beeindrucken zu lassen, was die Zuhörer, was die Gemeindeglieder gerne hören möchten und was nicht. Ja, es fällt uns Boten Gottes gerade heute immer wieder so schwer, Dinge auszusprechen, mit denen wir uns nicht beliebt machen, über die sich andere vielleicht kräftig aufregen, ja, die sie dazu veranlassen, gegen uns vorzugehen, unsere Zukunft im Dienst eines Boten Gottes in Frage zu stellen. Ich erlebe dies hier in meiner Arbeit ja nur in ganz kleinem Stil. Aber ich nehme auch wahr, wie leicht auch Bischöfe und andere Kirchenführer hier in unserem Land in Gefahr geraten, sich mehr am Applaus der Menge zu orientieren als an dem Wort, mit dem sie von Gott selbst beauftragt worden sind. Wie gut, dass uns der Jeremia hier den Rücken stärkt und uns deutlich macht, dass Bote Gottes zu sein niemals harmlos ist, ja dass man diesen Dienst nur dann wahrnehmen kann, wenn man weiß, dass man sich in diesem Dienst nicht vor den Menschen, sondern allein vor Gott zu verantworten hat.

III.

Ja, das Wort, das Gott dem Jeremia aufträgt, ist alles andere als harmlos. Das Gericht Gottes muss er predigen – und wer macht das schon gerne?

Vor einigen Jahren gab es in der römisch-katholischen Kirche hier in Deutschland eine Bewegung, die die bisherige Verkündigung der Kirche massiv kritisierte. Ihr Motto lautete: „Frohbotschaft statt Drohbotschaft“. Das klingt ja auch sehr nett. Aber so einfach kann man es sich eben nicht machen. Die frohe Botschaft können wir nur recht erkennen, wenn wir uns zuvor auch mit der Botschaft von Gottes kommendem Gericht auseinandergesetzt haben. Die frohe Botschaft, die wir zu verkündigen haben, lautet ja nicht: Gott ist einfach nur lieb und harmlos, er hat für alles Verständnis, was wir tun, und ist insgesamt ein ganz prima Typ. Mit der Verkündigung eines solch pflegeleichten Gottes macht sich die Kirche früher oder später selber überflüssig.

Nein, Gottes Wort ist nicht harmlos. Es verkündigt uns, dass wir den ewigen Tod verdient haben, es verkündigt uns, dass wir selber keine Möglichkeit haben, uns selber zu retten. Und nur da wo das Gesetz Gottes in seiner ganzen Ernsthaftigkeit verkündigt wird, beginnt dann auch die frohe Botschaft zu leuchten, die frohe Botschaft, die nicht darin besteht, dass es uns mit der Einführung eines Tempolimits gelingen wird, die Welt zu retten, sondern die darin besteht, dass dieser für uns oft so unbegreifliche Gott uns selber retten kann und retten wird.

Schwestern und Brüder: Wenn die Geschichte mit Jeremia geendet hätte, dann bliebe auch uns am Ende wohl nichts anderes übrig, als den Tag unserer Geburt zu verfluchen. Doch die Geschichte ist weitergegangen: Gott hat seinen eigenen Sohn zu den Menschen gesandt, er, in dem das Wort und der Gesandte Gottes in Person eins sind. Ja, auch Jesus hat den Widerstand gegen seine Person, gegen sein Wort hautnah miterlebt, hat um seines Auftrags willen gelitten, bis dahin, dass er am Kreuz gerufen hat: Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Keine harmlose Gotteserfahrung, sondern der Blick in einen Abgrund, den wir nicht einmal erahnen können, in einen Abgrund, den Christus selber durch seinen Tod am Kreuz für uns zugeschüttet hat.

Auf diesen Christus weisen die Worte des Jeremia, die wir eben gehört haben, auf diesen Christus, auf den wir blicken sollen und dürfen, wenn auch wir Gott so gar nicht verstehen, auf diesen Christus, der auch seinen Boten heute Widerstände nicht erspart, wenn sie denn sein Wort verkündigen, auf diesen Jesus Christus weisen, in dem das Wort Gottes selber Fleisch geworden ist. Diesen Christus mit ganzem Ernst zu verkündigen – das ist der Auftrag der Kirche, ja, diesen Christus gerade den Menschen nahezubringen, die wie Jeremia mit ihrer Lebensgeschichte mit Gott nicht mehr klarkommen. In Christus erfahren wir, dass Gott in der Tat mit uns, ja für uns ist – trotz aller gegenteiligen Erfahrungen. Dieser Christus gibt uns immer wieder Rückgrat in der Verkündigung seines Wortes, will uns davor bewahren, sein Wort zu verharmlosen. Denn in diesem Wort geht es um unsere ewige Zukunft. Und die hängt wahrlich nicht davon ab, wie schnell wir auf der Autobahn fahren. Amen.

Zurück