Jeremia 31,31-34 | Exaudi | Pfr. Dr. Martens

In dieser vergangenen Woche hat das Bundesverfassungsgericht einen Beschluss veröffentlicht, mit dem es die Verfassungsbeschwerde eines christlichen iranischen Asylbewerbers gegen die Ablehnung seines Asylantrags durch ein Oberverwaltungsgericht zurückwies. Wirklich Erstaunliches ist in diesem Beschluss zu lesen. Es heißt dort: „Die Verwaltungsgerichte müssen und dürfen lediglich der Stellung des Schutzsuchenden zu seinem Glauben nachgehen, nämlich der Intensität und Bedeutung der von ihm selbst empfundenen Verbindlichkeit von Glaubensgeboten für die eigene religiöse Identität.“ Mit größter Selbstverständlichkeit erklärt das Bundesverfassungsgericht hier, es ginge im christlichen Glauben um die „Verbindlichkeit von Glaubensgeboten“ beziehungsweise darum, wie intensiv ein Mensch diese Verbindlichkeit von Glaubensgeboten für sich empfindet. Angesichts des religiösen Analphabetentums, das sich offenkundig mittlerweile auch schon im Bundesverfassungsgericht ausgebreitet hat, kann man vermutlich schon froh sein, dass das Gericht darauf verzichtet hat, von den 5 Säulen des christlichen Glaubens zu sprechen, die ein Christ zu befolgen hat.

Ja, das steckt offenkundig tief im Denken von uns Menschen drin, erst recht von denen, die vom christlichen Glauben keine Ahnung haben, dass der Glaube eines Menschen darin besteht, dass er sich darum bemüht, bestimmte Gebote einzuhalten, um auf diese Art und Weise in den Himmel zu kommen. An diesem Punkt treffen sich dann der Islam und die deutsche Vulgärreligiosität, die sich darauf verlässt, dass der liebe Gott mit einem schon ganz zufrieden sein wird, wenn man sich darum bemüht hat, in seinem Leben ein ganz anständiger Mensch zu sein.

Hochaktuell ist gerade auch auf diesem Hintergrund, was wir in der alttestamentlichen Lesung des heutigen Sonntags Exaudi, zugleich der Predigtlesung dieses Sonntags, vernehmen können. Da berichtet nämlich kein Geringerer als der lebendige Gott, der Gott Israels davon, was für Erfahrungen er mit dem Religionsmodell „Verbindliche Glaubensgebote“ mit seinem eigenen Volk Israel gemacht hatte.

Dabei war Gott selber die Geschichte noch nicht einmal so plump angegangen wie das Bundesverfassungsgericht. Er hatte dem Volk Israel nicht einfach nur irgendwelche Glaubensgebote vorgesetzt und dann kontrolliert, ob die Israeliten diese auch mit der nötigen Intensität als für sich verbindlich ansehen würden. Sondern er hatte sein Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten gerettet, ohne jede Vorbedingung, hatte ihm die Freiheit geschenkt und ihm dann am Berg Sinai das wunderbare Angebot gemacht, von nun an für immer mit ihm zusammenzuleben – ein so verlockendes Angebot, dass Israel gar nicht anders konnte, als es natürlich anzunehmen. Und so hatte Gott mit seinem Volk Israel dort am Sinai einen Bund geschlossen, hatte dem Volk Israel damit eine wunderbare Zukunft ermöglicht. Doch sehr schnell stellte sich noch am Berg Sinai selber heraus, dass dieser Bund einen eindeutigen Schwachpunkt, ja geradezu eine Sollbruchstelle hatte – und dieser Schwachpunkt waren eben die Glaubensgebote, von deren Befolgung Gott in diesem Bund am Sinai den Fortbestand des Bundes abhängig gemacht hatte. Diese Glaubensgebote selber waren gut, sehr gut sogar, ganz gewiss. Aber das Volk Israel hielt sich immer wieder nicht an sie und stellte so die Grundlagen des Bundes, den Gott mit seinem Volk geschlossen hatte, immer wieder in Frage.

Und nun hören wir hier in den Worten aus dem Buch des Propheten Jeremia eine geradezu atemberaubende Botschaft, hören Worte, die zu den großartigsten zählen, die wir im ganzen Alten Testament vernehmen können: Gott selbst stellt das Modell eines Bundes, der auf der Befolgung von Glaubensgeboten beruht, grundlegend in Frage, ja, mehr noch: erklärt es schlichtweg für gescheitert. Während unser Bundesverfassungsgericht es immer noch für eine Aufgabe der Verwaltungsgerichte hält, zu überprüfen, wie intensiv Christen sich an ihre Glaubensgebote halten, hat Gott selber schon mehr als 2500 Jahre zuvor deutlich ausgesprochen, dass das mit den Glaubensgeboten einfach nicht klappt. Nein, da hilft kein Update mehr, kein Relaunch, der das Halten der Gebote vielleicht ein wenig attraktiver erscheinen lässt. Das Modell als solches funktioniert nicht, weil die, die die Glaubensgebote halten sollten, an eben diesen Geboten immer wieder scheitern und schlichtweg versagen.

Und so kündigt Gott selber hier durch den Propheten Jeremia an, die Beziehung zu einem Volk auf eine vollkommen neue Grundlage zu stellen, einen vollkommen neuen Bund zu schaffen. Ich wiederhole es noch einmal: Dieser neue Bund ist kein Update des Alten Bundes, sondern etwas völlig Neues, sozusagen ein völlig neues Betriebssystem. Gewiss, das Ziel dieses Bundes bleibt dasselbe: Gott möchte mit seinem Volk auf Dauer zusammenleben. Aber damit das funktioniert, entfernt Gott allen Ernstes aus diesem Bund die große Schwachstelle, nämlich das Halten der Glaubensgebote als Bedingung für den Fortbestand des Bundes. Was für das Bundesverfassungsgericht offenbar das Entscheidende im Glauben ist, das ersetzt Gott durch eine ganz neue Grundlage für den Bund, für den Glauben: „Ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.“ Gott macht den Fortbestand dieses neuen Bundes nicht mehr vom Handeln der Menschen abhängig, sondern einzig und allein von sich selber, von seinem eigenen Handeln. Der neue Bund hängt nicht mehr davon ab, ob die Menschen, die zu Gottes Volk gehören, Gebote halten, sondern der neue Bund hängt nur noch davon ab, dass Gott sich selber treu bleibt in seinem Willen, den Menschen ihre Sünden zu vergeben.

Ja, das bedeutet nicht weniger als dies: Gott schafft einen neuen Bund, der nicht mehr gebrochen werden kann, weil sein Fortbestand nur noch an Gott hängt und nicht an uns Menschen. Was für eine großartige Botschaft, von der man nur hoffen kann, dass sie irgendwann auch einmal dem Bundesverfassungsgericht zu Ohren kommt! Gott selber schafft sozusagen das Modell „Religion“ ab und ersetzt es durch eine ganz neue Form der Beziehung zwischen sich und den Menschen, die nicht mehr durch die Nichteinhaltung von Glaubensgeboten gefährdet werden kann.

Wenn man Menschen von diesem radikalen Neuanfang, von dieser radikalen Abschaffung der Religion durch Gott ersetzt, kommt immer wieder dieselbe Reaktion: Aber wenn wir nicht mehr die Gebote einhalten müssen, um am Ende für immer mit Gott zu leben, dann kann ich ja in meinem Leben machen, was ich will, dann kann ich ja leben wie das letzte Schwein – Gott vergibt am Ende ja doch sowieso! Doch die, die so argumentieren, verstehen eben nicht, was für eine Kraft dieser neue Bund hat, den Gott mit uns schließt, was für eine Kraft, die die Herzen von uns Menschen verändert! Wenn Gott uns verspricht, dass er seinen Bund mit uns hält, auch wenn wir untreu werden, dann bewegt er damit unser Herz so sehr, dass wir anders leben, dass wir gerne so leben, wie Gott es will, oder, mit den Worten aus dem Buch des Propheten Jeremia: „Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben.“ Gott spricht es deutlich aus: Menschen verändert man nicht durch Gesetze, sondern allein durch die Liebe, die allein das Herz des Menschen zu erreichen vermag. Genau das ist eine Grunderfahrung, die so viele unserer neuen Gemeindeglieder gemacht haben: Sie kamen aus einer Religion, in der das Verhältnis zu Gott durch Gesetze geregelt wurde, und erfuhren dann, wie viel stärker die Kraft der Liebe Gottes ist, die unser Leben wirklich zu verändern vermag, die uns wirklich anders leben lässt, als wenn wir nur durch Gesetze zu etwas gezwungen würden.

Hier beim Propheten Jeremia kündigt Gott diesen neuen Bund erst an. Doch wir, die wir diese Worte heute lesen, wissen darum, dass Gott seine Ankündigung wahrgemacht hat, dass er den neuen Bund tatsächlich gestiftet hat, als Christus in der Nacht, da er verraten ward, den Kelch nahm und seinen Jüngern gab und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut. Da beginnt er, der neue Bund, gegründet in dem Tod unseres Herrn Jesus Christus. Und an diesem Bund hast auch du persönlich Anteil bekommen in deiner Heiligen Taufe. Da hat Gott mit dir seinen Bund geschlossen, der nicht abhängt davon, wie stark dein Glaube ist, wie intensiv du ihn fühlst oder lebst, wie gut du dich als Christ verhältst. Dieser Bund, den Gott mit dir in der Taufe geschlossen hat, der hat Bestand, auch wenn dein Glaube mal ganz wacklig ist, ja, auch, wenn du in deinem Leben vielleicht fürchterlich versagt hast. Nein, es geht in deinem Glauben nicht um die Einhaltung von Glaubensgeboten. Es geht allein um Gottes Vergebung, um seine Treue zu dir, wenn du an den Geboten gescheitert bist. Das allein zählt; das allein hält und trägt dich! Wie gut, dass das Bundesverfassungsgericht an diesem Punkt ganz und gar unrecht hat! Amen.

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