Jesaja 1,10-17 | Buss- und Bettag | Pfr. Dr. Martens
Heute feiern wir ein etwas zweifelhaftes Jubiläum: Genau vor 25 Jahren wurde der Buß- und Bettag als staatlicher Feiertag in Deutschland, vom Freistaat Sachsen einmal abgesehen, abgeschafft, um damit die Einführung der Pflegeversicherung zu finanzieren. Dass es gerade den Buß- und Bettag erwischte, war dabei kein Zufall, denn den Sinn dieses Tages verstanden schon lange zuvor nur noch die Wenigsten in unserem Land.
Buß- und Bettage stammen aus einer Zeit, in der Kirche und Staat in der Bevölkerung noch relativ deckungsgleich waren, in der Fürsten und Könige noch die Bevölkerung zu Buße und Gebet aufrufen konnten, wenn das Land sich in einer schweren Krisen- oder Bedrohungslage befand. Im Bereich der evangelischen Kirche wurde im Jahr 1532 zum ersten Mal ein Buß- und Bettag gehalten – interessanterweise angesichts der drohenden Türkengefahr und der Bedrohung Deutschlands durch islamische Heere. Dass die Bevölkerung eines ganzen Landes innehält, über eigenes Versagen nachdenkt und Gott um Erbarmen, um Abwendung einer wohlverdienten Strafe anfleht – diese Zeiten sind allerdings mittlerweile schon längst vorbei. Nicht einmal in den Kirchen selber kommt man noch auf die Idee, an diesem Buß- und Bettag in diesem Jahr die Corona-Pandemie als Bußruf Gottes an unser Land, an die Kirche allzumal, anzusehen, geschweige denn dass unser ganzes Volk an diesem Tag auf die Knie sinken würde, um Gott um Erbarmen anzuflehen. Ganz im Gegenteil kommt der Bundestag gerade jetzt in diesen Stunden zusammen, um ein Gesetz zu verabschieden, in dem die Möglichkeit der Untersagung von Gottesdiensten als Maßnahme zum Infektionsschutz einfach mal zwischen die Schließung von Restaurants und das Verbot von Alkoholausschank eingebaut wird und in dem das Verbot der Sakramentenspendung sogar ausdrücklich noch nicht einmal als Einschränkung der Religionsfreiheit dargestellt wird. Religion ist aus der Sicht unseres Staates etwas so Privates geworden, dass selbst und gerade die Austeilung des Altarsakraments nur noch als eine Art kirchlicher Folklore verstanden wird, auf die die Kirchen ja wohl ganz gut auch eine Weile verzichten können. Und die Kirchen – sie schweigen dazu, wie der Staat dekretiert, welche Glaubenspraxis denn nun noch vom Grundgesetz geschützt ist und welche nicht. Der Buß- und Bettag 2020 – ein Tag der öffentlichen Selbstabschaffung der Kirchen.
In vergangenen Zeiten nutzten die Kirchen den Buß- und Bettag immer wieder dazu, mitunter recht deutlich und lautstark auf Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft hinzuweisen. Doch wenn wir uns die Predigtlesung des heutigen Buß- und Bettags anhören, dann ist es wohl ganz sinnvoll, wenn die Kirchen sich wieder neu darauf besinnen, dass das Gericht Gottes zunächst am Hause Gottes selber beginnt, wenn sie sich zunächst einmal selber zur Buße, zur Umkehr rufen lassen.
Die Worte unserer heutigen Predigtlesung waren damals in der Tat so etwas wie eine Buß- und Bettagspredigt. Da waren die Assyrer im Jahr 701 in das kleine Restgebiet des Staates Juda einmarschiert und hatten angefangen, die Stadt Jerusalem zu belagern. Die Lage schien beinahe aussichtslos zu sein. Und in dieser Situation tritt der Prophet Jesaja auf, verkündigt keine vaterländischen Durchhalteparolen, sondern verkündigt Gottes Gericht über sein Volk, das zwar feierliche Gottesdienste im Tempel feierte und alle religiösen Feiertage genau einhielt, aber das Recht der Schwachen und Unterdrückten im Volk mit Füßen trat. Ja, so wirft es Jesaja den Bewohnern der Stadt Jerusalem an den Kopf: Solange ihr das Leben der Schwachen in eurer Mitte so gering achtet, wird Gott eure Gebete im Tempel nicht hören, ja, widern ihn eure Gottesdienste geradezu an. Nur wenn ihr umkehrt, nur wenn ihr den Schwachen und Unterdrückten in eurer Mitte zum Recht verhelft, werde auch ich mich wieder euch zuwenden.
Wenn wir in der Heiligen Schrift an verschiedenen Stellen hören, dass Gott schöne Gottesdienste abstoßend findet, dann tut uns das weh. Wir lieben doch schöne Gottesdienste und können beim besten Willen uns nicht vorstellen, dass Gott etwas gegen schöne Gottesdienste haben könnte, dass er sie als abstoßend und belastend empfinden könnte.
Doch bevor wir diese Kritik Gottes an den Gottesdiensten allzu dicht an uns heranlassen, haben wir als gute Lutheraner natürlich auch gleich schon die Lösung an der Hand, mit der wir auch die Worte unserer heutigen Predigtlesung an uns abtropfen lassen können: Ja, die Gottesdienste im Tempel, das waren doch Opfergottesdienste. Doch Opfer bringen wir in unseren Gottesdiensten gar nicht mehr dar; eben darum hat Christus doch am Kreuz von Golgatha das eine, allgenugsame Opfer seines Leibes und Blutes dargebracht, damit wir eben Gott nicht mehr mit unseren Opfern versöhnen müssen, damit wir keine Sorgen davor haben müssen, dass die Opfer, die wir Gott darbringen, nicht ausreichen oder Gott nicht gefallen könnten. Und eben darum macht die Kritik Gottes an den Opfern der Israeliten doch nur dies eine deutlich, dass nicht wir etwas für Gott tun können, sondern Gott alles für uns getan hat und tut, ja, auch heute in diesem Gottesdienst, in dem doch nicht wir ein Opfer für Gott darbringen, sondern Gott uns mit dem Opfer beschenkt, das Christus selbst auf Golgatha dargebracht hat, mit seinem Leib und Blut.
Schwestern und Brüder: Das ist alles auch ganz richtig, und von daher ist es auch angemessen, dass wir heute ausnahmsweise an diesem Buß- und Bettag in dieser Corona-Zeit, wie in allen unseren sonstigen Gottesdiensten, das Heilige Mahl feiern und wieder neu erfahren, wie wir ganz und gar von dem Opfer Christi und nicht von unseren Opfern leben.
Und doch können wir uns damit die Worte aus dem Buch des Propheten Jesaja nicht so einfach vom Hals halten, gerade an diesem Buß- und Bettag. Es sind Worte, die nicht nur den Israeliten, sondern auch der Kirche heute gelten, wenn sie sich nur noch mit feierlichen Gottesdiensten befasst und dazu schweigt, wenn das Recht der Unterdrückten mit Füßen getreten wird, wenn sie liturgisch ganz korrekt handelt und zugleich dabei tatenlos zusieht, wie ihre eigenen Glieder Deportationsbescheide in den Tod erhalten.
Ja, ich sage es ganz offen, dass mir dies immer mehr auch im Leben meiner eigenen Kirche fraglicher erscheint: Da wird Kirchenmusik auf höchstem Niveau gepflegt, während man vor den Verzweiflungsschreien derer die Ohren verschließt, denen der deutsche Staat das Recht auf die Teilnahme am Sakrament bei einer Deportation in ihr Heimatland verweigert. Da ergötzt man sich in diesen Corona-Zeiten an gelungenen Online-Präsentationen im Internet, während diejenigen, die angesichts des Unrechts, das ihnen in diesem Staat widerfährt, nur noch erstarren und verstummen, ausgeblendet bleiben. Kirchliches Leben, das sich nur noch um sich selber dreht, während diejenigen, die es wagen, auf das Unrecht, das den eigenen Glaubensgeschwistern in diesem Land widerfährt, hinzuweisen, mit Verleumdungen zur Strecke gebracht werden. Glauben wir etwa, dass die Worte unserer heutigen Predigtlesung nicht auch auf heutige kirchliche Betriebsamkeit zutreffen können: „Wenn ihr auch viel betet, höre ich euch doch nicht!“?
Ja, ein Bußruf an die Kirche, zu der doch auch wir selber gehören, sind die Worte unserer heutigen Predigtlesung, ein Bußruf, den wir uns nicht einfach vom Halse halten können. Gottesdienst ohne Hinwendung zu den geringsten Brüdern und Schwestern unseres Herrn – er ist und bleibt für Gott ein Gräuel. „Lernt Gutes tun!“ – So ruft es Jesaja den Bewohnern Jerusalems damals zu. Ja, zum Lernen ruft er auch uns, dass wir immer wieder neu unsere Augen und Ohren öffnen für die Not der Glaubensgeschwister auch in unserer Mitte, dass wir verstehen, was sie umtreibt, was sie verzweifeln lässt. Und dann ist es gut und richtig, wenn wir uns gerade von diesen verzweifelten Glaubensgeschwistern wieder neu dazu anleiten lassen, unsere einzige Hoffnung auf ihn, Jesus Christus, zu setzen, auf ihn, der in der Tat für unsere Schuld und für unser Versagen gestorben ist und der uns heute begegnet – ganz gewiss mit seinem Leib und Blut im Heiligen Mahl, und doch ebenso gewiss auch in seinen geringsten Brüdern und Schwestern. „Ich bin ein Fremder gewesen – und ihr habt mich aufgenommen. Denn was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ Ja, so sieht der Gottesdienst aus, der aus Gottes Dienst an uns folgt, ein Gottesdienst, den wir hoffentlich noch häufiger begehen als nur fünfzehn Mal in der Woche! Amen.