Jesaja 11,1+2 | Christvesper II | Pfr. Dr. Martens

Die Worte aus dem 11. Kapitel des Buches des Propheten Jesaja sind uns von Kindheit an vertraut: Wir kennen sie aus den Weissagungen, die zum festen Bestandteil einer anständigen Christvesper gehören. Jedes Jahr aufs Neue hören wir sie, die Ankündigung von dem Reis aus dem Stamm Isais, und ebenso vertraut ist uns das Lied, das sich auf diese Ankündigung bezieht: „Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart.“ Da wird aus dem Reis dann die Rose, und diese Rose entspringt aus einer ganz zarten Wurzel. So schön dieses Bild auch ist – es hat allerdings nicht sehr viel zu tun mit dem, was Jesaja damals vor 2700 Jahren angekündigt hat:

Da ist nämlich nicht von einer zarten Wurzel die Rede – sondern die Wurzel ist eine Erinnerung daran, dass Gott an seinem Volk das Gericht vollziehen wird, dass von ihm, ja, auch vom Königshaus David so gut wie nichts mehr übrigbleiben wird. Der Zweig, der aus der Wurzel Frucht bringt, wächst nur deshalb aus dem Stamm, weil von diesem Stamm nur noch ein Stumpf übriggeblieben ist, weil alles, was darüber liegt, abgehauen ist. Da, und wirklich erst da, wo eigentlich alle Hoffnung verloren ist, wo alles kaputt und an sein Ende gekommen zu sein scheint – da fängt Gott noch einmal neu an, knüpft noch einmal an Früheres an, an Isai, den Vater von David, lässt noch einmal einen neuen David kommen, der noch einmal ganz anders sein wird als die Könige früherer Zeiten.

Ja, genauso ist es dann auch gekommen. Als Maria im Viehstall ihr Kind zur Welt brachte, regierte kein Nachfolger des Königs David in Israel. Israel war ein besetztes Land, und der König von Roms Gnaden war ein Despot, der nun in keiner Weise dem entsprach, was sich das Volk von dem kommenden Herrscher erhoffte. Nicht mehr als eine Wurzel, ein Baumstumpf war übriggeblieben, als der kleine Jesus in eine Futterkrippe in Bethlehem gelegt wurde. Doch gerade da, wo alle Hoffnungen an ihr Ende gekommen zu sein schienen, sendet Gott seinem Volk den neuen David, beginnt er noch einmal ganz neu, wo doch scheinbar gar kein Neubeginn mehr möglich schien. Doch wenn Gott etwas in seinem Wort ankündigt, dann führt er es auch aus. Genau dies feiern wir staunend an diesem Heiligen Abend.

Der Zweig, der aus der Wurzel eines abgehauenen Baumes wieder neu zu wachsen beginnt – was für ein passendes, treffendes Bild für diese Christvesper des Jahres 2020! Da haben wir es erlebt, wie viele Wünsche und Hoffnungen in diesem Jahr auch in unserem Leben gleichsam abgehauen worden sind, wie viel von dem, was uns letztes Jahr noch selbstverständlich erschien, nun nicht mehr vorhanden ist. Ja, natürlich hat Corona dazu seinen Teil beigetragen, gerade auch hier in unserer Gemeinde, dass von unseren Erwartungen in vielem nur noch Wurzelstümpfe vorhanden sind. Ein Heiliger Abend, bei dem wir schweigen müssen, nicht selber singen dürfen, mit der Stoppuhr im Kopf, weil wir nicht länger als 40 Minuten zusammen sein dürfen – ja, was ist da nicht alles kaputtgegangen, dass wir schon froh sind, dass uns noch wenigstens Rudimente des Heiligen Abends geblieben sind. Aber es ist ja nicht nur Corona – so manches andere in unserem Leben ist in diesem Jahr auch kaputtgegangen; wir haben Enttäuschungen erlebt, schmerzliche Abschiede von Menschen, haben mit schweren Nachrichten umgehen müssen. Nein, das ist keine „Wurzel zart“ – das ist in vielem wirklich nur ein abgehauener Baumstumpf, mehr nicht.

Doch am heutigen Heiligen Abend dürfen wir wieder neu die gute Botschaft hören: Wenn auch noch so vieles in unserem Leben kaputt geht, wenn wir heute an diesem Heiligen Abend in mancherlei Hinsicht mit Rudimenten vorliebnehmen müssen, so steht Gott doch zu seinem Wort. Was er uns verspricht, das wird er auch erfüllen – auch wenn wir den Eindruck haben, dass es für uns gar nichts mehr zu hoffen gibt. Was Gott dir in deiner Taufe zugesagt hat, das bleibt, das kann auch kein Corona-Virus und keine Hiobsbotschaft dieses Jahres zerstören. Und wenn Christus seiner Kirche zugesagt hat, dass er sie selber bauen wird, dann dürfen wir darauf vertrauen, dass er auch aus den Wurzelstümpfen unseres Gemeindelebens wieder neues Leben erwachsen lassen kann. Ja, er, der es verspricht, er ist es doch selber, das Reis aus dem Stamm Isais, der Zweig aus der Wurzel. Und auch wenn die Wurzel nicht so zart war, hat das Lied eben doch recht: „Wahr‘ Mensch und wahrer Gott, hilft uns aus allem Leide, rettet von Sünd und Tod.“ Amen.

Zurück