Jesaja 40,26-31 | Quasimodogeniti | Pfr. Dr. Martens

Irgendwann geht es einfach nicht mehr weiter. Irgendwann ist man einfach nur noch platt, schafft es kaum noch, sich aufzuraffen. Das ist nun schon der sechste Sonntag, die Feiertage der Heiligen Woche gar nicht mit eingerechnet, an dem wir nicht miteinander in der Kirche Gottesdienst feiern können. Die Bundesregierung hat gerade verkündigen lassen, dass es für einen Zeitplan für den Wiederbeginn von Gottesdiensten in unserem Land noch viel zu früh ist, und selbst wenn es dann wieder losgehen sollte, werden wir uns in unserer Kirche sicher immer nur in kleinen Gruppen treffen können, vielleicht mit 10 oder 15 Leuten. Gewiss, wenn das erst einmal erlaubt ist, werde ich auch gerne 40 Gottesdienste in der Woche feiern, um wenigstens den Kern unserer Gemeinde wieder wöchentlich mit dem Sakrament versorgen zu können, um so wenigstens der dringendsten Not abhelfen zu können. Aber all das, was bisher unser Gemeindeleben prägte – die großen Gottesdienste mit Hunderten von Menschen, die gemeinsamen Mittagessen, die Konfirmanden- und Jugendfahrten, die Kinderbibelwochen, die großen Bibelstunden und Glaubenskurse, ja, einfach das enge menschliche Miteinander – all das wird es nach menschlichem Ermessen in diesem Jahr und vielleicht auch noch im nächsten Jahr nicht geben. Heute hätten wir eigentlich die Erstkommunion unserer Konfirmanden gefeiert; gestern wären sie eigentlich von ihrer Konfirmandenfreizeit zurückgekehrt. Was nun werden wird, wann ich mit 20 Konfirmanden überhaupt wieder werde Unterricht machen können – ich weiß es nicht. Irgendwann geht es einfach nicht mehr weiter. Irgendwann ist man einfach nur noch platt. Ja, ich spüre es auch an mir selber. All das, was bisher auch meine persönliche Arbeit aus gemacht hat, ist mir aus der Hand geschlagen: Die Gemeindebesuche, die persönlichen Kontakte, die vielen persönlichen Gespräche. Nichts davon ist geblieben. Meine Planungen für die nächsten Jahre – alle nur noch geeignet für die Altpapiersammlung. Gewiss, ich versuche mit anderen Möglichkeiten das Fehlen der Gottesdienste, der persönlichen Kontakte auszugleichen. Aber je länger die Zeit dauert, desto mehr merke ich, wie wenig dieser Ausgleich gelingt.

Und dabei geht es mir im Vergleich zu so vielen in der Gemeinde ja noch richtig gut. Ich habe eine richtige Wohnung, ich habe noch jedenfalls ein festes Gehalt, ich muss mir keine Sorgen machen, dass ich aus Deutschland abgeschoben werde. Vielen Gliedern unserer Gemeinde geht es noch viel, viel schlechter. Sie haben ihre Arbeit verloren, mit der sie ihre Familie in der Heimat unterstützt hatten oder die sie auch bisher vor einer Abschiebung bewahrt hatte. Sie sitzen in Mehrbettzimmern in ihren Asylbewerberheimen oder mit kleinen Kindern eingezwängt in einer kleinen Wohnung, oder sie denken daran, dass sie so voller Hoffnung Kredite aufgenommen hatten, um endlich selbstständig zu werden, und nun vor den Trümmern ihrer wirtschaftlichen Existenz stehen. Täglich habe ich auf Facebook mit Gemeindegliedern zu tun, die tief in die Depression gerutscht sind, die gerade auch in dieser vergangenen Woche versucht haben, sich das Leben zu nehmen, weil sie ihre Einsamkeit, ihre Perspektivlosigkeit einfach nicht mehr aushalten. Und die Auffangmechanismen, die es normalerweise gibt, sie sind zurzeit in vielen Fällen ausgefallen. Und dieses Elend wird uns nun von den politisch Verantwortlichen immer unverhohlener als die neue Normalität dargestellt. Doch irgendwann kann man doch einfach nicht mehr, kommt man einfach nicht mehr hoch.

Und da lesen wir nun heute die alttestamentliche Lesung zum Sonntag Quasimodogeniti, die genau an solche Menschen gerichtet ist, die nur noch platt sind, die einfach nicht mehr weiterkönnen, die nur noch verzweifelt sind. Nein, diese Leute hatten nicht einfach nur ein paar Wochen fern vom Haus Gottes in der Isolation durchhalten müssen, sondern jahrzehntelang. Was uns so lang vorkommt, war für sie kaum ein Wimpernschlag. Ja, viele Jahrzehnte war es schon her, dass sie oder in vielen Fällen auch einfach nur ihre Vorfahren aus Jerusalem nach Babylon verschleppt worden waren, nachdem die Babylonier Jerusalem erobert und zerstört hatten. Auch die Bewohner Jerusalems hatten lernen müssen, unter völlig neuen Bedingungen auch mit ihrem Glauben zurechtkommen zu müssen – ohne Tempel, ohne Priester, ohne Opfer. Ja, sie hatten sich tapfer geschlagen, hatten neue Erkennungsmerkmale ihres Glaubens in der Fremde neu schätzen gelernt, etwa die gemeinsame Einhaltung des Sabbat. Aber irgendwann war nun auch bei ihnen der Punkt gekommen, an dem sie einfach nicht mehr weiterkonnten. „Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen.“ Ja, so war es, sie konnten einfach nicht mehr. Und damit nicht genug: Ihnen drängte sich eine Frage auf, die sich auch uns in diesen Tagen und Wochen immer wieder neu stellen mag, der wir uns immer weniger entziehen können: Warum greift Gott denn nicht ein? Warum lässt er uns hier einfach so hängen? So viel haben wir gebetet – und es hat sich nichts getan und verändert. Was ist das für ein Gott, der uns all das erleben lässt, der uns hier allmählich kaputt gehen lässt und sich nicht rührt? Mit den Worten, die der Prophet hier zitiert: „Mein Weg ist dem HERRN verborgen und mein Recht geht an meinem Gott vorüber.“ Ach, liebe Israeliten, ihr sprecht uns aus der Seele, ihr könnt verstehen, wie es auch uns im Jahr 2020 hier in Berlin, hier in Deutschland geht!

Doch nun wird uns in der alttestamentlichen Lesung des heutigen Sonntags nicht einfach bloß die Klage der Israeliten geschildert. Und erst recht lautet die Botschaft dieser Lesung nicht: Schaut her, früher ist es den Leuten auch schon schlecht gegangen; wie sollte es euch da besser gehen? Sondern die Botschaft, die wir in dieser Lesung hören, lautet: Gott hört diese Klagen, Gott sieht die Not und das Leid der Israeliten – und er antwortet darauf. Die Klage der Israeliten – sie ist eingebettet in Gottes Antwort auf diese Klage. Und seine Antwort lautet gerade nicht: Stellt euch nicht so an; ich bin nun mal Gott, und ihr seid Menschen; da habt ihr zu schlucken, was ich euch schicke! Nein, ganz im Gegenteil erleben wir hier im 40. Kapitel des Jesajabuchs, wie Gott versucht, das Herz der Menschen wieder neu für sich zu gewinnen, die von ihm, Gott, so enttäuscht waren, die einfach nur kaputt waren und keine Hoffnung mehr für sich sahen. Diese Menschen will Gott trösten – und damit gelten seine Worte auch uns, dürfen auch wir uns diesen Trost Gottes gesagt sein lassen.

Der erste und wichtigste Trost besteht, wie gesagt, schon darin, dass Gott überhaupt antwortet, dass er den Israeliten deutlich macht: Eure Klage, eure Trauer, sie verschwindet nicht irgendwo in den Tiefen des Weltalls, sondern sie dringt an mein Ohr. Gott schickt den Israeliten einen Propheten, der in seinem Auftrag die Israeliten anredet, ihnen Gottes tröstliche Antwort übermittelt. Und Gott versucht darin, gleich auf doppelte Weise das Herz seines Volkes für sich zu gewinnen:

Zum einen erinnert er die Israeliten daran, dass er doch der Schöpfer des gesamten Universums ist, dass er auch alle Sterne geschaffen hat. Das war damals in der Umgebung, in der die Israeliten im Exil lebten, eine hochbrisante Aussage. Denn die Babylonier glaubten daran, dass die Sterne göttliche Wesen seien, die ihr Lebensgeschick bestimmten. Und scheinbar schienen diese Sterne ja mächtiger zu sein als der Gott Israels – schließlich hatten die Babylonier die Israeliten besiegt und den Tempel ihres Gottes zerstört. Doch nun meldet sich Gott zu Wort und sagt: Schaut her: Diese ganzen Sterne, die die Babylonier verehren – die habe ich alle geschaffen. Nein, diese Sterne bestimmen das Geschick eures Lebens nicht; das mache ich allein, ich, der ich auch noch den allerletzten Stern im Universum genau kenne.

Vielleicht erinnern sich einige von euch noch an ein schönes Kinderlied, das sie früher einmal gesungen haben und das genau diese Verse unserer heutigen Predigtlesung aufgenommen hat: „Weißt du, wie viel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt?“ „Gott der Herr hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet an der ganzen großen Zahl.“ Und am Ende des Liedes heißt es dann: „Kennt auch dich und hat dich lieb, kennt auch dich und hat dich lieb.“ Ja, genau darum geht es auch hier bei Jesaja: Gott sagt: Wenn ich alle Sterne dieses Universums kenne, dann kenne ich natürlich auch dich, dann weiß ich genau, wie es dir geht, ja, mehr noch, dann führe ich dich auch den richtigen Weg. Nein, dein Leben wird nicht von irgendeinem dunklen Schicksal bestimmt, dem du dich einfach nur beugen musst. Dein Leben wird erst recht nicht von irgendwelchen Sternzeichen bestimmt und lässt sich dann entsprechend in Horoskopen voraussagen. Nein, ich, dein Gott, führe dich, ja, ich führe dich auch durch diese Corona-Zeit.

Und dann geht Gott noch einen Schritt weiter: Er spricht die Israeliten ganz direkt auf ihre Müdigkeit, ihre Enttäuschung an, ja, auch auf ihre Enttäuschung über ihn, ihren Gott. Gott sagt: Ja, ich sehe, ihr seid müde, ihr kommt kaum noch hoch vom Boden. Doch ich, ich werde nicht müde. Ja, ich werde nicht müde, euch immer und immer wieder aufzurichten, wenn ihr selber nicht mehr weiterkommt. Ja, vertraut mir, dass ich euch nicht fallenlasse, dass ich euch nicht liegenlasse. Ja, wenn ihr mir vertraut, werdet ihr es in eurem Leben erfahren, dass ich euch Kraft schenke, die ihr ganz sicher nicht aus euch selber habt, sondern die euch von mir zukommt, dass ihr weitergehen könnt, wo ihr doch eigentlich meint, dass es gar nicht mehr geht, ja, dass ihr so manches Mal im Rückblick staunen werdet, wie ich euch Stärke geschenkt habe, die ihr euch selber eigentlich gar nicht zugetraut hättet.

Was Gott uns hier sagt, kann man nicht einfach mal unverbindlich ausprobieren. Gott spricht davon, dass diejenigen neue Kraft bekommen, die auf ihn „harren“, wie es hier so schön in der Lutherübersetzung heißt, also die, die sich gleichsam mit Geduld an ihn klammern und nicht gleich sofort Ergebnisse sehen wollen. Aber wer so an Gott festhält, auch wenn in seinem Leben alles dagegen zu sprechen scheint, der wird in der Tat die Erfahrung machen, wie Gottes Wort ihn immer wieder aufrichtet, gerade da, wo es scheinbar gar nicht mehr weiterzugehen scheint. Nein, Gott erspart es uns nicht, dass wir auch immer wieder platt auf dem Boden liegen und merken, dass wir mit unseren Kräften am Ende sind. Aber gerade dann, wenn unsere Kräfte nicht mehr weiterreichen, dann kommt der, der der Schöpfer der ganzen Welt ist, und lässt uns wieder weiter laufen, hält uns nun für die kommende Zeit auch wieder seinen besonderen Energizer vor Augen: Den Leib und das Blut seines Sohnes. Ja, die lassen uns immer wieder aufstehen. Denn mit dem Aufstehen hat er, unser Herr, Erfahrung, seit er am Ostermorgen persönlich sogar von den Toten auferstanden ist. Ja, es lohnt sich, sich auf diesen Herrn zu verlassen, seiner Kraft zu vertrauen. Denn dieser Herr, der trägt uns nicht nur durch Coronazeiten hindurch, der lässt uns schließlich sogar auf Flügeln auffahren wie ein Adler – bis in den Himmel! Amen.

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