Jesaja 52,13-53,12 | Karfreitag | Pfr. Dr. Martens

Nun gibt es schon seit drei Monaten Impfstoffe gegen das Corona-Virus – doch nach wie vor sind die allermeisten Deutschen nicht gegen das Virus geimpft worden. Quälend langsam, im Schneckentempo geht es mit dem Impfen voran. Ein echter Skandal, so rufen viele, verlangen Konsequenzen, verlangen den Rücktritt der Verantwortlichen. Ja, das ist ein Reflex, der ganz tief in uns drinsteckt: Wenn wir den Eindruck haben, dass irgendwo etwas schiefläuft, dass irgendwo etwas Schlimmes passiert, dann kommen wir damit nur dadurch klar, dass wir einen Sündenbock finden, an dem wir unsere Wut über das Geschehene auslassen können, einen Sündenbock, der die Konsequenzen für das zu tragen hat, für das er angeblich oder auch tatsächlich verantwortlich ist. Nur so können wir mit Schuld und Versagen umgehen.

Doch wenn wir uns unsere Reflexe näher anschauen, mit denen wir auf Missstände reagieren, dann mögen wir bald zu der Einsicht kommen: Sie helfen uns nicht weiter – und zwar gleich aus mehreren Gründen:

Zum einen werden wir bald feststellen, dass wir Probleme nicht dadurch lösen, dass irgendein angeblich oder tatsächlich Verantwortlicher für das Geschehene bestraft wird. Wenn ein Politiker zurücktreten muss, weil er versagt hat, mag das ja durchaus angemessen sein – nur wird dadurch in aller Regel nicht wiedergutgemacht, was er angerichtet hat. Wenn man sich, wie wir dies in den vergangenen Wochen erlebt haben, in der verständlichen Wut über den sexuellen Missbrauch von Kindern durch Geistliche der Kirche auf einen Bischof einschießt und glaubt, man könne das Problem dadurch aus der Welt schaffen, dass dieser eine Bischof nun zurücktritt, dann greift man ebenfalls viel zu kurz, würde es auch den Betroffenen wenig helfen, wenn es nun irgendeinen Wechsel in der Leitung einer Diözese gäbe. Kurzfristige Befriedigungen unseres Wunsches nach Vergeltung und Rache lösen in Wirklichkeit die Probleme nicht, deren Vorhandensein uns immer wieder so sehr wehtut.

 Zum zweiten kann es bei unserem Wunsch nach Bestrafung und Rache immer wieder passieren, dass Menschen, die in Wirklichkeit ganz unschuldig sind, für Taten bestraft werden, die sie gar nicht begangen haben, weil sie aus der Schublade nicht mehr herauskommen, in die sie einmal gesteckt worden waren. Und das ist dann ganz bitter für die Betroffenen, wenn sie am Ende dafür büßen müssen, dass die Empörung von Menschen einfach irgendeinen Blitzableiter braucht.

Und schließlich sieht die ganze Sache mit unserer Sehnsucht nach Bestrafung von Schuldigen sofort für uns völlig umgekehrt aus, wenn wir mit einem Mal selber die Beschuldigten sind, auf die mit dem Finger gezeigt wird. Da haben wir dann in unserem Leben sicher alle miteinander schon bestimmte Mechanismen entwickelt, wie wir mit solchen Situationen umgehen, wenn uns Schuld unterstellt wird, ja, wenn wir mit Versagen in unserem eigenen Leben konfrontiert werden. Da benehmen wir uns nämlich immer wieder ganz ähnlich wie so viele Politiker, auf die wir dann ganz gerne mit unserem Finger zeigen, wenn sie von den Medien bei irgendwelchen Missetaten erwischt werden: Zunächst einmal leugnen wir natürlich, dass wir etwas falsch gemacht haben, versuchen von unseren eigenen Taten abzulenken. Und wenn das nicht mehr reicht, dann zeigen wir gerne und schnell mit unserem Finger auf andere, die angeblich Schuld haben – aber doch nicht wir.  Da hat sich seit den Tagen von Adam und Eva eigentlich nicht sonderlich viel verändert.

Heute feiern wir den Karfreitag, den Tag der Kreuzigung unseres Herrn Jesus Christus. Und an diesem Tag geht es genau um diese eine Frage: Wer ist denn eigentlich schuld, wer muss denn nun bestraft werden? Eine ganz andere Antwort als die, die wir Menschen zunächst einmal immer wieder reflexhaft geben mögen, wird uns in der alttestamentlichen Lesung dieses heutigen Tages gegeben, eine Antwort, die auch uns in Staunen versetzen soll, so macht es uns der Prophet Jesaja hier deutlich.

Und diese Antwort heißt: Da übernimmt ein anderer die Verantwortung für meine Schuld und für mein Versagen – und zudem auch für alles Versagen, worüber wir selber uns in unserem Leben mächtig aufregen mögen. Da lässt sich ein anderer an meiner Statt bestrafen, damit ich frei bin, frei leben und aufatmen kann. Und dieser andere, der sich an meiner Statt bestrafen lässt, ist in Wirklichkeit ganz unschuldig und erleidet am Ende doch die Todesstrafe an unserer statt.

Wer diese Botschaft hört, bei dem mag sich die Freude darüber erst einmal sehr in Grenzen halten. Das ist doch ungerecht, einen Unschuldigen zu bestrafen! Ich habe das selber in meinem Dienst als Pastor hier und da erlebt, wie Menschen auch in unserem Land bestraft wurden, obwohl sie unschuldig waren, ja wie eine solche Bestrafung diese Menschen bis in ihr Innerstes verletzt hat. Da schreit alles in einem innerlich – und man weiß doch: Man kann diesem Opfer tiefster Ungerechtigkeit am Ende kaum helfen. Und eben dies soll nun die gute Nachricht des Karfreitags sein: Ein Unschuldiger wird bestraft, damit der Schuldige frei ausgehen kann? Das darf ja wohl nicht wahr sein!

Und doch ist es wahr, und es ist in der Tat ein Grund zur Freude und Dankbarkeit – aber einzig und allein aus diesem Grund, dass der, der sich da bestrafen lässt, diese Strafe freiwillig auf sich nimmt, dass es ein Ausdruck seiner tiefsten Liebe zu uns ist. Und zum anderen ist diese Übernahme der Strafe für uns ein Grund zur Freude und Dankbarkeit, weil wir merken: Wir selber kommen aus unserer Schuld nicht mehr heraus, wir können nicht mehr wiedergutmachen, was wir hier oder dort oder vielleicht sogar noch öfter getan haben. Diese Übernahme der Schuld ist die einzige Möglichkeit für uns, überhaupt am Leben zu bleiben.

Die Worte aus dem Buch des Propheten Jesaja, die wir eben in der alttestamentlichen Lesung des heutigen Tages vernommen haben, gehören zu den großartigsten Worten, die wir im ganzen Alten Testament finden können. Kaum an einer anderen Stelle des Alten Testaments wird uns das Geschick unseres Herrn Jesus Christus so eindrücklich vor Augen gestellt wie in diesen Versen aus dem Jesajabuch, kaum an einer anderen Stelle in der ganzen Heiligen Schrift wird uns so deutlich vor Augen gehalten, was für Konsequenzen das eigentlich für uns heute hat, dass damals vor so langer Zeit ein Mensch, der eben nicht irgendein Mensch ist, auf brutale Weise getötet worden ist.

Der, der da sein Leben als Opfer für unsere Schuld dahingibt, ist von Gott selber damit beauftragt worden, diesen Weg zu gehen, so stellt es Gott gleich zu Beginn dieses geradezu überwältigenden Liedes fest: Er ist mein Knecht. Und die Konsequenzen dessen, dass er den Auftrag hat, als Knecht Gottes zu leiden und zu sterben, die schildert Jesaja hier in aller Offenheit: „Wie sich viele über ihn entsetzten, so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch.“ Ja, er war der Allerverachtetste und Unwerteste. So weit reicht der Gehorsam dieses Knechtes, dass er es auf sich nimmt, von allen verkannt zu werden, verspottet zu werden, zu leiden, ohne dass die Menschen überhaupt zunächst verstehen, warum er dies eigentlich macht.

Ja, warum macht er es? Tatsächlich nur aus einem Grund: Er leidet an unserer statt, er nimmt auf sich, was wir verdient haben. Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Und mit uns sind jetzt nicht bloß die Glieder der Dreieinigkeits-Gemeinde in Steglitz gemeint, sondern „die Vielen“, so betont es Jesaja selber hier in diesem Lied, das er uns hier vorträgt, sehr deutlich. Mit den „Vielen“ ist gerade nicht eine exklusive Gruppe gemeint, zu der andere niemals den Zugang erlangen werden. Sondern mit den „Vielen“ ist hier bei Jesaja eine überhaupt große Schar gemeint, so dass man statt „Viele“ beinahe auch „alle“ übersetzen könnte, weil das Leiden dieses Knechtes Gottes wirklich niemanden ausschließen will: Für alle will er sterben, damit allen vonseiten Gottes Gerechtigkeit widerfährt – eine Gerechtigkeit, die uns gerade nicht vernichtet, sondern retten will.

Ach, wie würden wir selber in unserem Leben mit manch anderen Leuten anders umgehen, wenn wir uns klarmachen würden: Dieser Knecht Gottes hat auch die Schuld und das Versagen dieses anderen Menschen auf sich genommen und weggetragen. Ich kann und darf auch ihm mit Barmherzigkeit begegnen, weil die Strafe für seine Schuld doch auch auf den Schultern des Gekreuzigten liegt. Ja, ich darf eben auch mir selber mit Barmherzigkeit begegnen, weil doch auch meine Schuld und mein Versagen auf ihm liegt, auf den Schultern meines gekreuzigten Herrn Jesus Christus, dass sie mich nicht mehr zu belasten braucht. Und dann brauche ich meine eigene Schuld nicht mehr zu leugnen, brauche nicht mehr mit dem Finger auf andere zu zeigen. Er, der da am Kreuz hängt, macht es mir möglich, ohne Angst Versagen zuzugeben, Sünde zu bekennen – weil er mich doch deswegen nicht fertig macht, sondern mich wieder neu daran erinnert: Was dich in deinem Leben in dieser letzten Woche, ja vielleicht auch schon viel länger schwer belastet, das habe ich doch längst auf mich genommen. Du gehörst doch auch zu den Vielen, für die ich gestorben bin, um sie heil zu machen, um ihr Verhältnis zu Gott endgültig in Ordnung zu bringen.

Ja, dringend nötig haben wir die Botschaft des Karfreitags gerade in diesem Jahr, in dem wir erleben, wie uns die Pandemie „mütend“ macht, wie es jemand neulich so schön formuliert hat, müde und wütend zugleich, gerade in diesem Jahr, in dem so viel in Beziehungen zwischen Menschen kaputtgegangen ist und kaputtgeht, weil wir mütenden Menschen andere Meinungen als die eigene, ja uns selber immer weniger aushalten können. Das Einzige, was da noch hilft, ist der Blick auf den Gekreuzigten, auf ihn, durch dessen Wunden wir geheilt sind. Wenn wir ihn, der für uns gestorben ist, nicht hätten, dann müssten wir in der Tat verzweifeln. Doch „siehe, meinem Knecht wird’s gelingen!“ Was für eine wunderbare Botschaft in unserer heillosen Zeit! Die Strafe liegt auf ihm! Lasst sie nur da liegen und verteilt sie nicht neu! Er, der Gekreuzigte, ist doch auch deine Rettung! Amen.

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