Jesaja 58,1-9a | Estomihi | Pfr. Dr. Martens

„Ach, wenn es doch endlich alles wieder so sein könnte wie früher!“ Diese Gedanken mögen uns gerade in diesen Tagen besonders durch den Kopf gehen, an denen wir merken, dass es tatsächlich nun schon ein ganzes Jahr her ist, seit damals das Corona-Virus in Windeseile von unserem Land und von uns Besitz ergriff und alles veränderte, was wir bis dahin für normal und selbstverständlich gehalten haben. Damals Ende Februar, da hofften viele allen Ernstes darauf, dass wir bis Ostern wohl das Schlimmste überstanden haben dürften – doch dann blieben zu Ostern die Türen der Kirchen verschlossen, wurde das Unvorstellbare Wirklichkeit, dass wir die Heilige Woche und das Osterfest ohne Gottesdienste in der Kirche verbringen mussten. Dann hofften wir irgendwann darauf, dass es bis Weihnachten alles wieder gut sein würde. Doch nun ist uns mittlerweile klar, dass auch Ostern 2021 nicht so sein wird wie die Osterfeste in der Vergangenheit – und wir ahnen etwas davon, dass möglicherweise überhaupt nichts mehr in der Zukunft noch einmal so sein wird, wie wir es in der Vergangenheit erlebt haben. Die Rückkehr zu dem, was einmal war und selbstverständlich schien – sie bleibt uns wohl endgültig verschlossen. Und dabei haben wir Gott doch in unseren Gottesdiensten schon so oft um ein Ende der Corona-Pandemie angefleht – doch das scheint ja alles nichts genützt zu haben, mögen wir meinen.

In der Predigtlesung dieses heutigen Sonntags Estomihi wird uns interessanterweise eine ganz ähnliche Situation geschildert: Da hatten die Israeliten damals auch eine zutiefst traumatische Erfahrung hinter sich, im Vergleich zu der unser eines Jahr mit dem Corona-Virus tatsächlich nur eine Winzigkeit darstellt: Viele Jahrzehnte hatte das Volk Israel weit entfernt von der heiligen Stadt Jerusalem, weit entfernt vom Tempel in Babylon leben müssen. Doch dann hatte der Perserkönig Kyros Babylon erobert und den Israeliten die Rückkehr in die Heimat erlaubt. Doch in Jerusalem angekommen, stellten die Israeliten fest, dass eben nicht alles wieder wie früher wurde, dass das Leben auch nach der Rückkehr unendlich mühsamer war, als sie es sich zuvor vorgestellt hatten. Und dabei veranstalteten sie doch regelmäßig Fastentage, flehten Gott an, dass er endlich eingreifen und alles wieder zum Guten wenden möge. Doch es passierte nichts – Gott schien seine Ohren zu verstopfen.

Doch Gott hat sehr wohl sehr genau zugehört und zugeschaut. Und dann reagiert er für alle unüberhörbar, sendet seinen Propheten zu seinem Volk, dass er seinem Volk den Marsch blasen soll angesichts dessen, was Gott da gerade in Jerusalem zu sehen bekommt:

Scheinbar tut sein Volk genau das, was Gott von ihm auch erwarten konnte: Es sucht Gott täglich, es will, dass Gott seinem Volk nahe sei. Ja, das kann man sich doch eigentlich nur wünschen. Doch diese intensive Frömmigkeit ist eben nur ein Teil der Wirklichkeit, die Gott wahrnimmt:

Da veranstaltet die reiche Oberschicht der Gesellschaft feierliche Fastentage, während sie an diesen Tagen die Arbeiter weiter arbeiten lässt und sie bis zum Letzten auspresst. Da wird das Fasten von denen, die sich das Fasten leisten konnten, geradezu dramatisch zelebriert, während ihnen das Geschick derer, die in der Gesellschaft ganz unten waren, vollkommen gleichgültig war: Da konnte man inbrünstig feierliche Gebete in den Gottesdiensten gen Himmel richten, während sich zur selben Stunde der Schuldsklave, den man sich angeschafft hatte, für seinen Herrn abrackerte. Da konnte man feierliche Gottesdienste feiern – und zugleich die Augen verschließen vor dem Elend der Hungrigen, der Obdachlosen, derer, die noch nicht einmal genug besaßen, um sich normal kleiden zu können. Nein, auf solche Gottesdienste reagiert Gott in der Tat überhaupt nicht: Auf Gottesdienste, in denen die Beter nur um sich selber, um ihre eigenen Vorstellungen und Wünsche kreisten, auf Gottesdiensten, in denen die Beter meinten, Gott mit ihren Gebeten, mit ihren frommen Riten manipulieren und instrumentalisieren zu können. So lässt Gott nicht mit sich umgehen!

Und dann lässt Gott durch den Propheten seinem Volk ausrichten, was er von ihm denn stattdessen erwartet: Fasten ist in der Tat angesagt, aber nicht ein Fasten, in dem Menschen nur danach fragen, was ihnen das bringt. Sondern das Fasten, das Gott von seinem Volk erwartet, sieht so aus, dass die Leute, die andere Menschen als Schuldsklaven und damit als ihr Eigentum betrachteten, diese Menschen freilassen sollen, dass sie ihr Brot mit den Hungernden teilen, dass sie Obdachlose in ihr Haus aufnehmen sollen, dass sie nackte Menschen kleiden und sich der Not anderer Menschen nicht entziehen sollen. Dann, so kündigt es Gott seinem Volk an, wird alles nicht wieder wie früher, sondern viel besser werden, dann wird im Volk eine ganz ungeahnte Heilung einsetzen, ja, dann wird sich das auch wieder auf das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk auswirken.

Ja, hochaktuell sind diese Worte des Propheten auch für uns heute, gerade jetzt in dieser Corona-Situation. In mancher Hinsicht waren die Israeliten damals ja schon weiter als wir heute. Sie wussten: Die Probleme, die sie dort nach ihrer Rückkehr hatten, die hatten mit Gott zu tun – und wenn das Verhältnis zu Gott nicht in Ordnung kam, konnte es auch mit allem anderen nichts werden. Ihr großer Fehler war allerdings, dass sie meinten, sie könnten das Verhältnis zu Gott klären, ohne dabei darauf zu achten, wie sie mit den anderen Menschen um sich herum umgingen.

Bei uns heutzutage kommen die meisten Leute selbst in einer Corona-Krise nicht auf die Idee, dass die etwas mit Gott zu tun haben könnte, dass Gott uns in dieser Corona-Krise aufwecken und zur Umkehr zu sich rufen will. Doch das Phänomen, das der Prophet hier in unserer Predigtlesung beschreibt, das kennen wir auch: Dass eine politische Oberschicht gerne von christlich-abendländischen Werten, von einem christlichen Menschenbild spricht und sich selber auch ganz christlich vorkommen mag – dass sie dann aber ihre Christlichkeit in keiner Weise in Beziehung setzt zu dem Willen Gottes, der gerade die Armen und Schwachen und Unterdrückten betrifft.

Da las ich gerade gestern ein erschütterndes Interview mit einer Psychotherapeutin, die sich um die Kinder im Flüchtlingslager auf Lesbos kümmert: Kinder, die vollkommen traumatisiert sind, die konkrete Suizid-Sehnsüchte äußern, weil sie ihr Leben als ausweglos empfinden. Und das angeblich christliche Europa schaut weg, kümmert sich nur um sich selbst und um den eigenen Vorteil. Nein, Schuldsklaven haben wir heute nicht mehr, aber wenn ich sehe, wie unser Staat so viele unserer christlichen Schwestern und Brüder schikaniert und in Angst versetzt, dass sie kaum noch schlafen können, dann ist der Wille Gottes auch heute noch genauso aktuell wie damals vor zweieinhalbtausend Jahren: Lass los, lass ledig, gib frei! Wie soll das denn gehen, so werden schon damals die Zuhörer des Propheten zurückgefragt haben; das ist doch eine Sozialutopie, die gar nicht funktionieren kann! Doch Gott lässt an diesem Punkt nicht mit sich verhandeln – es ist sein Wille, und wer sich auf ihn beruft, der kann sich um diesen Willen Gottes einfach nicht herumdrücken.

Nein, es ist gerade nicht zu wünschen, dass in unserem Land alles wieder so wird wie vorher. Denn „wie vorher“ – das hieße ja auch, dass wir damit fortfahren, unsere Augen vor der Not der Menschen in unserem Land zu verschließen, die Gott in besonderer Weise am Herzen liegen. Nein, es soll wirklich anders werden – so ist es Gottes Wille. Und wir merken zugleich: Wir sind damit völlig überfordert, schaffen es einfach nicht, dass in unserem Land, dass in unserer Gesellschaft, ja dass sogar in unserem eigenen Herzen alles anders wird.

Die Worte des Propheten, sie mögen den Menschen damals in mancherlei Hinsicht die Augen geöffnet haben – wie uns heute auch. Doch damit ist eben nicht schon alles gut. Gott weiß, wie festgefahren auch wir in unserem Denken und Handeln immer wieder sind, wie wir tausend gute Gründe haben, eben nicht mit den Hungrigen unser Brot zu teilen, Menschen ohne Obdach bei uns aufzunehmen, wie wir tausend gute Gründe haben, uns denen zu entziehen, die auf unsere Hilfe und Liebe angewiesen sind.

Ja, da musste Gott dann tatsächlich noch mal selber ran, nicht bloß durch einen Propheten. Er selber ist in unsere Mitte gekommen, ist selber Mensch geworden, hat selber gehungert, hat selber nichts gehabt, wo er sein Haupt hinlege, hat es selber am Kreuz erfahren, was es heißt, ganz nackt und schutzlos, ja ganz verlassen zu sein. Ja, das hat Gott gemacht, um unser Verhältnis zu ihm noch einmal auf eine ganz neue Grundlage zu stellen, um damit unser Herz so zu verändern, dass uns möglich ist, was doch eigentlich menschenunmöglich erscheint: Dass wir nicht mehr nur um uns selber kreisen, dass wir nicht mehr glauben, Gott nach unseren Wünschen manipulieren zu können, sondern selber frei werden, frei für andere. Ja, Gott allein kann es erreichen, dass wir uns nicht mehr an die Vergangenheit klammern, indem er durch seine Vergebung immer wieder einen Schlussstrich zieht unter das, was war, und uns immer wieder neu nach vorne blicken lässt.

Ob und wie sich die Veränderungen, die Gott an unseren Herzen ganz persönlich vornimmt, dann auch einmal in unserer Gesellschaft auswirken werden, dass es wieder Konsens wird gerade unter denen, die für sich selber beanspruchen, christlich zu sein, dass es wieder Konsens wird, dass man Menschen nicht wie Tiere behandeln kann, dass man Menschen nicht zur Abschreckung immer weiter in Angst und Verzweiflung leben lässt, ob und wie sich das dann auch einmal in unserer Gesellschaft auswirken wird – wir wissen es nicht. Es ist zu befürchten, dass unsere Gesellschaft aus der Corona-Krise nicht gesünder, sondern kranker hervorgehen wird, dass gerade auch unter denen, die politische Verantwortung tragen, das Virus des Zynismus weiterwüten wird.

Aber bei uns selber können wir anfangen, gerade jetzt in dieser Fastenzeit, die vor uns liegt, dass wir uns in dieser Zeit nicht bloß auf uns selber, auf unsere eigene Frömmigkeit, erst recht natürlich auf unser eigenes Körpergewicht konzentrieren, sondern uns wieder neu die Augen dafür öffnen lassen, wie unser Verhältnis zu Gott und unser Verhältnis zu anderen Menschen zusammengehören. Ja, in unser Herz prägen lassen wollen wir es uns wieder neu, dass Christus, unser Herr, mit seinem Tod am Kreuz wirklich alles, ja, wirklich alles getan hat, damit unser Verhältnis zu Gott in Ordnung kommt und in Ordnung bleibt. Und dann können wir tatsächlich nur darauf hoffen, dass dann nach dieser Corona-Krise bei uns und in unserem Land wirklich nichts mehr so wird, wie es einmal war, sondern alles so neu wird, wie es nach Gottes Willen gut ist. Lass los – so ruft es Gott auch dir zu. Du verlierst nichts, denn du hast doch schon alles gewonnen – seit Christus seinen Weg ans Kreuz gegangen ist: für dich! Amen.

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