Jesaja 58,7-12 | Erntedankfest | Pfr. Dr. Martens

„How dare you?!“ – Wütend und mit Tränen in den Augen schleuderte Greta Thunberg unlängst diese Worte den anwesenden Politikern beim Klimagipfel in New York entgegen. Sie warf ihnen vor, ihr und ihrer Generation die Zukunft zu rauben, indem sie sich nicht nach dem richteten, was Greta doch längst als den einzigen Weg zur Rettung der Zukunft erkannt hatte. Ja, merkwürdig ambivalent ist die Botschaft, die Greta bei ihren Reisen durch die Welt verkündigt: Auf der einen Seite kündigt sie die Apokalypse an, spricht ganz offen aus, dass sie möchte, dass die Menschen, die ihre Botschaft hören, in Panik geraten. Die Welt – sie steht kurz vor ihrem Untergang, ist eigentlich kaum noch zu retten. Doch dann folgt die andere Seite ihrer Botschaft: Wir Menschen sind dazu in der Lage, unsere Zukunft doch noch zu retten, wir haben es selber in der Hand, unser Geschick doch noch zu wenden – wenn wir nur tun, was Greta will. Verzweiflung und Hochmut in Bezug auf unsere menschlichen Möglichkeiten – schon Martin Luther hatte sehr tiefsinnig erkannt, wie eng beides zusammengehört, und zwar als die beiden Seiten derselben Ursünde des Menschen, der sich von Gott abgewandt hat.

Die Stimmung, die damals vor zweieinhalbtausend Jahren in Israel herrschte, unterschied sich gar nicht so sehr von der Stimmung, die sich heute auch in unserem Land breitmacht: Da waren die Israeliten aus dem Exil in Babylon mit großen Hoffnungen in ihre Heimat zurückgekehrt. Doch jetzt saßen sie immer noch zwischen den Trümmern der zerstörten Stadt Jerusalem, es ging einfach nicht vorwärts – im Gegenteil: Immer deutlicher setzte sich bei ihnen die Einsicht durch, dass sie dort in Jerusalem wohl doch keine Zukunft hatten. Mit dramatischen Fastenaktionen versuchten sie, Gott dazu zu bewegen, einzugreifen, ihnen doch noch eine Zukunft zu eröffnen, die sie selber so gar nicht mehr zu erkennen vermochten.

Und in diese Stimmung hinein erhebt nun der Prophet im Auftrag Gottes die Stimme – und was er den Israeliten damals zu sagen hatte, das erweist sich auch heute, zweieinhalbtausend Jahre später, als hochaktuell.

Was unterscheidet die Propheten Greta Thunberg von dem Propheten Jesaja, der hier in unserer Predigtlesung spricht? Zunächst einmal ganz einfach dies eine, dass der Prophet Jesaja selber ganz in den Hintergrund tritt und dafür unseren Blick auf den entscheidenden Zukunftsfaktor unseres Lebens und unserer Welt lenkt, nämlich auf Gott selber.

Wo Gott nicht mehr in den Blick gerät, da pendelt der Mensch immer wieder zwischen Hochmut und Verzweiflung, so können wir es bei der Prophetin Greta Thunberg so deutlich wahrnehmen: Wenn Gott keine Rolle mehr spielt, dann muss der Mensch selber die Herkulesaufgabe übernehmen, die Welt zu retten, die eigene Zukunft zu sichern. Und der Mensch ohne Gott ist nun mal so gestrickt, dass er glaubt, er könne sich und diese Welt nur dadurch retten, dass er strikte Gesetze aufstellt und einhält. Wie absurd dieser Hochmut ist, wurde mir neulich wieder deutlich, als ein Mitglied unserer Bundesregierung allen Ernstes vor Journalisten erklärte, die nun gefassten Beschlüsse des Klimakabinetts seien dazu geeignet, den Klimawandel aufzuhalten. Ganz gleich, was man von der Effektivität dieser Beschlüsse halten mag: Die Auffassung, dass der Mensch mit seinen guten Werken den Klimawandel aufhalten kann, zeugt schon von einer gewaltigen Verblendung. Und wenn der Mensch es dann doch nicht schafft, die Rettung der Welt mit irgendwelchen mehr oder weniger effektiven Maßnahmen zu vollbringen, dann bleibt nur noch die Verzweiflung, die dann die Form der Panik oder des Fingerzeigens auf die Schuldigen annimmt.

Was ist dagegen bei Jesaja anders? Zunächst einmal dies, dass in seinen Worten deutlich wird, dass Gott der Herr der Geschichte ist und bleibt, dass nicht der Mensch sich selber rettet, sondern dass dafür immer noch Gott selber zuständig bleibt. Das bewahrt gleichermaßen vor Hochmut und Verzweiflung – und führt stattdessen zum Dank.

Erntedankfest feiern wir heute. Während man in früheren Zeiten in den Erntedankfestgottesdiensten das erleichterte Aufatmen derer hören konnte, die noch sehr existentiell darum wussten, dass ihre ganze Zukunft allein in Gottes Hand lag und es Gottes Gabe allein war, dass er sie in diesem Jahr wieder mit all dem versorgt hatte, was sie zum Leben brauchten, ist das Erntedankfest heute in unserem Land weitgehend zu einer folkloristischen Veranstaltung entartet: Aus dem Erntedankfest wird ein Herbstfest oder, wenn es hochkommt, ein Erntefest. Aber das Wort „Dank“ hat bei diesen Festen zumeist keinen Platz mehr.

Doch genau dieser Dank ist es, der den entscheidenden Unterschied zwischen der Prophetie einer Greta Thunberg und der Botschaft unseres christlichen Glaubens ausmacht: Weder Panik noch Selbstvergottung des Menschen werden am Ende helfen, die Herausforderungen zu bewältigen, vor die wir im Blick auf die Veränderungen des Klimas auf dieser Erde gestellt sind. Denn Panik und Selbstvergottung des Menschen lähmen am Ende, erweisen sich nicht als tragfähige Grundlage zum Handeln. Wenn ich dagegen wahrnehme, dass alles, was ich habe und bin, mir von Gott anvertraut ist, dann habe ich nicht nur vor diesen Gaben Respekt, sondern ich bin frei zum Handeln, weil mein Leben, meine Zukunft eben nicht an mir selber hängen. Und das wirkt sich dann auch auf unser Leben aus.

Die Botschaft, die Greta Thunberg verkündigt, ist radikaler Verzicht, ist radikales Fasten. Nun kann Fasten und Verzichten in der Tat etwas sehr Heilsames sein; davon können wir als Christen eine ganze Menge erzählen. Aber wenn Fasten und Verzicht ihren Grund nicht im Danken haben, dann werden sie sehr schnell Ich-zentriert, dann geraten dabei sehr schnell die anderen um mich herum aus dem Blick – oder ich zeige nur noch mit dem Finger auf sie, weil sie nicht so gut sind wie ich selber.

Was die Israeliten damals versuchten, erinnert mich sehr an Greta Thunberg: Sie versuchten, mit spektakulären Fastenaktionen ihre Zukunft zum Guten zu wenden. Doch Gott hält von solchen spektakulären Fastenaktionen gar nichts. Stattdessen fordert er die Israeliten hier dazu auf, aus dem Danken das Teilen erwachsen zu lassen: „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!“ So sieht Zukunftsgestaltung nach dem Willen Gottes aus.

Es ist eben sehr viel einfacher, mit einer Luxusyacht über den Atlantik zu segeln oder sich freitags zu Events zu treffen, statt in die Schule zu gehen, als ganz konkret Solidarität mit denen zu üben, die uns unmittelbar als unsere Nächsten von Gott hingestellt werden und die hier und jetzt Hilfe zum Überleben benötigen. Wenn ich mein Geld nur zur erhofften Sicherung meiner eigenen Zukunft einsetze, dann entspricht das gerade nicht dem Willen Gottes. „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!“ Nein, das ist nicht eine hübsche poetische Rede, sondern das meint Gott wirklich so. Gott hat zunächst und vor allem eine ganz andere Klimakatastrophe vor Augen als die, über die jetzt so viel in den Medien berichtet wird: Er sieht die Abkühlung des Klimas zwischen den Menschen – damals in Israel genau wie heute bei uns hier in Deutschland. Da wird in unserem Land so viel über christliche Leitkultur geredet. Aber zugleich erleben wir es hier in unserer eigenen Gemeinde mit, wie man in unserem Land Menschen unter die Hungergrenze drückt, um sie mürbe genug zu machen, dieses Land wieder zu verlassen. „Brich dem Hungrigen dein Brot!“ – Ja, da wird auch auf unsere Gemeinde in Zukunft noch eine ganz andere Aufgabe zukommen, wenn diejenigen Schwestern und Brüder, denen unser Staat die Ernsthaftigkeit ihres Glaubens abgesprochen hat, sich von dem, was der Staat ihnen noch an Unterstützung gewährt, nicht mehr ausreichend werden ernähren können. Und wenn jetzt wieder die kalte Jahreszeit naht, werden auch wir wieder vor der Herausforderung stehen, geflüchtete Menschen, die kein Obdach haben, ins Haus zu führen, weil es sonst nur so wenige tun, werden wir dies tun, auch wenn der Staat uns mit Strafen droht, wenn wir uns gerade auch an diese Worte der Heiligen Schrift halten.

„Wenn du nicht mit Fingern zeigst, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen“, so verkündigt es Jesaja hier. Auf andere mit dem Finger zu zeigen und „How dare you!“ zu rufen, ist gerade nicht der Weg, den der Prophet uns hier weist. Stattdessen sollen wir Menschen in der Not unser Herz finden lassen, wie es Jesaja hier so schön formuliert, sollen ihnen nicht nur Geld oder Nahrung in die Hand drücken, sondern ihnen an unserem Leben Anteil geben. So sieht Zukunftsgestaltung nach dem Willen Gottes aus.

Licht in der Finsternis können wir so für andere Menschen werden – nicht weil wir so gut und vollkommen wären, sondern weil wir etwas von dem Licht widerspiegeln können und dürfen, das seit unserer Taufe in unserem Leben scheint. In diesem Licht erkennen wir, dass unsere Zukunft durch Gott gesichert ist, dass uns diese Zukunft niemand rauben kann – und dass wir sie uns auch nicht mit unseren eigenen guten Werken erarbeiten müssen oder können. Weil Christus das Licht unseres Lebens ist, dürfen wir in einer Welt, die zwischen Verzweiflung und Hochmut hin- und hertaumelt, zu Oasen für Menschen werden, die bei uns Quellen des lebendigen Wassers finden, das nicht von Verunreinigung bedroht ist.

Ja, Gott sei Dank: Wir sind so reich beschenkt, dass wir auch reichlich abgeben können, dass wir auch reichlich teilen können. Gott sei Dank: Unser Leben und unsere Zukunft sind in seiner Hand. Gott sei Dank: Die Rettung dieser Welt ist schon geschehen, als Christus an dem einen entscheidenden Friday for Future, am Karfreitag, die Schuld der ganzen Welt auf sich genommen und weggetragen hat. Und damit haben wir Herz, Augen und Hände frei für die Menschen, die auf uns angewiesen sind. Und wenn wir denn auch in unserer Mitte Hungrige speisen, Menschen ohne Obdach aufnehmen und Nackte kleiden, dann dürfen wir dabei immer wieder neu die Verheißung unseres Herrn im Ohr haben: „Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ Der wiederkommende Christus, er begegnet uns schon jetzt in den geringsten Brüdern und Schwestern, die auch vor unserer Tür stehen, ja auch in unserer Gemeinde zu finden sind. Mit diesem Christus in unserer Mitte braucht uns dann auch vor der Zukunft nicht bange zu sein. Amen.

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