Jesaja 58,7-12 | Erntedankfest | Pfr. Dr. Martens

Kaputte Straßen findet man nicht nur heute an vielen Stellen hier in Berlin. Die gab es damals auch in Jerusalem. Und die Schlaglöcher in den Straßen dort gab es mittlerweile auch schon so viele Jahre. Ach, da waren die Israeliten mit so großen Erwartungen aus dem Exil in Babylon nach Jerusalem zurückgekehrt, hatten gehofft, dass nun eine wunderbare neue Zeit des Heils in Jerusalem anbrechen würde. Doch mittlerweile war längst der große Frust ausgebrochen: Da saßen die Rückkehrer aus Babylon in ihren notdürftig zusammengeflickten Häusern, aber es ging einfach nicht voran: Der Wiederaufbau der Stadt war längst ins Stocken geraten, die Stadtmauer und der Tempel waren immer noch Ruinen. Ja, mehr noch: Auf das Zusammenleben der Menschen in der Stadt hatte sich eine Art von Mehltau gelegt. Jeder war nur darauf bedacht, das zu sichern und festzuhalten, was er bekommen konnte, jeder kreiste letztlich nur um sich selbst, um seinen eigenen Vorteil. Ja, krank seid ihr, so stellt es der Prophet im Auftrag Gottes fest, dringend behandlungsbedürftig seid ihr, und wie diese Heilung möglich ist, das beschreibt er nun in den Versen der alttestamentlichen Lesung des heutigen Erntedankfestes.

Wie aktuell sind diese Worte des Propheten, wie aktuell ist auch seine Analyse dessen, was er in der Gesellschaft um sich herum erlebt, auch heute wieder: Was mich in den Diskussionen in den vergangenen Wochen und Monaten in unserem Land immer wieder besonders bewegt und auch schockiert hat, ist dieses zunehmende Verschlossensein gegenüber anderen: Was ich habe, davon soll mir kein anderer etwas wegnehmen, das verteidige ich gegen alle anderen. Erst einmal komme ich ja wohl selber dran – und wenn die anderen etwas von mir haben wollen, dann habe ich ja wohl das Recht, mich gegen sie zu verteidigen, sie von mir fernzuhalten! Klingt so vernünftig, so einleuchtend: Deutschland den Deutschen, wir zuerst! Doch der Prophet macht deutlich: Solches Denken ist krank und macht krank, den einzelnen Menschen, der so um sich selber kreist, und eine Gesellschaft insgesamt, ja, natürlich auch eine Kirche, die so denken würde, dass es in ihr zuerst und vor allem darum geht, die Bedürfnisse der eigenen Gemeindeglieder nach Ruhe und Gemütlichkeit zu befriedigen. Was so naheliegend erscheint, ist letztlich doch nur Ausdruck dessen, was die Heilige Schrift unter Sünde versteht – dieses Verkrümmtsein in sich selbst, dieses Bezogensein nur auf sich selbst, diese Angst, selber nicht genug zu bekommen. Ja, Heilung brauchen wir, braucht die Kirche, braucht unsere Gesellschaft auch heute wieder so sehr. Und so wollen wir uns gerade heute am Erntedankfest genauer anschauen, was uns Gottes Wort durch den Mund des Propheten auch heute zu sagen hat:

Viele sehr plastische und bewegende Bilder gebraucht der Prophet hier in unserer Predigtlesung – aber letztlich geht es in diesen Bildern immer wieder um das eine: Der Prophet möchte seine Zuhörer damals und uns heute gleichsam aus sich selbst herauslocken, dass sie nicht mehr um sich selber kreisen, sondern sich öffnen für das Gegenüber, dem sie sich mit diesem Bezug auf sich selbst verweigert haben. Ja, eins macht er dabei deutlich: Das können wir nicht aus uns selber, nicht mit unserem eigenen guten Willen. Da müssen wir schon aus uns selbst herausgeführt werden. Und das kann nur Gottes Wort erreichen, Gottes Wort, das uns lockt, uns öffnet, uns aus uns selber herauszieht.

Heil wirst du da, so zeigt es uns dieses Wort, wenn dein Leben ein Dialog ist, ein Dialog zuerst und vor allem zwischen Gott und dir: „Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.“ Ein Mensch, der von diesem Dialog nichts weiß, der glaubt, er verdanke alles, was er hat und ist, sich selber, der wird immer wieder von dieser Angst getrieben sein, sich und das, was er hat, zu verlieren, wenn er sich öffnet. Ja, ein Mensch, der glaubt, er verdanke alles, was er hat und ist, sich selber, der verlernt am Ende, dankbar zu sein, wahrzunehmen, was Gott ihm geschenkt hat, und immer wieder neu Gott um das zu bitten, was er braucht.

„Erntedankfest“ – so nennen wir den heutigen Tag. Mir fällt in den letzten Jahren auf, dass dieses kirchliche Fest immer mehr auch außerhalb der Kirchen gefeiert wird – aber immer öfter fällt dabei ein Teil des Namens weg: Man spricht nicht mehr vom „Erntedankfest“, sondern vom „Erntefest“. Man weiß eben nicht mehr, bei wem man sich bedanken soll, und feiert letztlich nur sich selbst. Doch heil werden wir nur in der Beziehung zu Gott, in der Beziehung, die nicht wir aufrichten können, sondern die allein Gott aufrichten kann und aufgerichtet hat durch seinen Sohn Jesus Christus, die er immer wieder zu uns aufrichtet, wenn er zu uns spricht in seinem Wort, in dem er es uns immer wieder zusagt: „Hier bin ich.“ Nein, eine Gesellschaft, in der Gott und das Gespräch mit ihm keine Rolle mehr spielen, ist keine fortschrittliche Gesellschaft, sondern eine Gesellschaft, in der Menschen letztlich immer mehr nur auf sich selbst bezogen sind. Doch Gott will uns zu Menschen machen, die für andere zu einer Quelle werden, weil in ihnen der lebt, der die Quelle des Lebens ist, er, Jesus Christus. Er nimmt uns die Angst davor, dass wir uns und das, was wir haben, verlieren, wenn wir uns nach außen öffnen, ja, er lässt uns erkennen, dass unser Leben gerade da heil und gesund wird, wo wir uns selber nach außen verströmen, weil wir in der Hingabe an andere den tiefsten Sinn unseres Lebens erkennen und erfahren.

Ja, sehr deutlich beschreibt der Prophet hier in unserer Predigtlesung, was das ganz praktisch bedeutet: „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“ Nein, das ist keine unverbindliche Meinungsäußerung eines leicht verrückten religiösen Fanatikers, sondern das ist Gottes Erwartung und Wille für uns Menschen – nicht um uns zu schikanieren, sondern weil er will, dass unser Leben heil und gesund wird.

Ich höre in den letzten Monaten so oft die Forderung nach einer Bewahrung der christlich-abendländischen Kultur, nach einer christlichen Leitkultur in unserem Land. Wohlan, dann macht es, setzt sie um, diese christliche Leitkultur, die uns der Prophet hier so einprägsam vor Augen und Ohren stellt: Teilt euer Brot mit den Hungrigen, gebt ab, statt darüber zu jammern, was andere euch von dem, was ihr habt, wegnehmen könntet! Führt die, die im Elend sind, ins Haus, statt vor dieses Haus eine Mauer zu bauen, möglichst noch mit Selbstschussanlage! Christliche Leitkultur heißt Türen auf, so zeigt es uns Gottes Wort hier, nicht Türen zu – in unserem eigenen Leben und auch im Zusammenleben der Menschen. Ja, wie gut das tut, das erleben wir doch hier in unserer Mitte. Wie arm wären wir dran, wenn wir unsere Türen vor denen verschlossen hätten, die unsere Hilfe brauchen, wenn wir uns unserem Fleisch und Blut entzogen hätten mit allen möglichen wunderbaren Gründen und Argumenten, warum das alles ja gar nicht geht, dass wir denen helfen, die doch als Gegenüber Gottes geschaffen sind wie wir auch! Nein, christlich-abendländische Kultur finden wir gerade nicht da, wo Menschen sich anderen Menschen verschließen und für geöffnete Türen nur zynische Sprüche übrig haben. Wir finden sie da, wo wir andere Menschen unser Herz finden lassen, wie es der Prophet so schön formuliert, wo wir uns dem Elend derer, die nicht so reich beschenkt sind wie wir selber, nicht entziehen.

Nein, es geht doch nicht darum, dass wir uns selber mit unseren guten Werken oder gar mit unserem sozialen Engagement den Weg in den Himmel bahnen. Unser Heil und unsere Rettung bestehen allein darin, dass Gott mit uns in Verbindung gekommen ist, dass er diese Verbindung gestiftet hat in unserer Taufe und wir in dieser Verbindung ihn, Gott, als unseren Vater anrufen können. Aber dieser Vater meint es so richtig gut mit uns. Er, der uns aus der Verkrümmung in uns selbst herausgeführt hat, möchte, dass wir dies auch im Alltag erfahren, wie gut es ist, für andere da zu sein, bewässerter Garten und Quelle für andere zu sein. Ja, vertrauen wir Gott, dass er es in seinem Wort gut mit uns meint, entdecken wir, wie unser Leben gerade da heil wird, wo wir nicht zuerst danach fragen, was für einen Vorteil wir selber in unserem Leben haben! Ja, leben wir das ganz bewusst auch als Gemeinde, lassen wir das auch unseren Ehrennamen sein, dass wir Wege in unsere Mitte ausbessern, statt Barrikaden und Grenzzäune auf diesen Wegen zu errichten! Wir sind doch unterwegs zum neuen Jerusalem, zu Gottes neuer Stadt, in der einmal endgültig die Tore niemals mehr verschlossen sein werden. Gott geb’s, dass Menschen etwas davon auch schon jetzt in unserer Gemeinde erfahren können – und gerade so selber heil werden! Amen.

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