Jesaja 66,10-14 | Laetare | Pfr. Dr. Martens

In diesen Tagen wird in unserer Gemeinde viel geweint – laut und ganz leise. Ich denke an die Gemeindeglieder, die in diesen Tagen ihre Arbeit hier in Berlin verloren haben und nun Angst haben, wieder in ihr Heim irgendwo am Ende der Welt zurückkehren zu müssen. Ich denke an die Gemeindeglieder, die sich in diesen letzten Jahren selbstständig gemacht haben und nun gerade in diesen Tagen vor den Trümmern ihrer Existenz stehen – alles umsonst, was sie sich einmal aufgebaut hatten. Und was nun? Ich denke an die Gemeindeglieder, die so lange auf einen wichtigen Termin gewartet hatten, auf eine Prüfung, auf eine Gerichtsverhandlung, und die nun auf einen neuen Termin in der Zukunft vertröstet worden sind. Ich denke an die Gemeindeglieder, die sich in der kommenden Zeit auf ein besonderes Fest gefreut haben, das nun abgesagt werden musste; ich denke an die Konfirmanden, die sich so auf ihre Reise im nächsten Monat gefreut hatten. Ich denke an die Gemeindeglieder in den Pflegeheimen und Krankenhäusern, die nun keinen Besuch mehr empfangen können, die gerade auch auf den Pastor warten – und der kann nicht zu ihnen kommen. Ich denke an die Gemeindeglieder, die ganz allein in ihren Wohnungen sitzen und nicht wissen, wie sie mit ihrer Einsamkeit womöglich über Monate hinweg klarkommen sollen. Und wir alle miteinander sind traurig an diesem Tag, dass wir diesen schönen Laetare-Sonntag nicht gemeinsam in der Kirche feiern können, im festlichen Rosa des „kleinen Osterns“, dass wir nicht gemeinsam in großer Schar miteinander „Jesu, meine Freude“ singen können, ja, mehr noch, dass wir auch an diesem Sonntag nun wieder nicht den persönlichen Zuspruch der Heiligen Absolution und die Gaben des heiligen Leibes und Blutes unseres Herrn empfangen können. Ja, da können einem schon die Tränen kommen, wenn wir an unsere leere Kirche am heutigen Sonntagmorgen denken, wenn wir daran denken, dass sich daran wohl auch in den nächsten Wochen oder sogar noch sehr viel länger nicht viel ändern wird. So vieles, was uns immer so selbstverständlich schien, erweist sich nun als überhaupt nicht selbstverständlich; gemeinsam stehen wir da und blicken, menschlich gesprochen, einer ungewissen Zukunft entgegen. Und dabei habe ich den Anlass all dessen ja noch gar nicht angesprochen: Die Gefahr, die so vielen Menschen überall auf der Welt und zunehmend auch hier in unserem Land von dem Corona-Virus droht, das Sterben von Tausenden von Menschen, von dem wir in den Medien hören und das zugleich doch immer dichter an uns heranzurücken scheint. Wann werden die ersten Glieder unserer Gemeinde davon betroffen sein – ja, wann werde ich möglicherweise auch die ersten Glieder unserer Gemeinde, die an Corona erkrankt sind, beerdigen müssen? Die Vorläufigkeit all dessen, was wir Menschen planen, ja, die Endlichkeit unseres Lebens – sie werden uns in diesen Tagen wieder ganz neu bewusst, lassen sich nur noch schwer verdrängen.

Was bleibt uns noch angesichts dieser Traurigkeit, die wir miteinander empfinden? Was bleibt uns noch außer Durchhalteparolen und Klopapierwitzen zur Aufmunterung?

Da, wo uns selber so gar nichts mehr bleibt, dürfen wir heute an diesem Sonntag Laetare die Stimme unseres Herrn hören, der zu uns spricht: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Was für ein starkes Bild, das unser Herr hier gebraucht! Es weckt Erinnerungen, die wohl die allermeisten von uns haben, Erinnerungen daran, wie wir in unserem Leben von unserer Mutter getröstet worden sind, wenn wir traurig waren, wie sie mit ihrem Trost den Schmerz weggenommen hat, der auf unserer Seele lag. Ja, so ein Tröster ist er, unser Herr.

Wie macht er das mit dem Trost? Wir können es daran erkennen, wie unser Gott damals das Volk Israel getröstet hat. Das hatte damals nämlich auch dringend Trost nötig:

Verschleppt worden waren sie damals aus Jerusalem ins Exil nach Babylon, mussten dort nun ihr Leben führen weit entfernt von der Stadt Gottes, ohne Tempel, ohne Gottesdienst im Haus Gottes, nein, nicht bloß für ein paar Wochen, sondern über viele Jahre hinweg. Im 137. Psalm schildern Israeliten sehr eindrücklich, wie ihnen dort zumute war: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. Unsere Harfen hängten wir an die Weiden im Lande. Denn dort hießen sie uns singen, die uns gefangen hielten, und in unserm Heulen fröhlich sein: ‚Singet uns ein Lied von Zion!‘ Wie könnten wir des HERRN Lied singen in fremdem Lande? Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meine Rechte vergessen. Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht gedenke, wenn ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein.“

Doch dann, nach so vielen Jahren, sendet der Herr seinen Propheten zu den Israeliten mit einer wunderbaren Botschaft: „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott!“ Israel darf wieder zurückkehren in die Heimat, darf zurückkehren in die Stadt Jerusalem. Und dann ist es endlich soweit: Die Zeit der Trauer ist vorbei, Freude ist angesagt: „Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt!“  

Äußerst plastisch beschreibt der Prophet, was die Israeliten dort in Jerusalem nun erwartet: Er vergleicht Jerusalem mit einer Mutter, die ihr Kind an ihrer Brust säugt. Ja, wie ein Säugling schmatzend vor Glück an der Brust seiner Mutter hängt, sollen nun die Israeliten ihre Freude in Jerusalem erfahren, sollen sich sättigen und tränken an den guten Gaben, die Gott in seiner Stadt für sie bereithält. Was für ein Trost, den der Prophet hier im Auftrag Gottes verkündigen darf!

Ja, genauso will Gott auch uns trösten, trösten, wie einen seine Mutter tröstet:

Zunächst einmal macht Gott uns deutlich: Ich weiß, wo ihr seid, ich weiß, wie es euch geht! Wenn ihr denkt, ich hätte euch verlassen, wenn ihr denkt, ihr wärt von mir völlig abgeschnitten, dann irrt ihr euch! Ich sehe eure Traurigkeit, ich sehe eure Hoffnungslosigkeit, ich sehe eure Einsamkeit, ich sehe, wie ihr es kaum ertragen könnt, fern von meinem Haus zu sein. Ich sehe eure Tränen, ich sehe eure Angst. Ja, ich weiß, dass ihr Trost braucht!

Und dann lässt Gott uns erfahren: Ich bin bei euch, ich spreche euch an. Wie tröstet eine Mutter ihr Kind? Vor allem dadurch, dass sie das Kind ihre Stimme hören lässt. Wenn das Kind die Stimme der Mutter hört, wird es ruhig, dann weiß es: Jetzt wird alles gut. So ist es auch mit Gott. Wie er damals zu den Israeliten im Exil in Babylon durch seinen Propheten geredet hat, so spricht er heute an diesem Sonntag Laetare zu uns in seinem Wort, nein, eben nicht bloß im Kirchgebäude, sondern auch hier und jetzt bei dir zu Hause. Das Wort, das du jetzt hörst und liest, ist das Wort deines Herrn Jesus Christus, der dich trösten will, wie einen seine Mutter tröstet. Er sagt zu dir: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ Er sagt zu dir: Du bist für mich unendlich wichtig, so wichtig, dass ich für dich mein Leben in den Tod gegeben habe am Kreuz, damit das, was du jetzt in deinem Leben erfährst, nicht das Letzte ist, sondern gerade erst der Anfang eines Lebens, das nie mehr enden wird! Er sagt zu dir: Ich weiß, wie es dir jetzt geht. Ich habe das selber erfahren, was es heißt, traurig zu sein, was es heißt, einsam zu sein, ja selbst, was es heißt, dem Tod entgegenzugehen. Ich weiß das alles – und ich bin jetzt bei dir, lasse dich nicht allein auf deinem Weg, ganz gleich, was jetzt auch noch vor dir liegen mag.

Und dann – ach, dann, Schwestern und Brüder, hätte ich so gerne an dieser Stelle heute darüber geredet, wie Gott uns im Gottesdienst tröstet, wie er damals die Israeliten in Jerusalem hat seinen Trost hat erfahren lassen. Ich hätte so gerne darüber geredet, wie unser Herr Jesus Christus auch uns ganz leiblich tröstet, indem er uns in der Heiligen Absolution die Hand auflegt und uns die Vergebung der Sünden zuspricht, indem er uns seinen Leib und sein Blut mit unserem Mund empfangen lässt, uns leibhaft die ganze Fülle seines Trostes erfahren lässt. Ich hätte euch so gerne dazu eingeladen, diesen leiblichen Trost heute in vollen Zügen an unserem Altar zu genießen, uns zu erfreuen an der vollen Mutterbrust der heiligen Mutter Kirche, die so viel geistliche Nahrung für uns bereithält, ja, die uns auf ihrem Schoß trägt und ruhen lässt. Doch noch sind wir im Exil, noch mag es uns schwerfallen, schon in Freude auszubrechen, in Vorfreude auf das, was uns wieder von Neuem erwartet. Und dennoch will Gott uns in seinem Wort schon heute das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen, will in uns die Sehnsucht nach seinen Heiligen Sakramenten immer weiter stärken, dass wir ja nie mehr auf die Idee kommen, von uns aus freiwillig auf sie verzichten zu wollen. Ja, stärken will Gott uns schon heute mit seinem Wort in der Vorfreude auf das ganz große Fest, das uns am Ziel unseres Lebens erwartet, wenn wir einmal endgültig alle Sorgen und Ängste, alle Krankheiten und Tränen, ja alles Leid hinter uns gelassen haben werden bei dem großen Festmahl in seinem Reich, an dem wir uns einmal ohne Ende sättigen werden, an dem unsere Freude einmal kein Ende mehr finden wird.

Laetare – auf Deutsch: Freue dich! Ja, dazu will Christus uns tatsächlich auch heute, an diesem Sonntag im Exil, ermuntern. Denn er, der sich von keiner Ausgangssperre davon abhalten lässt, heute in unsere Wohnungen zu kommen, er geht mit uns durch diese neue Woche. Und wir tun gut daran, seinen Ruf zur Freude aufzugreifen und an jedem Tag dieser Woche alle sechs Strophen des Wochenliedes zu singen: Jesu, meine Freude! (ELKG 293) Ja, meditiert dieses Lied auf dem Hintergrund von Corona jeden Tag dieser Woche einmal durch! Es passt doch so genau zu dem, was wir gerade erfahren! Ja, dennoch bleibst du auch im Leide Jesu meine Freude! Was für ein Trost! Amen.

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