Johannes 6,37-40 | Mittwoch nach dem 3. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens
Im Augenblick wird in unserem Land überall über ein Wort besonders diskutiert: über das Wort „Zurückweisung“. „Zurückgewiesen“ werden sollen in Zukunft an den deutschen Außengrenzen nicht nur diejenigen, die mit einer Einreisesperre belegt sind, sondern letztlich überhaupt alle Flüchtlinge, weil sie ja bereits zuvor in einem anderen europäischen Land waren. „Zurückweisung“ – das Wort klingt gut in den Ohren der Mehrheit der deutschen Bevölkerung, in der sich die Stimmung gegenüber Flüchtlingen in kurzer Zeit in so erschreckender Weise verändert hat: Flüchtlinge werden jetzt nur noch als Bedrohung, als Invasoren wahrgenommen, gegen die man sich mit allen Mitteln zur Wehr setzen muss. Unsere christlichen Brüder und Schwestern bekommen diese feindselige Stimmung in besonderer Weise zu spüren.
„Zurückweisung“ – auch mir selber bleiben solche Erfahrungen nicht erspart. Fast jeden Tag kommen Menschen zu mir, bitten mich darum, sie bei uns ins Kirchenasyl aufzunehmen, weil ihnen die Abschiebung in ein Land droht, in dem sie auf der Straße schlafen müssen oder von dem aus sie gleich in ihre muslimische Heimat zurückgeschickt werden. Und ich kann sie nicht alle nehmen, so gerne ich es auch täte, weil wir einfach nicht den Platz und die Möglichkeiten haben, weil auch unsere Kräfte begrenzt sind, weil auch wir nicht mehr gegen den Unterbietungswettbewerb in der Behandlung von Flüchtlingen hier in Europa ankommen. Und so bleibt auch mir nichts anderes übrig, als immer wieder zurückzuweisen – nicht froh, nicht stolz, sondern mit blutendem Herzen.
Wie gut, dass wir heute Abend in unserer Predigtlesung das volle Kontrastprogramm zu unseren täglichen Erfahrungen in dieser Welt erhalten: Da spricht Christus, unser Herr, auch von einem großen Zustrom, den er zu bewältigen hat. Und diesen Zustrom hat kein Geringerer in Gang gesetzt als Gott der Vater selber. Der hat mit der Sendung seines Sohnes in diese Welt einen Massenzustrom zu seinem Sohn in Gang gesetzt: Alles, was mir mein Vater gibt, das kommt zu mir – so erklärt es Christus selber. Doch er reagiert ganz anders, als wir in dieser Welt auf Massenzustrom reagieren. Christus schottet sich nicht ab; er überlegt nicht, ob er vielleicht den einen oder anderen bei sich reinlässt, der seinen besonderen Anforderungen und Interessen entspricht, und den Rest wieder wegschickt. Sondern er macht ein geradezu umwerfendes Asylangebot: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.“ Bei Christus gibt es keine Zurückweisung, für keinen und niemanden. Wer zu ihm kommt, der wird bei ihm reingelassen, der darf bei ihm bleiben – für immer, ohne Aufenthaltsbefristung, wenn er nicht selber wieder dieses Zuhause verlässt.
Nein, das ist nicht selbstverständlich, dass Christus uns nicht zurückweist, dass er uns tatsächlich bei sich reinlässt. Im Gegenteil: Wir erfüllen von uns aus ja wirklich keinerlei Vorbedingungen, um von ihm aufgenommen zu werden. Wir sind keine genialen Fachkräfte für den Himmel, wir sind keine besonderen moralischen Vorbilder. Christus hätte genug Grund, zu uns zu sagen: Bleibt, wo ihr seid – aber kommt bitte nicht zu mir. Das Einzige, was wir ihm zu bieten haben, ist unsere Schuld und unser Versagen. Nein, keiner von uns kommt mit gültigen Papieren bei Christus an, keiner hat ein gültiges Visum.
Doch Christus stört das alles nicht – im Gegenteil: Er ist eifrig darauf bedacht, dass ja auch alle bei ihm aufgenommen werden, die bei ihm vor der Tür stehen. Denn genau das ist der Auftrag seines Vaters: „Das ist aber der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat.“ Keiner, wirklich keiner, der zu Christus kommt, soll verlorengehen, soll draußen vorbleiben.
Ja, präge dir diese Worte immer wieder ganz tief in deine Seele, in dein Herz ein: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.“ Präge sie dir ein, wenn du ansonsten in deinem Leben immer wieder nur die Erfahrung machst, zurückgestoßen, zurückgewiesen zu werden. Präge sie dir ein, wenn deutsche Behörden dir unterstellen, du seiest gar kein richtiger Christ. Präge dir diese Worte ein, wenn du auf deine Schuld und dein Versagen in deinem Leben schaust, wenn du merkst, dass du Gott mit dem, was in deinem Leben gelaufen ist, wirklich nicht mehr unter die Augen treten kannst, wenn du merkst, dass du von dir aus kein Anrecht hast, noch in seine Gegenwart zu treten. Doch Christus steht zu seinem Wort; er macht keinen Rückzieher, er schränkt es nicht noch mal ein. Der Platz in seiner Nähe ist tatsächlich unbegrenzt. Niemals wird Christus bei sich eine Obergrenze einrichten.
Gewiss, wenn wir zu ihm, Christus, kommen, dann sollen wir auch etwas von ihm erwarten. Dann sollen wir von ihm allen Ernstes erwarten, dass er der einzige Weg zu Gott ist, dass, wer ihn sieht, nicht weniger als Gott selber sieht. Wer nur zu Jesus kommt, weil er in ihm ein großes moralisches Vorbild sieht oder einen beeindruckenden Propheten, der ist bei ihm falsch, der schließt sich selber von dem aus, was Christus doch auch ihm bieten möchte. Ja, wenn wir zu Jesus Christus kommen, dann sollen und dürfen wir für uns unendlich mehr erwarten als nur ein paar fromme Sprüche oder Anweisungen für ein anständiges Leben. Erwarten dürfen wir von ihm nicht weniger als das ewige Leben, ein Leben ohne Ende und endgültig ohne alle Grenzen, ein Leben ohne Angst und Furcht vor dem Tod, vor der Abschiebung, vor andauernder Heimatlosigkeit. Nein, Christus verspricht uns hier nicht, dass er uns in unserem Leben vor Schwerem bewahrt. Er verspricht uns auch nicht, dass er uns vom Tod verschont. Aber er verspricht denen, die zu ihm kommen, die an ihn glauben, dass er sie auferwecken wird am Jüngsten Tag. Und dazu reicht er ihnen schon jetzt seinen Leib und sein Blut als das Heilmittel der Unsterblichkeit, als Medizin des ewigen Lebens, so erklärt er es gleich im Anschluss an unsere Predigtlesung. Zu Jesus zu kommen, das heißt eben ganz konkret, seinen Leib und sein Blut zu empfangen, um dadurch das ewige Leben zu bekommen.
Denken wir daran, wenn wir es miterleben, dass wieder so viele Menschen den Weg an unseren Altar finden. Die, die hierher nach vorne kommen, sind Christus vom Vater gegeben – und Christus stößt sie nicht hinaus, sondern lässt sie teilhaben an seinem Leben. Bei ihm ist immer noch viel mehr Platz. Nein, es gibt keinen Grund, unsere Kirchentüren zu schließen! Amen.