Jona 1+2| 1. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

„Mit diesem Gott wollte ich einfach nichts mehr zu tun haben!“ – Wie oft habe ich in den vergangenen Jahren solche oder ähnliche Sätze gehört, wenn mir Taufbewerber oder Gemeindeglieder ihren Weg zum christlichen Glauben beschrieben. Gewiss, der Gott, den sie in ihrer Jugend kennengelernt hatten, der war in der Tat einfach nur zum Davonlaufen: Ein Gott, der ihnen so fern zu sein schien und ihnen doch zugleich so viel Furcht einflößte, ein Gott, in dessen Namen Menschen gefoltert, aufgehängt und gesteinigt wurden, ein Gott, für den Frauen offenkundig nur Menschen zweiter Klasse waren, ein Gott, der alle möglichen Gesetze erließ, deren Sinn sich auch bei längerem Nachdenken nicht erschloss – nein, mit diesem Gott wollten so viele Glieder unserer Gemeinde irgendwann einmal nichts mehr zu tun haben. Doch dieser Gott ließ sie einfach nicht in Ruhe; sein Bodenpersonal achtete darauf, dass sie ihn nicht vergessen konnten, dass sie sich seinen Ansprüchen nicht entziehen konnten – und so entschieden sie sich schließlich dafür, endgültig vor diesem Gott wegzulaufen, weit übers Meer mit einem Boot, dorthin, wo dieser Gott nicht mehr das politische Sagen hatte.

Doch auch als sie dann auf der anderen Seite des Meeres ankamen, merkten sie bald, dass sie diesem Gott so einfach dann doch nicht weglaufen konnten. Gewiss, dass der Gott, den sie im Iran oder Afghanistan kennengelernt hatten, nicht der wahre Gott war, das blieb ihnen klar. Doch dadurch hatte sich das Thema „Gott“ für sie nicht erledigt. So kurzsichtig waren sie alle miteinander nicht, dass sie ernsthaft glauben konnten, dass sie und die ganze Welt durch Zufall entstanden seien; das war ihnen klar, dass Gott sie geschaffen hatte und dass er sie natürlich nach ihrem Leben fragen würde. Ja, sie waren auf der Flucht vor Gott – und ahnten doch, dass sie ihm nicht entkommen konnten.

Ja, hochaktuell ist die Jonageschichte aus dem Alten Testament, die es mit der Neuordnung der Predigtlesungen nun erfreulicherweise erstmals in die Lesereihen des Kirchenjahrs geschafft hat. Es ist eine Geschichte, die sich wahrlich nicht nur für Kinderbibelwochen eignet, sondern in der sich die Erfahrungen, die Menschen mit Gott machen, in ganz spannender Weise widerspiegeln, ja mehr noch und vor allem: Es ist eine Geschichte, in der sich Gott selber uns Menschen zu erkennen gibt.

Der Jona, der hatte es damals im Unterschied zu unseren Gemeindegliedern nicht mit einem religiösen Zerrbild von Gott, sondern von Anfang an mit dem lebendigen Gott zu tun. Der hatte sich bei Jona gemeldet und ihn aufgefordert, in die Stadt Ninive zu gehen und dort im Auftrag Gottes gegen die dort herrschende Bosheit zu predigen. Für den Jona war es gar keine Frage, dass diese Aufforderung, die er da erhalten hatte, von dem lebendigen Gott selber stammte. Doch was Gott da von Jona verlangte, schien sein ganzes Leben zu versauen – und darauf hatte er nicht die geringste Lust: In einer fremden Stadt zu predigen, dass Gott die Stadt untergehen lassen wird, weil sie sich von Gott und seinen Geboten abgewendet hat – nein, das wollte er nun wirklich nicht. Doch Jona ahnt: Dieser Gott wird nicht lockerlassen. Und so fasst er einen zwar verständlichen, aber gleichzeitig natürlich auch ziemlich kurzsichtigen Entschluss: Er beschließt, vor Gott wegzulaufen, sich ihm durch eine Schiffsreise zu entziehen: Hin nach Tarsis, nach Spanien, „weit weg vom HERRN“, wie der Erzähler hier ausdrücklich so schön vermerkt.

Doch der lebendige Gott ist eben nicht bloß eine Territorialgottheit, und erst recht ist Gott kein Nichtschwimmer, der nur noch hilflos am Ufer stehen kann, wenn ein Mensch sich in ein Schiff setzt und vor ihm wegfährt. Jona erfährt das selber sehr schnell, als das Schiff losgefahren ist: Gott lässt einen Sturm kommen, der das Schiff zu zerbrechen droht. Die Schiffsleute werfen schon die ganze Ladung übers Meer – doch das hilft ebenso wenig wie das interreligiöse Gebet, das sie an Bord anstimmen – ein jeder schrie zu seinem Gott. Jona selber bekommt von dem allen zunächst einmal gar nichts mit: Der hatte sich unten im Schiff schlafen gelegt und schlief dort unten offenbar mindestens ebenso fest wie ein Pastor an seinem freien Tag. Doch dann wird er vom Kapitän geweckt und erhält von ihm eine bemerkenswerte Aufforderung: Er solle gefälligst zu seinem Gott beten; vielleicht könnte das ja nützen, nachdem sich die bisherige interreligiöse Gebetsveranstaltung als wenig hilfreich erwiesen hatte. Doch wie sollte der Jona noch zu seinem Gott beten können, den er doch etliche Seemeilen hinter sich an der Küste zurückgelassen hatte? Und so versucht die Schiffsbesatzung, durch ein Losverfahren herauszufinden, wer denn an diesem schrecklichen Sturm schuld ist – und das Los fällt auf Jona. Der wird daraufhin vernommen und gibt ehrlich zu, dass er vor dem HERRN, der das Meer geschaffen hat, geflohen ist. Tja – eigentlich wusste er es doch, dass dieser Herr, vor dem er auf das Meer geflohen war, eben dieses Meer persönlich geschaffen hatte. Doch jetzt wird ihm erst klar, was das für Konsequenzen hat: Vor Gott wegzulaufen, kann nicht gutgehen, und so macht Jona den Leuten auf dem Schiff einen bewegenden Vorschlag: Werft mich über Bord, dann wird das Meer still werden – denn der ganze Sturm ist vom HERRN ja nur meinetwillen geschickt worden. Ein Menschenopfer, um den Sturm zu beruhigen – der Schiffsbesatzung ist das nicht ganz geheuer. Sie versuchen erst einmal alles andere, um eben dies zu vermeiden. Aber am Ende stellen sie fest: Es gibt wohl tatsächlich keine andere Möglichkeit: Sie werfen Jona über Bord des Schiffes – nicht ohne zuvor den HERRN, den Gott Israels, angerufen zu haben. Und als das Meer daraufhin tatsächlich still wird, bekehrt sich die Schiffsbesatzung zu dem Gott Israels: Aus Jonas Flucht wird am Ende ungeplanterweise doch noch eine große missionarische Veranstaltung, die der Missionar selber allerdings nur noch aus einer ungewöhnlichen Perspektive, im Bauch eines Fisches, miterlebt.

Mit dem Untergang im Meer scheint die ganze Jona-Geschichte ja zu Ende zu sein. Doch in Wirklichkeit geht sie da erst richtig los. Da, wo für Jona nichts anderes mehr als der Tod zu existieren scheint, fängt Gott noch einmal ganz neu mit ihm an, rettet ihn aus dem Tod und schenkt ihm ein neues Leben. Auch der Sturm, den Gott dem Jona geschickt hat, sollte ja nicht dazu dienen, Jona zu vernichten, sondern ihm durch den Tod hindurch neues Leben zu schenken.

Genau das ist die Erfahrung, die so viele Glieder unserer Gemeinde eben auch gemacht haben: Sie haben erlebt, dass der lebendige Gott sie auch nach ihrer Flucht nicht losließ, dass er ihnen im Gegenteil eine ganz neue Lebensperspektive schenkte, mit der sie selber doch überhaupt nicht gerechnet hatten: Untergehen ließ er auch sie im Wasser der Taufe – und dann ließ er sie danach zu einem neuen Leben wieder an Land kommen, zu einem neuen Leben, in dem sie nun gar nicht mehr anders konnten und können, als tatsächlich von diesem Gott zu erzählen, vor dem man nicht weglaufen kann und vor dem man auch gar nicht wegzulaufen braucht, weil dieser Gott doch nicht unseren Tod, sondern unser Leben will.

Ja, dringend nötig haben wir diese Jonas hier bei uns in Deutschland, ganz besonders hier in Berlin, in dieser „Welthauptstadt des Atheismus“, wie ein amerikanischer Religionssoziologe diese Stadt einmal genannt hat. Da gibt es so viele Menschen in unserer Stadt, die immer noch kräftig dabei sind, vor Gott wegzulaufen, ja, die glauben, sie hätten das Thema „Gott“ schon längst hinter sich gelassen. Ja, da gibt es so viele Menschen in unserer Stadt, die, wie es ein deutscher Religionssoziologe einmal so schön formuliert hat, „vergessen haben, dass sie Gott vergessen haben.“ Da brauchen wir sie, die Jonas, die über das Meer gekommen sind und von dem lebendigen Gott erzählen können, dessen Lebendigkeit sie selber in ihrem Leben erfahren haben, der ihr Leben so ganz neu gemacht hat, sie in der Taufe vom Tod gerettet hat und ihnen eine ganz neue Lebensperspektive eröffnet hat. Menschen, für die die Frage nach Gott so wichtig war und ist, dass sie dafür ihr Leben riskiert haben – ja, auf die hören die Menschen auf ihrer Flucht vor Gott vielleicht doch noch eher als auf Kirchenvertreter, bei denen sie gleich schon abschalten.

Ja, wir brauchen diese Jonas hier in Deutschland, hier in Berlin, weil sie erzählen können, dass der lebendige Gott ein ganz anderer Gott ist als all die Götter, die in den verschiedenen Religionen angebetet werden. Hier in Berlin geht es ja in mancher Hinsicht trotz allen scheinbaren Unglaubens eine Fülle von religiösen Angeboten, dass man sich tatsächlich wie damals im Schiff des Jona vorkommt: „Sie schrien, ein jeder zu seinem Gott“. Ja, gerade da, wo Menschen in Not sind, merken sie mit einem Mal, dass sie mit ihren Möglichkeiten nicht weiterkommen, dass da doch ein anderer sein muss, der ihnen hilft, der sie retten kann. Doch die Jona-Geschichte macht eben sehr deutlich, dass es nicht reicht, seine Gebete an irgendeinen Gott, an irgendein höheres Wesen zu richten. Allein der lebendige Gott vermag Menschen aus dem Tod zu einem neuen Leben zu führen – so hat er es gezeigt, als er seinen eigenen Sohn aus den Tiefen des Todes zu einem neuen Leben auferweckt hat. Diesen Gott wollen wir den Menschen in unserer Stadt bezeugen, diesen Gott, dem keiner entkommen kann und der doch jedem Menschen einen Neuanfang, ein neues Leben schenken möchte. Ja, dieser Gott hat so viele Wege, Menschen zu sich zu führen. Der hat damals sogar noch das Versagen des Jona genutzt, um Menschen erkennen zu lassen, dass er der lebendige Gott ist. Und dieser Gott kann auch heute noch selbst noch das Versagen seiner Boten nutzen, um dadurch Menschen zum Glauben an ihn zu führen. Damals endet die Geschichte auf dem Schiff ja mit einer gemeinsamen Anbetung des Gottes Israel, nachdem der Bote Gottes über die Reling befördert worden war. Das ist ein tröstlicher Gedanke, dass Gott den Glauben bei Menschen gerade nicht dadurch wirkt, dass seine Boten perfekt sind. Und selbst wenn man sie über die Reling stößt, um endlich wieder Ruhe im Schiff zu haben – Gott hat viele Möglichkeiten, Glauben zu wirken. Er ist stärker als unsere Sünde und Schuld, er ist stärker als unser Unglaube, er ist stärker auch als der Tod. Er ist und bleibt der lebendige Gott, der Menschen zum Glauben an sich führt, von denen man das überhaupt nicht erwarten konnte. Wie schön, dass wir dies in unserer Mitte immer wieder erleben dürfen! Amen.

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