Kohelet (Prediger) 8,10-14.17 | Mittwoch nach dem 3. Sonntag nach Epiphanias | Pfr. Dr. Martens

Zu den Neuerungen der Ordnung der Predigttexte der evangelischen Kirche, die wir auch in unserer Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche weitgehend übernommen haben, zählt auch die Neueinführung eines Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz.

Nun kann man mit Recht fragen: Passt ein Gedenktag an ein solches Menschheitsverbrechen in die Ordnung der Feste des Kirchenjahres, in denen es ansonsten doch immer darum geht, Gottes große Taten zu loben und zu preisen? Selbst an einem Gedenktag der Entschlafenen im November bleibt das Lob der Hoffnung über den Tod hinaus, die wir durch die Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus haben, doch immer noch der beherrschende Grundton eines solchen Tages. Doch an einem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus – muss uns da nicht das Lob Gottes im Halse stecken bleiben, müssen wir da nicht einfach nur verstummen? Ja, mehr noch: Tun wir den Verbrechern, die diese unfassliche Vernichtung von Millionen von Menschen zu verantworten haben, nicht zu viel Ehre an, wenn wir ihr Tun, wenn auch im Negativen, mit einem eigenen kirchlichen Feiertag würdigen? Sollten wir uns nicht doch auf die Feier von Gottes Tun konzentrieren statt auf das Gedenken des Tuns von Menschen?

Dazu kommt etwas anderes: Wir erleben bei solchen Gedenkveranstaltungen für die Opfer des Nationalsozialismus auf weltlicher Ebene, dass dort immer wieder dieselben pathetischen Worte geäußert werden, hören immer wieder den Appell, dass so etwas nie wieder geschehen darf und man das, was geschehen ist, niemals vergessen darf. Doch wir spüren es, dass diese pathetischen Worte dem, was die betroffenen Menschen erlebt haben, oft so wenig gerecht werden, spüren es, dass sie, so gut sie auch gemeint sein mögen, doch oftmals so hohl und phrasenhaft wirken. Und das soll nun in kirchlichen Kreisen einfach noch ein wenig religiös überhöht werden? – Das klingt eher gruselig als verheißungsvoll.

Und doch hat solch ein Gedenktag im Kirchenjahr tatsächlich seine Berechtigung. Denn wir spüren es wohl alle: Wenn wir hören, was da in unserem Land bis vor 75 Jahren geschehen ist, dann können wir die Frage nach Gott in diesem Zusammenhang doch gar nicht ausklammern. Eine Theologin hat einmal geäußert, sie könne nach Auschwitz nicht mehr das Lied „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“ singen, das Lied von dem Herrn, der alles so herrlich regieret. Wir müssen ihr darin nicht zustimmen; aber die Frage stellt sich tatsächlich, wie wir es geistlich verantworten und erklären können, dass wir es eben doch tun, dass wir angesichts der Gaskammern und Krematorien von Auschwitz dennoch in unseren Gesangbuchliedern Gott als den preisen, der das Geschick unseres Lebens und das Geschick der ganzen Welt in seiner Hand hält. Ja, wenn wir so nach Gott fragen, sind wir ganz dicht dran an den Opfern des Holocaust, die diese Frage nach Gott ebenso ganz existentiell gestellt und für sich dann durchaus auch sehr unterschiedlich beantwortet haben.

Nein, wir wollen uns in diesen Tagen, an denen uns das Leid der Opfer des Nationalsozialismus in den Medien wieder so deutlich vor Augen gestellt wird, nicht damit begnügen, nach Gott zu fragen. Sondern wir wollen hören, was Gottes Wort dazu zu sagen hat, wollen uns ganz bewusst Seite an Seite mit den jüdischen Opfern des Holocaust stellen und mit ihnen gemeinsam Worte aus ihrer Heiligen Schrift hören, die doch auch für uns Christen unsere Heilige Schrift ist, wollen uns durch die Lesungen dieses Gedenktags aufmerksam machen lassen auf Worte des Alten Testaments, die wir sonst vielleicht nur allzu schnell übersehen. Und dazu gehören wohl zweifelsohne auch die Worte aus dem Buch Kohelet, dem Buch des Predigers, die wir eben vernommen haben.

Beklemmend aktuell beginnen die Worte unserer heutigen Predigtlesung: „Weiter sah ich Gottlose, die begraben wurden und zur Ruhe kamen; aber die recht getan hatten, mussten hinweg von der heiligen Stätte und wurden vergessen in der Stadt. Das ist auch eitel.“

Zu den Monströsitäten der Vernichtungsmaschinerien der Konzentrationslager gehörte auch dies, dass denen, die dort ermordet wurden, schließlich auch noch ein Begräbnis verwehrt wurde. Verbrannt wurden sie, die Asche wurde verstreut. Gerade das Begräbnis hat im jüdischen Glauben eine ganz hohe Bedeutung: Ein würdiges Begräbnis für die zu organisieren, für die man verantwortlich ist, gehört zu den höchsten Glaubenspflichten eines Juden. Doch das gab es offenbar auch schon zur Zeit des Predigers, dass Verbrecher am Ende ihres Lebens mit einem feierlichen Begräbnis geehrt wurden, während den Frommen jegliche Form von Begräbnis vorenthalten wurde. Ja, das ist ungerecht, das schreit zum Himmel, so empfinden wir es heute kaum anders als die Menschen damals. Und daran hat sich ja auch im Jahr 2020 nichts geändert. Da haben wir es gerade im Iran erlebt, dass ein Verbrecher wie Herr Soleimani mit einem großen Staatsbegräbnis geehrt wird, während den Familien der 1500 Menschen, die während der Demonstrationen Ende letzten Jahres vom iranischen Regime ermordet wurden, oftmals noch nicht einmal eine richtige Beerdigung ihrer Angehörigen erlaubt wurde.

Wie kann das sein? Kohelet, der Prediger, gibt hier zunächst einmal eine sehr nüchterne, weltliche Erklärung, die auch wieder beklemmend aktuell ist: „Weil das Urteil über böses Tun nicht sogleich ergeht, wird das Herz der Menschen voll Begier, Böses zu tun.“ O nein, der Mensch ist in seinem Herzen eben nicht von Natur aus gut. Sondern das Herz aller Menschen ist von Natur aus darauf angelegt, Böses zu tun. Und wenn Menschen dann erleben, dass sie mit ihrem bösen Tun ungestraft durchkommen, dann fühlen sie sich dazu ermutigt, mit diesem Bösen immer weiter zu machen, weil es ja doch keine negativen Konsequenzen für sie hat, ja, weil sie sich durch das Ausbleiben von Konsequenzen vielleicht sogar in ihrem Tun bestätigt fühlen.

Während unserer Konfirmandenfreizeit in Heldrungen werden wir auch in diesem Jahr wieder das Konzentrationslager Buchenwald besuchen. Was ich dort immer wieder als besonders beklemmend empfinde, sind die Wohnhäuser der KZ-Wächter in unmittelbarer Umgebung zu diesem Todeslager. Da gingen diese Wächter morgens zur Arbeit, quälten die Gefangenen, und nach Feierabend ging man dann ein paar Meter weiter nach Hause und pflegte dort ein idyllisches Familienleben. „Weil das Urteil über böses Tun nicht sogleich ergeht, wird das Herz der Menschen voll Begier, Böses zu tun.“ Ja, das ist gewiss auch eine Mahnung an den Staat, konsequent zu reagieren, wenn Menschen anderen Menschen Böses antun. Wenn sie den Eindruck haben, dass das doch keine Konsequenzen hat, was sie tun, werden sie immer weiter machen. Ich denke nur an die Übergriffe in den Asylbewerberheimen gegen christliche Konvertiten. Wenn die, die unsere christlichen Geschwister dort angriffen, erlebten, dass das für sie keine Konsequenzen hatte, ja, dass am Ende dann sogar immer wieder die Christen beschuldigt wurden, dann fühlten sie sich natürlich ermutigt, weiterzumachen – auch außerhalb der Heime. Wir erleben manche Folgen der Inkonsequenz unseres Staates nun sehr deutlich hier in unserem Land.

Doch es geht eben nicht nur um den Staat, es geht darum, dass Gott selber sein Urteil eben nicht gleich ergehen lässt, dass er nicht dazwischengegangen ist, als die Konzentrationslager errichtet, als die Gaskammern gebaut und in Betrieb genommen wurden. Ja, wenn Gott nicht eingreift, wenn er nicht schnell sein Urteil spricht, dann steigert das die Bosheit der Menschen noch, so stellt Kohelet hier fest.

Nein, Kohelet will den Gedanken nicht einfach aufgeben, dass es am Ende doch noch so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit gibt, dass der Böse mit seinem Tun am Ende doch nicht durchkommt. Doch die Erfahrung sieht anders aus – und so stellt Kohelet abschließend fest: „Ein Mensch kann das Tun Gottes nicht ergründen, das unter der Sonne geschieht. Je mehr der Mensch sich müht zu suchen, desto weniger findet er.“ Nein, wir können in dem, was hier in unserem Land vor 80 Jahren geschehen ist, keinen Sinn erkennen. Wir können auch so wenig Sinn darin erkennen, dass auch heute in unserem Land wieder von deutschen Schreibtischen aus Deportationen in den Tod angeordnet werden, dass auch heute in unserem Land wieder Unrecht begangen wird, das zum Himmel schreit. Immer und immer wieder scheint das Böse am Ende zu triumphieren – und wir können es nicht begreifen, können erst recht nicht behaupten, dass wir es in unserer Erfahrung nachvollziehen könnten, dass es den Gerechten in ihrem Leben besser ergeht als den Ungerechten.

Was kann uns angesichts unserer Erfahrungen davor bewahren, einfach nur dem Zynismus zu verfallen? Genau das können wir von Kohelet, dem Prediger, lernen: So klar und nüchtern er die Dinge ausspricht, so sehr hält er doch zugleich fest an Gott als dem, der am Ende allein Gerechtigkeit zu schaffen vermag, aller gegenwärtigen Erfahrung zum Trotz. Ja, wenn wir nicht wüssten, dass Gott selbst da noch Recht zu schaffen vermag, wo dies unser Vorstellungsvermögen völlig übersteigt, wenn wir nicht wüssten, dass Gott am Ende eben doch noch die zur Rechenschaft ziehen wird, die sich hier in diesem Leben einer Verantwortung für ihre Taten entziehen konnten, dann könnten wir nur verzweifeln.

Als Christen können wir an dieser Stelle nun noch einen Schritt weitergehen: Wir wissen darum, dass dieser Gott, nach dessen Gerechtigkeit wir fragen, noch eine ganz andere Antwort gegeben hat: Dass er selber Mensch geworden ist, Jude geworden ist, selber tiefstes Unrecht erlitten hat, damit am Ende eine ganz andere Gerechtigkeit siegt: nicht die Gerechtigkeit, die nach Vergeltung schreit, sondern die Gerechtigkeit, die wiederherstellt, was der Mensch scheinbar unwiderruflich zerstört hat. Gott selber hat den Zusammenhang von Tun und Ergehen, den wir oft so leichtfertig als gerecht empfinden, dadurch zerbrochen, dass er Christus hat erleiden lassen, was nicht er verdient hat, sondern was wir verdient haben.

Das beantwortet die Fragen des Predigers hier in unserer Predigtlesung noch nicht abschließend, das beantwortet auch nicht unsere Fragen nach dem Unrecht in dieser Welt. Aber es bewahrt uns davor, vor dem Unrecht zu verzweifeln, gibt uns gerade so auch die Kraft, trotz aller Erfahrungen von scheinbarer Sinnlosigkeit unsere Stimme zu erheben gegen das Unrecht, das wir erleben, unsere Stimme zu erheben gerade auch für die Opfer staatlicher Willkür und Gewalt. Ja, wie gut, dass es den Nationalsozialisten nicht gelungen ist, die Stimme des jüdischsten aller Bücher, der Heiligen Schrift, zum Schweigen zu bringen, dass dieses Buch uns Hoffnung schenkt, dass Gott angesichts des Unrechts in dieser Welt das letzte Wort hat – und dass die Opfer dieses Unrechts bei ihm nicht vergessen sind. Dass Gott gedenkt – das bleibt der tiefste Trost, den wir haben dürfen, wenn wir den Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus begehen. Weil Gott gedenkt, darum haben eben auch die Menschen eine Zukunft, die unserem menschlichen Gedenken entschwinden werden oder schon entschwunden sind. Ja, es ist gut, dass wir uns daran jedes Jahr neu erinnern lassen! Amen.

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