Kolosser 3, 12-17 | Kantate| Pfr. Dr. Martens

Manchmal überkommt mich hier in unserer Gemeindearbeit der Wunsch, einfach mal die Zeit anhalten zu können, einfach mal alle Entwicklungen anhalten zu können, alles in der Gemeinde einfach mal so lassen zu können, wie es ist. Es ist doch so schön, es läuft doch so erfreulich, das müsste man doch alles mal in Ruhe genießen können!

Doch natürlich können wir die Zeit nicht anhalten, natürlich bleibt in unserer Gemeinde kaum etwas, wie es war, erleben wir hier bei uns fast jeden Tag neue Überraschungen. Doch in der Epistel des heutigen Sonntags lenkt der Apostel Paulus unseren Blick noch einmal in eine etwas andere Richtung: Er sagt: Ihr braucht euch nicht einfach bloß von Entwicklungen in eurer Gemeinde überrollen zu lassen; es gibt auch Entwicklungen, auf die ihr selber hinarbeiten könnt, die ihr selber fördern und unterstützen könnt. Ganz spannend ist es, was der Apostel Paulus hier über diese Art von Gemeindeentwicklung zu berichten weiß. Eine ganze Reihe von Anregungen für Entwicklungen in einer Gemeinde gibt er uns hier in diesen Versen, und wir greifen einfach einmal drei daraus heraus, die in ganz besonderer Weise für unsere Gemeinde wichtig sein und werden können:

Das geht schon los mit der Anrede, die der Apostel hier wählt: Er spricht die Gemeindeglieder der Gemeinde in Kolossä als „die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten“ an. Das sind starke Worte, und doch zugleich gefüllte Worte, gefüllt von dem, was Gott tatsächlich mit uns Christen, mit den Gemeindegliedern in Kolossä und eben auch mit uns macht. Ja, lass es dir selber einmal gesagt sein: Du bist tatsächlich auserwählt, auserwählt von Gott. Dass du heute hier in der Kirche sitzt, ist kein Zufall. Gott hatte einen Plan für dein Leben schon längst, bevor du geboren warst. Das, was dir so zufällig und vielleicht auch widersinnig in deinem Leben erscheinen mag, ist in Gottes Augen ganz und gar sinnvoll, weil es alles dazu dienen soll und dient, dass dein Lebensweg in das ewige Leben in der Gemeinschaft mit Christus mündet. „Eh ich durch deine Hand gemacht, da hast du schon bei dir bedacht, wie du mein wolltest werden.“ So wichtig, so wertvoll bist du in Gottes Augen! Und heilig bist du, nein, nicht weil du ein perfekter Christ wärest, nicht, weil du keine Fehler und Macken hättest – o doch, die hast du, ganz gewiss und ganz reichlich! Aber in der Heiligen Taufe hat Gott dich zu seinem Eigentum gemacht. Du gehörst zu ihm – und eben darum bist du heilig, ganz und gar heilig, weil Christus selber dich umhüllt und umgibt wie ein Gewand. Du magst dich selber in deinem Leben eher als einen Versager wahrnehmen, als einen, der den Ansprüchen anderer, der erst recht den Ansprüchen Gottes nie gerecht wird. Doch in Gottes Augen bist du es ganz und gar: ein Heiliger, einer, an dem Gott nichts auszusetzen vermag, weil er auf Christus selber blickt, wenn er dich ansieht. Und du bist schließlich, so formuliert es der Apostel hier, ein Geliebter, eine Geliebte. Das Wort hat ja im heutigen Deutsch einen gewissen Beigeschmack; doch den hat das Wort hier bei Paulus überhaupt nicht: Du bist für Gott nicht bloß ein Abenteuer für zwischendurch, nicht bloß eine nette Abwechslung. Sondern du bist es für Gott ganz und gar: jemand, in den Gott sich verliebt hat, der aufstrahlen und aufleuchten darf, weil er von Gottes Liebe ganz und gar umfangen ist.

Und genauso soll und darf ich als Pastor, sollen und dürfen wir als Gemeindeglieder miteinander die Glieder unserer Gemeinde ansehen. Wir stehen so leicht in der Gefahr, die Glieder unserer Gemeinde erst einmal aufgrund ihrer Herkunft zu betrachten oder sie vielleicht zunächst einmal als Problemfälle anzusehen, die behandelt und betreut werden müssen. Doch wenn wir die Schwestern und Brüder in unserer Gemeinde mit den Augen des Apostels, ja mit den Augen Gottes wahrnehmen, dann verändert sich eine Menge – nicht nur in unserer eigenen Wahrnehmung, sondern schließlich auch in der Gemeinde. Dann erübrigt sich von vornherein der Gedanke, Gemeindeglieder als Last oder als Problem zu betrachten. Dann wird der Dienst an den anderen in der Gemeinde zu einer Freude, wenn einem klar ist, dass man Auserwählten Gottes, dass man Heiligen und Geliebten dienen darf. Es ist mehr als eine Frage der Anrede – es ist ein Perspektivwechsel, der vieles in der Arbeit in einer Gemeinde zu verändern vermag.

Ein Zweites, was unser Zusammenleben hier in der Gemeinde grundlegend zu verändern vermag, greife ich aus unserer heutigen Epistel heraus. Da schreibt der Apostel: „Vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr!“

Ja, um Vergebung geht es im christlichen Glauben; wie entscheidend wichtig das ist, das können gerade all diejenigen unter uns bezeugen, die in ihrer Vergangenheit unter dem Islam ganz andere Erfahrungen gemacht haben, Erfahrungen, die gerade nicht von der Vergebung geprägt waren. „Wie der Herr euch vergeben hat“ – das ist die Grundlage für alles Weitere, wovon der Apostel hier im Weiteren spricht: Leben aus der Vergebung Gottes, das ist es, was das Zusammenleben einer christlichen Gemeinde prägt. Ja, das ist in der Tat ganz wichtig, dass wir diesen Empfang der Vergebung Gottes immer wieder ganz bewusst einüben, und darum verzichten wir eben ganz bewusst auch nicht auf die Beichtandachten am Sonntagmorgen, auf den allsonntäglichen persönlichen Zuspruch: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ Aber das soll sich dann eben auch auswirken in unserem Umgang miteinander in der Gemeinde. Die Bereitschaft, anderen in der Gemeinde zu vergeben, wie Christus uns vergeben hat, ist ein Schlüssel für ein gelingendes Zusammenleben in einer Gemeinde, auch und gerade dann, wenn diese im Laufe der Zeit immer größer wird. Ja, natürlich hat da jeder auch so seine Klagen gegen den andern, wie Paulus es hier formuliert. Da könnte man so vieles anführen, was uns in der Gemeinde bei anderen nervt und ärgert, was uns doch scheinbar genügend Gründe liefern würde, um uns von Menschen abzuwenden, ja, vielleicht sogar auch von der Gemeinde selber, in der wir sie treffen. Doch der Apostel des Herrn ermahnt uns hier: Vergebt, jawohl: vergebt, wenn jemand Klage hat gegen den andern!

Ach, Schwestern und Brüder: Ahnt ihr, was für eine Kraft in diesen Worten steckt, was für eine Kraft, das Zusammenleben einer Gemeinde zu verändern – wenn wir anderen nicht mehr nachtragen, was sie einmal gesagt und getan haben, wenn wir Menschen nicht auf ihr Fehlverhalten reduzieren, wenn wir Menschen nicht in Schubladen stecken, um fortan behaupten zu können, es sei ja eigentlich gar nicht möglich, mit diesen Menschen noch weiter zusammenzuleben! Vergebung verändert uns, verändert das Leben in einer Gemeinschaft. Nein, Gottes Vergebung ist nicht davon abhängig, dass ein anderer Mensch dir auch vergibt, was du ihm angetan hast. Wir sind nicht mehr im Islam. Aber dass wir immer bereit sein sollen, Vergebung zu gewähren, statt Klagen zu kultivieren, das ist schon etwas ganz Wichtiges, ja Wunderbares. Gott geb's, dass wir das hier in unserer Gemeinde in der Zukunft immer weiter einüben werden. Wir werden darüber staunen, was für eine Kraft Vergebungsbereitschaft zu entfalten vermag!

Und dann nennt der Apostel Paulus hier noch ein Drittes, das unser Zusammenleben hier in der Gemeinde ganz eindeutig zu verändern vermag, zum Positiven zu verändern vermag: Vom Singen spricht er hier in der Epistel des heutigen Singesonntags Kantate. Ja, gemeinsames Singen hat eine ganz starke Kraft, die sich auf das Zusammenleben in der Gemeinde auszuwirken vermag, gar keine Frage.

Wir leben in einer Zeit, in der das gemeinsame Singen immer mehr zu einem besonderen Kennzeichen der Christen wird. Wenn ich bei der Vorbereitung zu einer Beerdigung darauf bestehe, dass wir uns nicht einfach nur stumm von einem CD-Player berieseln lassen, sondern selber singen, dann habe ich schon wiederholt die Reaktion der Verantwortlichen vernommen: Ach, es ist offenbar eine christliche Beerdigung. Christen singen noch, singen selbst noch im Angesicht des Todes. Und damit ermutigen und trösten sie einander, mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern. Ja, nicht zuletzt auch darum geht es, wenn wir hier im Gottesdienst zusammenkommen. Da soll gesungen werden. Das ist angesichts der begrenzten sprachlichen Möglichkeiten vieler Gottesdienstteilnehmer nicht ganz einfach. Und nicht wenige haben auch darum in ihrem Leben bisher kaum gesungen, weil ihnen immer wieder eingeschärft wurde, dass Singen doch eigentlich etwas Unreines ist, etwas, das ein anständiger Mensch nicht macht, etwas, das immer in dem Geruch steht, vielleicht doch das Gefühlsleben von Menschen zu sehr zu beeinflussen.

Doch hier singen wir, und damit nicht genug: Wir üben auch, immer mehr, immer besser zu singen. Heute singen wir im Anschluss an das gemeinsame Mittagessen hier in der Kirche wieder einmal gemeinsam, üben gemeinsam persische Lieder, um das noch besser hinzubekommen mit dem gemeinsamen Singen. Ja, jeder, der zu uns kommt, soll es erfahren, soll es hören: Hier wird gesungen, hier herrscht nicht betretenes Schweigen, hier kommen Menschen zusammen, die gemeinsam auf den Weg in den Himmel sind, wo das Singen einmal gar kein Ende mehr nehmen wird, wo wir dann auch nicht mehr werden üben müssen, weil wir eingebunden sein werden in den vollendeten Klang aller himmlischen Chöre.

Ja, ich hoffe, dass sich da in unserer Gemeinde tatsächlich noch Dinge weiter entwickeln, dass unser persischer Chor noch mehr Sänger anlockt, ja, dass wir alle miteinander als singende Gemeinde immer weiter zusammenwachsen. Ja, anstoßen können und wollen wir solche Entwicklungen – was dann im Weiteren daraus wird, das bleibt ganz in der Hand dessen, der der Herr der Kirche ist und bleibt. Ja, es ist gut, dass wir die Zeit nicht einfach anhalten können, es ist gut, dass wir zwar Entwicklungen anstoßen, aber nicht unbedingt steuern können, dass wir auch weiter ganz auf ihn, Christus, und seine Führung angewiesen bleiben werden. Ja, es ist gut, dass wir die Zeit nicht einfach anhalten können. Es geht doch immer weiter vorwärts – bis in den Himmel! Amen.

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