Matthäus 13,24-30 | Altjahrsabend | Pfr. Dr. Martens

Wenn ich nachher den letzten Gottesdienst dieses Jahres gefeiert haben werde, werde ich nach Hause gehen und Bilanz ziehen. Und dann werden sie mir alle vor Augen stehen: Die Glieder unserer Gemeinde, die in diesem Jahr kein einziges Mal den Leib und das Blut des Herrn empfangen haben, die Glieder unserer Gemeinde, die mich in diesem Jahr einfach nur ausgenutzt haben, meine Hilfe in Anspruch genommen haben und dann anschließend gleich wieder verschwunden sind, als sie mich nicht mehr brauchten. Ich werde denken an die Glieder unserer Gemeinde, in die ich in diesem Jahr und auch schon in den vergangenen Jahren große Hoffnungen gesetzt hatte und die mich in diesem Jahr mit ihrem Verhalten schwer enttäuscht haben. Ja, Enttäuschung ist es, was mich am Silvesterabend jedes Jahr aufs Neue überkommt.

Und das geht ja nicht nur mir so. Immer wieder höre ich die Worte von unseren neuen Gemeindegliedern: Die anderen, die hier neu in unsere Gemeinde gekommen sind, die nehmen das mit ihrem Glauben doch gar nicht ernst; die sind doch nur hier, weil sie ihren Aufenthalt in Deutschland bekommen wollen. So richtige ernsthafte Christen wie uns selber gibt es in dieser Gemeinde doch nur wenige! Leider sind diejenigen, die diese Worte sagen, oftmals diejenigen, die sich selber nur selten bei uns in der Kirche blicken lassen und mit dem Verweis auf die anderen dann auch ganz gerne von ihrem eigenen enttäuschenden Verhalten ablenken möchten.

Und natürlich können auch einheimische Gemeindeglieder von solchen enttäuschenden Erfahrungen berichten, ja, auch hier bei uns in der Gemeinde, dass sie neuen Gemeindegliedern geholfen haben – und sich am Ende herausgestellt hat, dass diese Hilfe überhaupt nicht geschätzt wurde, dass auch sie einfach nur ausgenutzt wurden. Ja, da ist auch die Versuchung groß zu sagen: Raus mit all denen, die es offenkundig nicht ernst meinen; wir schaffen uns hier eine Gemeinde derer, die uns nicht enttäuschen, die es wirklich ernst meinen, die erkennbar wahre Christen sind.

Das Gleichnis von dem Unkraut unter dem Weizen, das wir eben gehört haben, ist bei der Neuordnung der Lesungen im Gottesdienst nun ganz neu an diesem Silvesterabend gelandet. Und da passt es auch tatsächlich gut hin, an diesem Abend, an dem wir Bilanz ziehen, an diesem Abend, an dem uns immer wieder auch Enttäuschungen über die real existierende Kirche und Gemeinde überkommen, ja, in all dem auch Enttäuschungen über uns selbst, über unser eigenes Versagen:

Jesus lehrt uns hier in diesem Gleichnis, wie wir mit solchen Enttäuschungen in unserem Leben, mit solchen Enttäuschungen in der Kirche in der rechten Weise umgehen können und sollen:

Wir sollen

  • mit dem Feind rechnen
  • mit Geduld auf Gottes Gericht warten


I.

Da erzählt uns Jesus von einem Bauern, der Samen auf seinen Acker aussät – guten Samen natürlich, Weizensamen, kein Unkraut. Entsprechend sollte er auch damit rechnen, dass er am Ende genau das ernten kann, was er gesät hat, also Weizen. Doch als der Weizen heranwächst, stellen die Knechte dieses Bauern fest: Zwischen den Weizenhalmen wächst auch alles mögliche Unkraut heran. „Unkraut“ – gemeint ist damit der sogenannte „Taumellolch“. Der sieht, wenn er heranwächst, zunächst einmal genauso aus wie Weizen; erst kurz vor der Ernte kann man dann feststellen, was nun Lolch ist und was Weizen. Doch zu diesem Zeitpunkt ist es dann auch schon zu spät, den Taumellolch auszureißen, denn seine Wurzeln sind so mit den Wurzeln der Weizenhalme verwoben, dass man den Weizen auch mit ausreißen würde, wenn man den Taumellolch zwischen den Weizenhalmen entfernen wollte. Das einzig Vernünftige, was bleibt, ist, auf die Ernte zu warten und bei der Ernte dann Taumellolch und Weizen voneinander zu trennen. Das ist dann allerdings auch dringend nötig, denn der Taumellolch ist giftig und ungenießbar; wenn ein Bauer da nicht genau aufpasst, kann er am Ende seine ganze Ernte verderben. Aber er muss eben warten – bis zur Ernte.

Es fällt uns nicht schwer, die Geschichte auf die Situation einer christlichen Gemeinde zu übertragen: Da wird in der Gemeinde der Samen des Wortes Gottes ausgestreut; daraus wächst viel Frucht – aber früher oder später muss man feststellen, dass sich zwischen denen, die dort in der Gemeinde wachsen und ihre Frucht bringen, eben auch andere befinden, die da eigentlich nicht hingehören, die sogar giftige Früchte tragen. Ja, wie sollen wir damit umgehen?

Jesus fügt in diese Geschichte noch einen besonderen Zug ein. Er berichtet davon, dass es der Feind ist, der heimlich seinen Samen da zwischen den Weizensamen auf das Feld gestreut hat. Martin Luther hat das in einer Predigt zu diesem Thema einmal wunderbar formuliert: „Wo Gott eine feine Kirche anrichtet, da baut alsbald der Teufel eine Kapelle daneben.“

Ja, das ist ganz wichtig, dass wir diese Realität der Kirche in unserer Arbeit in der Gemeinde immer im Auge behalten: Wenn wir denn hier wirklich guten Samen aussäen, den Samen des Wortes Gottes, wenn unsere Arbeit hier in der Gemeinde tatsächlich unter der Verheißung Gottes steht, dann müssen wir geradezu zwangläufig damit rechnen, dass dies den Teufel nicht kalt lässt, dass er alles versuchen wird, um diese Arbeit durcheinanderzubringen. Und seine Taktik ist dabei klar: Wenn wir anfangen, uns gegen das Wirken des Teufels so zur Wehr zu setzen, dass wir meinen, beurteilen zu können, wer denn nun ein wahrer Christ ist und wer nicht, wenn wir versuchen, diejenigen, die aus unserer Sicht keine wirklichen Christen sind, aus der Gemeinde zu werfen, dann werden wir dabei immer wieder auch, im Bilde gesprochen, Weizenhalme mit herausreißen, werden immer wieder auch Menschen im Glauben irremachen, ja, ihnen vielleicht auch die geistliche Heimat nehmen, bei denen der gute Same des Wortes Gottes doch aufgegangen war. Nein, wir wehren dem Teufel nicht dadurch, dass wir versuchen, eine Gemeinde der Reinen und Vollkommenen zu schaffen, eine Gemeinde derer, die es wirklich ganz ernst meinen mit ihrem Glauben. Im Gegenteil: Mit solchen Versuchen spielen wir dem Teufel in die Karten. Sondern wir können dem Teufel nur dadurch wehren, dass uns der Schutz all derer, bei denen der gute Same aufgegangen ist, wichtiger ist als unser Verlangen danach, scheinbar klare Verhältnisse zu schaffen und nebenbei auch noch unserer Enttäuschung freien Lauf zu lassen. Ja, wir müssen es auch in Zukunft weiter ertragen, das Risiko einzugehen, ausgenutzt und belogen zu werden, wir müssen es auch in Zukunft weiter ertragen, dass auch in unserer Gemeinde Weizen und Taumellolch nebeneinander wachsen – und wir es am Ende ja noch nicht einmal selber beurteilen können, wer denn nun wer ist. Gemeinde bauen, während der Teufel mittendrin mit herumfummelt – ja, das ist unsere Aufgabe auch in diesem kommenden Jahr 2022.


II.

Vor allem aber leitet uns Jesus hier in diesem Gleichnis zur Geduld an. Geduld ist nicht gerade meine persönliche Stärke – und bei so manchem von euch wird es auch nicht viel anders aussehen. Wir möchten so gerne jetzt schon richten, möchten Erfolge klar markieren können und nicht im Ungewissen bleiben.

Doch Jesus leitet uns zur Geduld an: Ihr müsst es ertragen, dass Taumellolch und Weizen nebeneinander wachsen, damit ja kein einziger Weizenhalm ausgerissen wird und verloren geht. Eure Aufgabe ist immer wieder nur die Aussaat. Sät immer wieder den guten Samen des Wortes Gottes aus – dann werdet ihr am Ende auch eine reiche Ernte haben. Seid ganz getrost! Wartet ab – es wird einmal offenbar werden, dass eure Arbeit nicht vergeblich gewesen ist. Aber fangt nicht an, ausreißen, fangt nicht an, Menschen zu beurteilen, wer denn nun ein wirklicher Christ ist und wer nicht. Überlasst das Gott am Ende. Dafür seid ihr nicht zuständig!

Was für ein Trost! Und der gilt im Übrigen auch nicht nur für unsere Gemeindearbeit. Der gilt auch ganz persönlich für einen jeden von uns, wenn wir heute Abend auf das Jahr zurückschauen und auch da so viel erkennen, was aus unserer Sicht nicht richtig gelaufen ist. Ihr seid nicht die Richter über euer Leben. Und ihr braucht euch erst recht nicht kaputtzumachen, indem ihr euch auf das scheinbar Misslungene in eurem Leben konzentriert. Genau das ist ja die Taktik des Feindes, des Teufels: Der möchte, dass wir in unserer Gemeindearbeit nur noch den Taumellolch, nur noch die Enttäuschungen wahrnehmen und gar nicht mehr die wirkliche Frucht, die gewachsen ist. Und der möchte, dass wir auch in unserem Leben nur noch unser Versagen sehen und nicht mehr das, was Gott an Gutem in unserem Leben auch in diesem vergangenen Jahr gewirkt hat.

Ja, freuen wir uns auf das Gericht am Ende, auf die Ernte! Freuen wir uns darauf, dass wir einmal sehen werden, was tatsächlich alles hier in unserer Gemeinde an guter Frucht gewachsen ist! Und freuen wir uns darauf, dass Gott uns einmal in diesem letzten Gericht all das, was in unserem Leben und in unserer Arbeit nicht gelungen ist, nicht anrechnen wird, sondern uns allein anrechnen wird, was er, Jesus Christus, für uns getan hat! Ja, mit dieser Perspektive können wir dann auch mit einem fröhlichen Herzen dem kommenden Jahr 2022, ja, dem Ziel unseres Lebens entgegenblicken. Amen.

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