Philipper 2, 5-11 | Palmarum | Pfr. Dr. Martens

Heute feiern wir Norouz, den Beginn des persischen neuen Jahres 1395. Viel verändert hat sich hier in unserer Gemeinde, seit wir im letzten Jahr Norouz gefeiert haben: So viele Menschen sind neu in unsere Gemeinde dazugekommen, dass wir an manchen Sonntagen kaum noch Platz für sie alle finden. So viele Menschen sind neu in unsere Gemeinde dazugekommen, dass manch einer vielleicht auch den guten alten Zeiten hinterhertrauert, als alles noch kleiner und übersichtlicher bei uns war, als die Herausforderungen für unsere Gemeindearbeit noch sehr viel überschaubarer erschienen. Wie wird es im neuen Jahr 1395 nun weitergehen mit unserer Gemeinde, wie wird sich hier bei uns alles weiter entwickeln, so mag so mancher fragen, der dieses letzte Jahr hier bei uns in der Gemeinde miterlebt hat.

Heute feiern wir nicht nur den Beginn des persischen neuen Jahres, sondern wir begehen auch den Beginn der Karwoche, der Heiligen Woche. Und in dieser Heiligen Woche wird nun unser Blick auf das kommende Jahr genau in die richtige Richtung gelenkt: auf ihn, Jesus Christus, der für uns am Kreuz gestorben ist. Und genau dahin weist uns nun auch die Epistel des heutigen Palmsonntags, stellt uns ihn, Christus, den Gekreuzigten, hier ganz groß vor Augen.

Da standen die Christen in der Gemeinde in Philippi damals schon vor ganz ähnlichen Herausforderungen wie wir heute auch: Ganz typisch menschlich ist es ja, in einer christlichen Gemeinde immer zuerst und vor allem danach zu fragen, was mir das denn bringt, wenn ich dort zur Gemeinde gehöre, was für Vorteile ich denn davon habe. Doch der Apostel Paulus ermahnt die Christen in Philippi hier ganz eindeutig: „Ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient.“ Wer danach fragt, was mir denn die Gemeinde bringt, was für Vorteile ich davon habe, ob ich dort denn auch genügend erbaut werde, der hat noch überhaupt nicht verstanden, was eigentlich eine christliche Gemeinde ist, aus was für Quellen sie lebt. Paulus beschreibt das dann hier zu Beginn unserer Predigtlesung positiv so: „Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht.“ Paulus erwartet also, dass die Ausrichtung der Gemeinde auf ihn, Jesus Christus, auf das, was er in der Taufe mit uns gemacht hat, dass diese Ausrichtung auch die Erwartungshaltungen der Gemeindeglieder und ihren Umgang miteinander prägen wird. Ja, Paulus erwartet, dass die gemeinsame Ausrichtung auf Jesus Christus und auf den Weg, den er gegangen ist, sich auswirken und widerspiegeln wird in dem Umgang der Gemeindeglieder untereinander. Und so wollen auch wir uns von Paulus dazu anleiten lassen, auf ihn, Jesus Christus, und seinen Weg zu schauen und unser Zusammenleben in der Gemeinde davon bestimmen zu lassen:

Er, Jesus Christus,

  • - hat nicht an seinen Ansprüchen festgehalten
  • - ist seinen Weg ganz nach unten gegangen
  • - wird einmal von allen als Herr angebetet werden

I.

Früher gab es in vielen Gemeinden eine Sitte, dass Gemeindeglieder in der Kirche einen festen Platz hatten. Auf diesem Platz saßen sie immer, wenn sie in die Kirche kamen – und weh denen, die es wagen sollten, sich ausgerechnet auf diesen Platz zu setzen! Nein, dieser eine Platz war fest reserviert, selbst wenn sonst die halbe Kirche leer war.

In diesem Kampf um den Stammplatz kommt eine weit verbreitete Erwartungshaltung von Gemeindegliedern gegenüber ihrer Gemeinde zum Ausdruck: Ich habe hier in der Kirche bestimmte Ansprüche, vor allem natürlich den Anspruch darauf, dass alles immer so weiter läuft wie bisher, wie es immer schon gewesen ist. Und wenn dann andere kommen, die mir meinen Platz wegnehmen, ja derentwegen sich Dinge hier in der Gemeinde verändern, dann protestieren wir dagegen, dann sind wir nicht einfach bereit, das hinzunehmen, dann drohen wir einfach damit, dass wir die Gemeinde verlassen und anderswo uns eine geistliche Heimat suchen, eben dort, wo wir sicher sein können, dass sich dort nicht so schnell etwas ändert wie hier in dieser Gemeinde!

Der ewige Sohn Gottes hatte auch einen Stammplatz – ganz weit oben bei Gott, in seinem Schoß, in seiner unmittelbaren Nähe und Gemeinschaft. Er hatte es wirklich nicht nötig, sich von irgendjemandem von diesem Stammplatz vertreiben zu lassen. Ja, alles Recht hatte er, dort in dieser Gemeinschaft mit Gott, seinem Vater, zu bleiben. Er war nicht wie Adam, der sich durch den Verzehr einer Frucht Gott gleichzumachen hoffte und dann erleben musste, wie der Verzehr der Frucht ihm nicht das Geschenk einbrachte, wie Gott zu sein, sondern ihn im Gegenteil von Gott entfernte. Jesus begehrt nicht, was ihm nicht zusteht, sondern teilt aus, was er besaß und für sich hätte behalten können.

Ja, Jesus hat es aus Liebe zu uns getan: Er hat auf seine Ansprüche verzichtet, die viel weiterreichen als alles, worauf wir hier auf Erden jemals unseren Anspruch erheben könnten, hat diese Ansprüche nicht um jeden Preis festgehalten. Und damit wird er, Gott geb’s, auch immer wieder neu unser Zusammenleben prägen, dass keiner an dem festhält, worauf er meinte, einen Anspruch erheben zu können, dass keiner mehr zuerst darauf guckt, was seinem eigenen Vorteil dient, sondern umkleidet mit Christus wie mit einem Kleid nun auch verzichten lernen kann – verzichten auf kurze Gottesdienste, verzichten darauf, dass der Pastor einem gleich immer so zur Verfügung steht, wie man das selber gerne möchte, verzichten auf den kleinen, überschaubaren Kreis von Gemeindegliedern, mit dem man immer schon zusammen war. Wenn es uns schwerfällt, dann lasst uns auf Christus blicken, auf ihn, der auf alles verzichtet hat, um uns unendlich reich zu machen – aus Liebe zu uns.

II.

Neulich erzählte mir ein Gemeindeglied, dass es hier im Gottesdienst neben jemand sitzen musste, der seinen Kopfhörer aufgesetzt hatte und so laut Musik hörte, dass jenes Gemeindeglied sich kaum noch auf den Gottesdienst konzentrieren konnte. Und immer wieder höre ich Klagen von Gemeindegliedern und Taufbewerbern, dass sie es für unerträglich halten, gemeinsam mit Leuten hier in der Gemeinde sein, hier im Gottesdienst sitzen zu müssen, die es mit ihrem Glauben überhaupt nicht ernst meinen. Ja, das gibt es in der Tat, dass auch Menschen hier zu uns kommen, die sich in Wirklichkeit gar nicht so sehr für den christlichen Glauben interessieren, als vielmehr darum, möglichst einfach und elegant an eine positive Antwort in ihrem Asylverfahren kommen zu können. Und ich verstehe die Taufbewerber und Gemeindeglieder, die es mit ihrem Glauben so ernst meinen, dass ihnen das weh tut, wenn sie merken, dass da Leute sitzen, die auf wundersame Weise wieder zu Muslimen mutieren, sobald sie hier das Kirchgebäude wieder verlassen haben.

Wenn ihr solche Erfahrungen macht, dann denkt an Jesus Christus, denkt daran, was er für euch gemacht hat. Er ist aus dem Himmel zu uns gekommen, ist ganz einer von uns, ist ganz Mensch geworden – so sehr, dass er schließlich überhaupt nicht mehr in seiner Gestalt unterschieden werden konnte von allen anderen Menschen, ja selbst von den allergrößten Sündern. Wenn es euch schwerfällt, in der Gemeinschaft mit Leuten zu sein, die ihr Interesse am christlichen Glauben nur vortäuschen, dann schaut auf ihn, Christus. Wie schwer muss es ihm gefallen sein, nicht mehr unterscheidbar zu sein von Menschen, die von ihm und seinem Willen so gar nichts wissen wollten! Und Jesus ist ja seinen Weg immer noch weitergegangen. Er ist nicht nur ganz Mensch geworden, ganz einer von uns geworden, sondern er hat sich schließlich sogar töten lassen, auf furchtbare Weise am Kreuz. So tief nach unten hat ihn sein Weg geführt – bis in den Tod.

In welche Richtung schaust du, wenn du hier in der Gemeinde bist? Willst du möglichst ganz nach oben, möglichst der erste sein, den der Pastor drannimmt, den der Pastor tauft, für den er sich Zeit nimmt? Willst du die Gemeinde als Sprungbrett nehmen, um hier in Deutschland möglichst gut voranzukommen? Und ist es dir klar, dass der Weg, den Christus uns vorgezeichnet hat, genau umgekehrt verlaufen ist – bis in die tiefste Erniedrigung? Jesus ist diesen Weg gegangen aus Liebe zu uns – und weist gerade so auch uns den Weg, den wir gehen sollen und dürfen, auch hier in der Gemeinde: den Weg der Liebe, die alles erträgt, die allen dient – den Weg der Liebe, die darum weiß, dass Christus mit seinem Gang zum Kreuz alles, wirklich alles getan hat, damit wir gerettet werden, damit wir selig werden. Mögen wir auch selber auf diesem Weg in der Nachfolge unseres Herrn bleiben, uns zu den Geringen halten, zu denen, die unsere Zuwendung besonders brauchen. Es ist ein Weg, der die große Verheißung hat unseres Herrn!

III.

Aber nun ist Jesus eben nicht im Tode geblieben, war ganz unten auf seinem Weg nicht einfach Schluss führ ihn. Im Gegenteil: Gott selbst hat eingegriffen, hat ihn, Jesus, von ganz unten nach ganz, ganz oben geführt, hat ihn auferweckt und zum Herrn über die ganze Welt eingesetzt. Ja, so werden es einmal alle Menschen bekennen: Er, Jesus, ist der Herr, er, Jesus, ist der Gott des Alten Testaments, er, der schon im Buch des Propheten Jesaja ankündigen ließ, dass sich einmal alle Knie vor ihm beugen werden.

Ja, schaue auf dieses Ziel deines Lebens, wenn dir manche Veränderung hier in der Gemeinde schwerfällt! Darum sind wir hier Sonntag für Sonntag versammelt, um schon hier und jetzt dem zu begegnen, vor dem einmal alle Menschen niederfallen werden. Denke daran, warum wir diese Arbeit hier in der Gemeinde machen: Wir möchten, dass so viele Menschen wie möglich einmal voller Freude und nicht voller Schrecken vor ihm, Christus, niederfallen werden. Und wenn du dich über den Menschen ärgerst, der den Glauben an Jesus Christus so wenig ernst zu nehmen scheint, dann denke daran: Auch er wird einmal vor Christus auf die Knie sinken und ihn anbeten. Ja, was für eine großartige Zukunftsperspektive stellt uns Gottes Wort hier vor Augen: Alle, wirklich alle Menschen werden einmal vor Christus auf den Knien liegen und ihn als Herrn und Gott anbeten: Ayatollah Khomeini wird einmal vor Christus auf den Knien liegen, Osama bin-Laden ebenso, die Leute, die dich jetzt im Asylbewerberheim schikanieren und auslachen und dich als Kouffar beschimpfen – ja, sie werden einmal Christus als ihren Herrn und Gott bekennen und anbeten müssen. Möge uns dieser Ausblick in die Zukunft immer wieder neu die nötige Gelassenheit schenken, wenn wir hier in unserer Gemeinde immer wieder auch vor ganz praktische Probleme gestellt werden! Wir sind doch auf dem Weg hinter Christus her – und er, unser Herr, führt uns schließlich in der Tat bis in den Himmel! Amen.

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