Römer 11, 13-24 | Mittwoch nach dem 10. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Schwestern und Brüder, sagen wir es ganz ehrlich: Die Frage danach, ob das jüdische Volk einmal von Gott gerettet werden wird, ist nicht die unbedingt die Frage, die uns hier in unserer Gemeinde zurzeit in besonderer Weise umtreibt. Da liegen uns andere Fragen erst einmal näher: Wie sieht es mit meinen eigenen Familienangehörigen und Verwandten aus, die nichts von Christus wissen wollen? Wie sieht es mit den Menschen in meinem Heimatland aus, die von der Botschaft des Islam verführt sind und zugleich so entsetzlich unter dem zu leiden haben, was dort im Namen des Islam alles geschieht? Ist das Thema dieser Woche des 10. Sonntags nach Trinitatis, das Verhältnis von Israel und der Kirche, also letztlich nur ein Spezialistenthema für Theologen, an dem diese sich einmal im Jahr in ihren Predigten ein wenig abarbeiten können?

Wenn wir uns die Predigtlesung des heutigen Abends genauer anschauen, dann werden wir feststellen, dass die Frage, wie es um das Verhältnis von Israel und der christlichen Kirche bestellt ist, in Wirklichkeit gar keine Spezialistenfrage ist, sondern mit uns und mit unserem Glauben ganz direkt zu tun hat. Ich will dies in sechs kurzen Schritten erläutern:

Erster Schritt: Der Apostel Paulus macht hier deutlich: Auch wenn wir keine Juden sind, haben wir als Christen eine Geschichte, die wir mit dem jüdischen Volk teilen und in der wir verwurzelt sind. Es verhält sich mit unserem christlichen Glauben eben ganz anders als etwa mit dem Buddhismus, der letztlich nur irgendwelche allgemeingültigen Wahrheiten verbreitet, aber nichts von einer Geschichte Gottes mit den Menschen weiß. Es verhält sich mit unserem christlichen Glauben auch ganz anders als mit dem Islam, der letztlich auch eine zeitlose Botschaft verbreitet, der letztlich auch keine Heilsgeschichte kennt, sondern nur den Ruf zur Umkehr zum Glauben an Allah. Doch für uns Christen ist das ganz entscheidend wichtig, dass Gott mit uns Menschen eine Geschichte hat, die er gemeinsam mit uns gegangen ist, eine Geschichte, die mit der Schöpfung angefangen hat, in der Abraham eine entscheidend wichtige Rolle spielt, eine Geschichte, die dann aber darin einmündet, dass er, Gott selber, für uns Mensch wird, um uns zu retten. In dieser Geschichte gründet unser Glaube, ohne diese Geschichte könnte unser christlicher Glaube genauso wenig überleben wie ein Baum, der abgesägt und von seiner Wurzel getrennt wird.

Zweiter Schritt: Entscheidend wichtig in dieser Geschichte ist, dass Gott ganz konkreten Menschen oder Menschengruppen Versprechen gibt, die er nicht mehr zurücknimmt. Genau das treibt den Apostel Paulus hier ja so sehr um: Wenn Gott Israel Versprechen gegeben hat, dann können die doch nicht einfach hinfällig werden, auch wenn es im Augenblick so aussieht, als ob diese Versprechen überhaupt nichts wert seien! Nein, sie werden auch nicht hinfällig, so bekräftigt es der Apostel. Gott steht zu seinem Wort, steht zu seinen Versprechen, steht damit auch zu dem Vorrang, den er Israel vor anderen Völkern eingeräumt hat. Israel bleibt der Ölbaum, in den alle anderen Menschen, die nicht Juden sind, eingepfropft werden können, der allein aber der Ölbaum mit der Wurzel bleibt, die alle anderen trägt. Ja, das ist auch für uns ganz wichtig, dass wir das festhalten können: Gott steht zu seinen Versprechen, die er gibt, nimmt sie nie mehr zurück. Auch du darfst dich auf Gottes Versprechen verlassen, das er dir in Deiner Taufe gegeben hat. Das wird so wenig hinfällig wie das Versprechen, das Israel von Gott erhalten hat! Gott hat dir versprochen, dich selig zu machen – und zu diesem Versprechen steht er, ohne jede Einschränkung!

Dritter Schritt: Du kannst niemals allein für dich Christ sein, du kannst niemals allein gerettet werden. Sondern deine Rettung, dein Leben liegt darin begründet, dass Gott dich in der Taufe in sein Volk eingefügt hat, dass du mit vielen anderen ein Zweig am Ölbaum Israel bist. Klinke dich darum niemals aus dieser Gemeinschaft aus, reiß dich nicht wieder aus diesem Ölbaum aus, denke ja nicht, es würde ja auch genug sein, wenn du ganz persönlich für dich an Jesus denkst. Du brauchst den Ölbaum, du brauchst das Leben in der Gemeinschaft und in der Geschichte des Volkes Gottes, du brauchst den Gottesdienst, in dem du immer wieder an diese Geschichte des Volkes Gottes angeschlossen wirst. Gemeinsam mit Israel haben wir auch heute wieder zu Beginn des Gottesdienstes einen Psalm gebetet; gemeinsam mit Israel werden wir nachher in den Lobpreis des Herrn aller Heerscharen, des Herrn Zebaoth, einstimmen; gemeinsam mit Israel werden wir nachher mit dem Segen Aarons gesegnet werden.

Vierter Schritt: Denke niemals, du hättest es verdient, dass Gott dir seine Verheißungen geschenkt hat, dass er dir das ewige Leben geschenkt hat, dass er dich in der Taufe zu seinem Kind gemacht hat! Gerade wenn du auf die Geschichte Gottes mit Israel zurückblickst, kannst du nur darüber staunen, dass Gott auch dir in dieser Geschichte einen Platz eingeräumt hat. Er hat es nicht getan, weil du besser wärst als die Glieder des jüdischen Volkes. Es ist unbegreifliche Gnade, dass Gott auch dir den Platz in seinem Volk eingeräumt hat, dass er auch dich mit seinem Geist, mit dem Glauben an ihn beschenkt hat! Ja, es ist wichtig, dass wir dies Tag für Tag in unserem Leben durchbuchstabieren, was das heißt, dass wir tatsächlich allein aus Gnade gerettet werden!

Fünfter Schritt: Den Versprechen Gottes entspricht allein der Glaube. Gottes Wort zielt nicht darauf, dass wir nun etwas tun, was nötig ist, damit wir auch gerettet werden, sondern Gottes Wort zielt darauf, dass wir bei seiner Güte bleiben, wie es Paulus hier formuliert. Glaube ist nicht eine einmalige Entscheidung; Glauben ist ein Bleiben bei Gottes Güte, ein Bleiben bei seiner frohen Botschaft, ein Bleiben bei seinen Sakramenten. Wir müssen gerade nichts tun, sondern dürfen einfach dort bleiben, wohin Christus uns gerufen und gesetzt hat. Aber niemals sollen wir uns davon wieder trennen, weil wir uns sonst tatsächlich von den Quellen des Heils, vom Leben trennen würden, weil wir getrennt von Christus tatsächlich nichts anderes erfahren würden als die Strenge Gottes, der von uns nichts weniger erwartet als die Einhaltung seines ganzen Gesetzes. Das kann keiner von uns. Es gibt keinen anderen Weg zur Rettung als Jesus Christus allein. Das gilt für uns – und das gilt allerdings auch für Israel, so macht es uns der Apostel Paulus hier sehr eindrücklich deutlich.

Und damit sind wir nun schon beim sechsten und letzten Schritt. Alles, was wir jetzt im Augenblick erleben, ist noch nicht das Letzte. Wir warten auf eine Zukunft, in der Gott einmal endgültig einlösen wird, was er Israel und uns allen versprochen hat. Wir warten auf eine Zukunft, in der auch Israel Christus als seinen Herrn und Messias erkennen wird, ja, wir warten auf eine Zukunft, in der der Tod einmal endgültig seine Macht verlieren wird, in der wir einmal gemeinsam mit denen, von denen uns jetzt noch der Tod trennt, vor ihm, Christus, unserem Herrn, stehen werden. Noch ist von dieser Auferstehung so wenig zu sehen wie von der Hinwendung Israels zu Christus. Wobei wir allerdings auch dies sagen dürfen: Es geht auch jetzt und hier schon etwas los: Immer mehr Juden finden in der Gegenwart zum Glauben an Jesus Christus. Und auch mit der Auferstehung geht es jetzt und hier schon los, auch heute Abend, wenn du wieder hier am Altar den Leib und das Blut deines Herrn als Heilmittel des ewigen Lebens empfängst. Da darfst du schon erfahren, wie der Tod entmachtet wird, weil dein auferstandener Herr in dir Wohnung nimmt. Ja, die Geschichte, die Gott einst mit Abraham begonnen hat, sie geht weiter, führt immer wieder neu hier an diesen Altar, lenkt unseren Blick nach vorne auf ihn, den kommenden Herrn, der einmal geschehen lassen wird, was uns jetzt vielleicht noch so unbegreiflich und unwahrscheinlich vorkommen mag. Erinnern wir uns darum noch mal an Abraham: Fast hundert Jahre war er alt, als er am Himmel die Sterne zählen sollte, um zu erahnen, wie groß seine Nachkommenschaft sein wird. Unglaublich – doch Abraham glaubte Gott, und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit zu. Folgen wir ihm gerade darin, ihm, dem Vater des Glaubens, verlassen wir uns mehr auf Gottes Wort als auf das, was uns gerade vor Augen steht! Ja, bleiben wir bloß immer bei Gottes Güte! Amen.

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