Römer 11,25-32 | 10. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

An der Seitenwand der Wittenberger Stadtkirche St. Marien, in der Martin Luther zu predigen pflegte, findet sich ein abstoßendes Relief, die sogenannte „Judensau“. Sie stellt dar, wie Juden angeblich an den Zitzen eines Schweines hängen und sich von ihm säugen lassen. Was für eine beleidigende, abartige Darstellung, die in Wirklichkeit so gar nicht unserem christlichen Glauben entspricht! Kein Wunder, dass vor einiger Zeit ein jüdischer Mitbürger Klage vor Gericht erhob mit der Forderung, diese Judensau von der Wand der Kirche entfernen zu lassen.

Das Gericht wies die Klage ab – und in diesem Fall muss ich tatsächlich einmal der Entscheidung eines Gerichts zustimmen: Mit der Entfernung dieses Reliefs hätte man dem Kampf gegen Antisemitismus und Judenfeindlichkeit gerade keinen Dienst erwiesen, ganz im Gegenteil: Wichtig ist es, dass wir auch durch solche Darstellungen an unsere eigene Geschichte hier in unserem Land erinnert werden, dass niemals in Vergessenheit gerät, was Juden in vergangenen Jahrhunderten bis in unsere Zeit hinein gerade auch von Deutschen angetan worden ist.

In den USA macht sich zurzeit eine neue und gedanklich in Wirklichkeit ganz alte Bewegung breit, die mit dem Schlagwort „cancel culture“ versehen worden ist: Demonstranten nehmen sich das Recht, alle Darstellungen von Zeugen der Vergangenheit, die nicht ihren eigenen Werten voll und ganz entsprechen, zu entfernen und zu zerstören – eine moderne säkulare Form des Bildersturms der Reformationszeit. Bedenklich ist nicht nur, dass sich hier Menschen selbst ermächtigen, im Namen aller ihre eigenen Vorstellungen von dem, was gut und richtig ist, auch mit Gewalt durchzusetzen. Bedenklich ist auch der Umgang mit der Geschichte: Radikale Beseitigung all dessen, was dem eigenen Weltbild nicht entspricht. Genau das hatten wir vor 80 Jahren schon einmal hier in unserem Land, als Bücher verbrannt wurden und man sich dann auch an dass irrsinnige Unterfangen machte, den christlichen Glauben von seinen jüdischen Wurzeln zu befreien und ein wahrhaft arisches Christentum zu schaffen. Entsprechende Bemühungen gibt es auch in der islamischen Welt, wenn man beispielsweise versucht, Jerusalem zu einer muslimischen Stadt umzudeuten und die mehr als 1500 Jahre vor der Geburt Mohammads einfach aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen.

Wenn wir in der Kirche jedes Jahr am 10. Sonntag nach Trinitatis den Gedenktag der Zerstörung Jerusalems begehen, der auch „Israelsonntag“ genannt wird, dann geht es dabei genau darum, allen Formen dieser „cancel culture“ entgegenzutreten. Niemals dürfen wir aus unserer heutigen Sicht entscheiden, was denn noch zu unserer Geschichte gehören soll und welche Teile der Geschichte wir lieber beseitigen, weil sie uns nicht mehr in unser gegenwärtiges Weltbild passen. Und zu unserer Geschichte als Christen, als Kirche gehört ganz entscheidend dazu, dass wir jüdische Wurzeln haben, dass die jüdische Heilige Schrift auch unsere Heilige Schrift ist, dass auch Jesus und die Apostel selber Juden waren. Irrsinn wäre es, diese jüdischen Wurzeln zu verleugnen oder zu behaupten, die Kirche habe sich einfach an die Stelle des jüdischen Volkes gesetzt, das von Gott wegen der Tötung Jesu verworfen worden ist. Gerade auch gegen diese Form der cancel culture wehrt sich der Apostel Paulus in der Predigtlesung des heutigen Sonntags mit allem Nachdruck.

Doch gerade wenn wir das Thema „Israel“ als Christen nicht einfach abhaken können, wenn es für uns Christen von bleibender Bedeutung ist, stellt sich nun die Frage, wie man die beiden Dinge zusammenbekommen kann: Dass Israel Gottes auserwähltes Volk ist und bleibt und dass doch niemand ohne den Glauben an Jesus Christus gerettet werden kann. Genau mit dieser Frage ringt der Apostel Paulus in besonderer Weise in den Kapiteln 9-11 des Römerbriefs. Und dabei bleibt ihm eines entscheidend wichtig: Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Wenn Gott einem Menschen oder einem Volk etwas versprochen hat, dann nimmt er das nie und nimmer zurück, dann hat das Bestand. Das gilt für das Volk Israel, aber es gilt eben auch für uns. Man stelle sich nur einmal vor, Gott würde den Fortbestand dessen, was er uns in unserer Taufe versprochen hat, davon abhängig machen, dass wir in der Folgezeit nach der Taufe nicht allzu sehr sündigen oder dass unser Glaube in der Folgezeit stark genug bleibt. Was für ein entsetzlicher Gedanke! Niemals mehr könnten wir dann gewiss sein, dass wir am Ende unseres Lebens wirklich selig werden, wenn Gott auch noch einmal ganz anders kann und wieder zurücknehmen kann, was er uns vorher versprochen hatte! Denn darauf, dass wir am Ende genügend fromme und glaubensstarke Menschen gewesen und geblieben sind, können wir uns nun wahrlich nicht verlassen! Nein, alles, wirklich alles hängt für unser Leben als Christen daran, dass die Worte des Apostels tatsächlich wahr sind und Bestand behalten: Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Dein Glaube mag noch so wacklig sein – Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Du magst vor deinem eigenen Versagen in deinem Leben noch so sehr erschrecken – Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Gott praktiziert keine „cancel culture“, er löscht die Erinnerung an uns nicht aus, weil wir in unserem Leben versagt haben. Dass er sein Versprechen cancelt, kommt für ihn überhaupt nicht in Frage.

Und wenn uns das klar wird, dass unser Leben und unsere Zukunft nicht von unserem Wohlverhalten, sondern einzig und allein von Gottes Versprechen an uns abhängen, dann werden wir auch mit dem Versagen anderer Menschen barmherziger umgehen, dann werden wir uns niemals zum Richter über andere Menschen aufspielen und meinen, wir hätten das Recht dazu, Erinnerungen an sie einfach auszutilgen. Als Christen können wir beides: Schuld und Versagen in der Vergangenheit klar beim Namen zu nennen – in unserem Leben und im Leben anderer! Und zugleich doch zu unterscheiden zwischen dem Versagen von Menschen und dem, was sie dank Gottes Zusage eben auch sind und bleiben.

Und genauso wendet Paulus diesen Grundsatz auch auf sein geliebtes Volk Israel an. Dass so viele aus diesem Volk ihren Messias Jesus nicht anerkennen, sondern verworfen haben, macht Paulus schwer zu schaffen. Doch es bleibt auch in diesem Fall dabei: Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Brauchen Juden als Jesus Christus nicht, werden sie auch ohne ihn gerettet? Ganz gewiss nicht! Aber Paulus weiß, dass Christus auch am Tag seiner Wiederkunft noch die Möglichkeit hat, diejenigen zu retten, die wir nach unseren menschlichen Vorstellungen schon längst aufgegeben haben, dass er die Möglichkeit hat, ja, es tatsächlich tun wird, dass ganz Israel gerettet wird, jawohl, ganz Israel. In der Begegnung mit dem wiederkommenden Christus werden sie zu ihm finden, werden in ihm Heil und Rettung finden – davon ist Paulus überzeugt. Was für eine großartige Perspektive!

Und diese Perspektive weitet Paulus am Ende unserer Epistel noch mehr, formuliert einen Satz, bei dem einem schon ein wenig die Luft wegbleiben kann: „Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.“ Da steht zweimal „alle“, jawohl: „alle“. Kein Mensch kann sich selber befreien aus dem Gefängnis seiner Schuld und seines Versagens, kein Mensch ist unschuldig, keinen Menschen gibt es, bei dem man bei genauerem Nachbohren nicht Versagen finden könnte. Kein Mensch hat es verdient, gerettet zu werden, geschweige denn, dass er sich selber retten könnte. Alles, wirklich alles hängt an Gott, an dem, was er tut. Und Paulus schreibt hier allen Ernstes: „damit er sich aller erbarme.“ Können wir also damit die Arbeit unserer Missionsgemeinde hier in Steglitz einstellen, brauchen wir Menschen nicht mehr von Jesus Christus zu erzählen, weil am Ende ja doch sowieso alle Menschen gerettet werden? Ganz gewiss nicht! So hat es Paulus selber damals ja auch nicht gesehen, ist auch weiter losgezogen, ist, wie er es im 1. Korintherbrief so schön formuliert, allen alles geworden, um einige zu retten. Und doch spricht Paulus hier ein „Geheimnis“ an, wie er es selber nennt: Dass Gottes Möglichkeiten am Ende doch noch weiterreichen als alles, was wir Menschen ihm zutrauen mögen, dass sein Erbarmen selbst noch Menschen erreichen kann, bei denen wir fest davon überzeugt sein mögen, dass sie doch in Gottes letztem Gericht wahrlich keine Chance mehr haben werden. Es sind Worte des Apostels, die uns auch in unserer Missionsarbeit entlasten, dass eben nicht alles an unseren Bemühungen, an unseren Erfolgen oder Misserfolgen hängt. Gott kann noch viel mehr, als wir ahnen, und er will vor allem noch viel mehr, als wir ahnen.

Israel ist dafür ein besonders wichtiges, eindrückliches Beispiel. Aber es geht, wie gesagt, eben immer auch um uns selber, dass wir darauf vertrauen dürfen, dass Gottes letztes und entscheidendes Wort auch für uns sein Erbarmen bleibt. Was für eine großartige Botschaft in unserer erbarmungslosen Welt! Amen.

Zurück