Römer 12,17-21 | 4. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Manchmal überkommt mich ein wilder Wunschtraum: Ich träume davon, einen Gottesdienst mit meiner Gemeinde feiern zu können – und keiner von denen, die dort in der Kirche sitzen, muss Angst davor haben, dass der deutsche Staat ihn daran hindert, weiter hier in diesem Land den Leib und das Blut des Herrn zu empfangen. Ein verwegener Wunschtraum – weit entfernt von der Realität. Und wenn ich dann aus diesem Wunschtraum erwache, dann blicke ich wieder in Gesichter meiner Gemeindeglieder, in Gesichter voller Angst und Traurigkeit, weil ihnen genau das nicht vergönnt ist, einfach nur fröhlich und unbeschwert einen Gottesdienst zu feiern, ja, weil sie ganz konkret immer und immer wieder mit dem Bösen in ihrem Leben konfrontiert werden.

Ja, sie wollen nichts weiter, als Gottesdienst zu feiern, als den Leib und das Blut unseres Herrn zu empfangen. Doch immer wieder müssen sie es in ihren Abschiebebescheiden lesen, dass der deutsche Staat sie zu seinen Feinden erklärt hat, zu Feinden der Bundesrepublik Deutschland. Ja, wie geht man damit um, wenn man selber gar keine feindlichen Absichten hat, aber von jemand anders zu seinem Feind erklärt wird? Ja, wie geht man damit um, wenn dieser andere – in diesem Fall sogar der deutsche Staat – einen nicht nur zu seinem Feind erklärt, sondern einen entsprechend auch behandelt, einen bekämpft, einen schikaniert, ja, versucht, einen mit allen verfügbaren Mitteln kaputt zu machen? Ja, wie geht man damit um, wenn man mit dem Bösen in solch geballter Potenz konfrontiert wird?

Und genau damit sind wir nun schon mitten drin in der Predigtlesung dieses Sonntags. Da schreibt der Apostel Paulus an Christen, die in ihrer Umgebung auch ganz direkt mit dem Bösen konfrontiert wurden, die angefeindet wurden wegen ihres Glaubens, obwohl sie selber doch gar nicht gegenüber anderen feindlichen gesinnt waren. Ja, Paulus schreibt an Christen, bei denen sich auch schon am Horizont abzeichnete, dass diese Anfeindungen für sie am Ende lebensgefährlich werden könnten.

Was sagt der Apostel den Christen in Rom, was sagt er auch uns zu dieser Frage, wie wir mit dem Bösen, das uns begegnet und bedrängt, als Christen umgehen können und sollen?

Zunächst einmal hat der Apostel hier keine Scheu, Böses auch wirklich böse zu nennen. Er relativiert nicht, sondern spricht in den Versen unserer heutigen Predigtlesung immer wieder klar und eindeutig vom Bösen. Schon im Alten Testament bringt es der Prophet Jesaja sehr klar und eindeutig auf den Punkt: „Weh denen, die Böses gut und Gutes böse nennen.“ Wenn treue Christen verleumdet werden, dass sie in Wirklichkeit gar keine ernsthaften Christen sind, dann ist das böse, abgrundtief böse. Wenn Glieder unserer Gemeinde ihren Abschiebebescheid mit offen rassistischen Argumentationen erhalten, dann ist das böse, auch und gerade, wenn man diesen Rassismus am liebsten noch zum Teil einer christlichen Leitkultur in Deutschland erklären würde. Ja, es ist wichtig, dass wir dem Propheten Jesaja folgen und Böses auch wirklich böse nennen und nicht doch irgendwie ein wenig gut.

Sodann aber sollen wir uns darüber im Klaren sein, was für eine Macht das Böse, dem wir begegnen, auch auf uns, auf unser Leben ausübt. Wenn uns Böses widerfährt, wenn wir Böses erleiden, dann ist nicht allein das Unrecht gefährlich, das uns von diesem Bösen angetan wird. Sondern noch gefährlicher ist, dass das Böse die Kraft hat, uns selber auch böse zu machen. Das Böse, das wir erfahren, bleibt nicht außen vor, sondern dringt in unser Herz hinein, versucht, uns zu Reaktionen zu bewegen, die genau dem entsprechen, was wir gerade zuvor erfahren haben: Ich werde selber auch böse, weil Böses mich betroffen hat. Ja, das Böse, das wir erfahren, ist noch ansteckender als Corona, es befällt uns und sorgt dafür, dass wir von diesem Bösen vergiftet werden, ja, dass wir dieses Böse selber auch weitertragen – in der vermeintlich guten Absicht, das Böse, das wir erfahren haben, zu bekämpfen. Und genau davor warnt uns der Apostel Paulus eindringlich: „Vergeltet niemandem Böses mit Bösem!“ Lasst euch nicht vom Bösen infizieren; unterbrecht diese Infektionskette, indem ihr nicht der Logik des Bösen folgt, dass Bösem nur mit Bösem begegnet werden kann!

Stattdessen mahnt der Apostel: „Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.“ Das klingt natürlich wunderschön und richtig. Wer von uns würde das in Frage stellen wollen, dass wir als Menschen immer auf Gutes bedacht sein sollen. Doch wie können und sollen wir das denn bloß schaffen? Wenn ich auf mich selber blicke, ja, mehr noch, wenn ich in mich selber hineinblicke, finde ich da sehr wenige Ressourcen, die es mir ermöglichen würden, immer auf Gutes gegenüber anderen bedacht zu sein. Ich bin nicht in meinem Herzen ein so guter Mensch, dass aus meinem Herzen immer nur Gutes rinnen würde. Spätestens wenn ich wieder mal mit dem nächsten zynischen BAMF-Bescheid, wenn ich wieder mal mit dem nächsten unfasslichen Verwaltungsgerichtsurteil konfrontiert bin, ist es mit meiner Güte oft sehr schnell vorbei; da merke ich, wie wenig ich dem Bösen, das mir da vonseiten der Vertreter unseres Staates entgegenschlägt, von mir aus entgegenzusetzen habe.

Wo kann ich dieses Gute finden, das ich dem Bösen, das uns gerade hier in unserer Gemeinde so geballt entgegenschlägt, entgegenstellen könnte? Ich finde es nicht in mir, nicht in meinem guten Willen, sondern ich finde es allein in Gott, in seinem Wort, in seinen Gaben, die er für mich bereithält. Die sind wirklich gut, ohne jede Einschränkung, ja, mehr noch, die haben die Kraft, auch mich selber mit Gutem auszurüsten, das ich dem Bösen entgegenhalten kann, gerade auch hier in der Arbeit in unserer Gemeinde.

Schwestern und Brüder: Die größte Herausforderung, vor der wir hier in unserer Gemeinde im Augenblick stehen, ist nicht die Corona-Pandemie. Die trifft uns natürlich als große Gemeinde besonders hart, weil sie die Gemeinschaft, wie wir sie bisher immer gelebt hatten, zurzeit beinahe unmöglich macht, weil sie so viel verhindert, was ansonsten zum Herzstück unserer Gemeindearbeit zählte. Wir können uns eben nicht gemeinsam versammeln, um miteinander Gottesdienst zu feiern, müssen es aufgeteilt auf über 20 Gottesdienste in der Woche machen. Ja, das tut weh. Und doch sehe ich diese über 20 Gottesdienste auch zugleich als einen Segen an, den wir gerade erfahren. Wir erleben im Augenblick, wie das Böse in besonders konzentrierter Form auf unsere Gemeinde einprasselt, wir erleben, wie die Corona-Krise bei nicht wenigen Menschen die schlimmsten und niedersten Instinkte angestachelt hat, die nur darauf ausgerichtet sind, den Feind, also in diesem Fall die Glieder unserer Gemeinde, kaputtzumachen. Und da hilft tatsächlich nur eines: Gottesdienst feiern, Gottesdienst feiern, Gottesdienst feiern. Immer wieder neu Gottes gutes Wort vernehmen gegen die bösen Worte, die wir jeden Tag hören und lesen müssen. Immer wieder neu Gottes gute Gaben empfangen gegen die bösen Bescheide, die unsere Gemeindeglieder Tag für Tag entgegennehmen müssen. Das allein hilft uns durchzuhalten, hilft uns, nicht von dem Bösen vergiftet zu werden, das uns entgegenschlägt. Immer und immer wieder die Botschaft von Gottes Liebe zu vernehmen, von Gottes Zuwendung zu denen, die in den Augen der Menschen nichts wert sind. Ja, immer und immer wieder die Botschaft von dem kommenden Christus zu vernehmen, der den Herren dieser Welt einmal endgültig ein Ende bereiten wird.

Der Apostel Paulus schreibt hier: „Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes!“ Ja, wenn uns wieder einmal ganz unchristliche Gedanken überkommen angesichts des Unrechts, angesichts des Bösen, das wir erleben, dann tun wir gut daran, bei der Feier des Heiligen Sakraments immer wieder dem wiederkommenden Christus entgegenzublicken, vor dem einmal auch all diejenigen voller Scham niederfallen werden, die jetzt noch sich anmaßen, die Intensität der Glaubenstiefe unserer Schwestern und Brüder ausmessen zu können. Christus wird einmal Recht sprechen, wird einmal auch all das Böse, auch all das Unrecht zur Sprache bringen, das unsere Gemeindeglieder jetzt erleben. Wenn wir uns um den Altar sammeln, dann ist sie da, die Gegenwelt, die allein uns davor bewahren kann, angesichts des Bösen in dieser Welt zu verzweifeln, erst recht, wenn sich dieses Böse dann auch noch einen christlichen Anstrich gibt.

„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem!“ Ja, Schwestern und Brüder, ich weiß: Wir tun uns oft so schwer mit der Feindesliebe, damit, die zu lieben, die uns so Böses angetan haben und antun. Doch wir können zumindest damit beginnen, dass wir angesichts des Bösen weiter uns um Christus versammeln, genau das tun, was die Vertreter unseres Staates unseren Gemeindegliedern vorenthalten wollen – das gemeinsame Hören auf Gottes Wort, den gemeinsamen Empfang des Leibes und Blutes des Herrn. Nein, das ist keine Demonstration, das ist einfach nur Auftanken an Gutem, auch wenn dieses Gute, was wir hier miteinander erleben und praktizieren, das Böse derer, die unsere Gemeindeglieder als Feinde bekämpfen, nur noch deutlicher erkennbar werden lässt. Lass dich nicht vom Bösen überwinden – empfange die Vergebung deines Herrn, erfahre immer wieder neu, dass du selber auch die Vergebung brauchst, und dann singe, wenn auch nur ganz leise und verdeckt in diesen Zeiten, aber nichtsdestoweniger fröhlich, singe von deinem Herrn, der stärker ist als das Böse, der dem Bösen den Kopf zertreten hat, als er es bis zum letzten erlitten hat am Kreuz von Golgatha.

Nein, wir können das Böse nicht aus dieser Welt verschwinden lassen, so gerne wir dies auch täten. Wir können es erst recht nicht dadurch verschwinden lassen, dass wir selber böse werden. Aber wir können gegen das Böse anfeiern in den Gottesdiensten, können jetzt schon teilhaben an der neuen Welt Gottes, in der das Böse einmal keinen Platz mehr haben wird, in der auch kein Glied unserer Gemeinde jemals noch wird Angst haben müssen, aus dieser Welt wieder abgeschoben zu werden. Hier ist alles gut – und dann kann es glatt passieren, dass uns dieses Gute so verändert, dass wir sogar auf das Böse richtig gut reagieren können. Und da habe ich von den Gliedern unserer Gemeinde tatsächlich schon eine Menge lernen können, die auf Böses so gut reagiert haben, dass sie mich damit beschämt haben. Nein, was Paulus hier über das Böse und das Gute schreibt, ist keine weltfremde Utopie. Das geht, so gewiss in unseren Gottesdiensten tatsächlich jetzt schon nichts als Gutes ausgeteilt wird, ja, der eine Gute in Person: Christus selbst. Amen.

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