Römer 12,9-16 | Mittwoch nach dem 2. Sonntag nach Epiphanias | Pfr. Dr. Martens
Der Januar ist immer wieder die Zeit im Jahr, in der in den Gemeinden Bilanz gezogen wird: Wie hat sich die Gemeinde im vergangenen Jahr entwickelt, was für Probleme hat es gegeben – und wie soll es nun in diesem neuen Jahr weitergehen? Viele verschiedene Aspekte sind da zu bedenken. Und da kann uns die Predigtlesung des heutigen Abends eine wichtige Hilfe sein: Wenn man sie einfach hintereinander weg liest, findet man darin so viele Anweisungen, dass man am Ende schon fast wieder vergessen hat, was am Anfang gesagt wurde. Wenn ich nun über jede einzelne dieser Weisungen heute Abend predigen würde, dann würde es heute Abend doch ein recht langer Gottesdienst werden. Doch wir wollen heute Abend diese lange Reihe von Weisungen als eine Art von Checkliste ansehen, aus der wir nun einige Weisungen herausnehmen, die für uns als Gemeinde von besonderer Bedeutung sind.
Wo stehen wir zu Beginn dieses Jahres 2019? Das können wir nicht unbedingt den Versen unserer heutigen Predigtlesung selber direkt entnehmen; da müssen wir schon ein wenig auf die Kapitel und Verse schauen, die diesen Worten vorausgehen: Wir sind Menschen, die Frieden mit Gott haben durch unseren Herrn Jesus Christus. Wir sind Menschen, die mit Christus in der Taufe gestorben sind, um nun ein neues Leben zu führen. Wir sind Menschen, an denen nichts Verdammliches ist, weil sie mit Christus eins sind. Ja, wir sind Menschen, die gewiss sein dürfen, dass nichts auf dieser Welt sie von der Liebe Gottes trennen kann. Da stehen wir zu Beginn dieses Jahres 2019. Das steht felsenfest, das wird auch bleiben, ganz gleich, was dieses Jahr 2019 noch so alles bringen wird. Ja, das steht felsenfest und kommt nicht erst dann zustande, wenn wir die Checkliste unserer heutigen Predigtlesung auch vollständig abgearbeitet und umgesetzt haben. Ganz im Gegenteil: Nur weil all das feststeht, was ich gerade beschrieben habe, können wir uns überhaupt erst daran machen, die Herausforderungen anzupacken, die in diesen Versen vor uns gestellt werden. Ich greife einige Punkte heraus:
„Einer komme dem anderen mit Ehrerbietung zuvor!“ Ja, das bleibt eine besondere Aufgabe in unserer großen Gemeinde mit so unterschiedlichen Menschen, ja auch mit so unterschiedlichen Interessen in mancherlei Hinsicht. Das tut uns gut, das immer wieder gemeinsam einzuüben: Es geht nicht zuerst und vor allem darum, dass ich in der Gemeinde zum Zug komme, dass meine Bedürfnisse erfüllt und umgesetzt werden. Sondern als Christen achten wir in der Gemeinde zunächst und vor allem darauf, dass die anderen zum Zug kommen, dass sie bekommen, was sie gebrauchen. Und das ist für uns selber dann immer wieder auch hier und da mit Zurückstecken verbunden, dass wir in Liebe tragen, dass andere etwas brauchen, was wir nicht unbedingt für nötig halten, dass wir in Liebe tragen, dass andere in der Gemeinde einfach anders sind als wir. Ja, darum geht es, dass wir in den anderen in der Gemeinde immer wieder neu den Bruder, die Schwester sehen und nicht den Menschen, der uns in seinem Denken und Verhalten vielleicht unser ganzes Leben lang ein wenig fremd bleiben wird. Aber sie sind durch die Taufe Brüder und Schwestern – und das wollen wir in unserer Gemeinde dann auch ganz praktisch leben. Ja, wie gut, dass wir dies schon jetzt in unserer Gemeinde immer wieder erleben, wie Glieder unserer Gemeinde in großer Liebe, ja mitunter beinahe in Selbstverleugnung danach fragen, was die anderen in der Gemeinde brauchen, sich selbst zurücknehmen, damit andere erst einmal zum Zug kommen! Ja, wie gut, dass ich dies immer wieder erlebe, dass es eben nicht bloß solche Gemeindeglieder gibt, die sich darüber aufregen, dass sie nicht immer gleich als erste in der Gemeinde behandelt werden und dann aus unserer Gemeinde weggehen, wenn sie nicht genügend hofiert werden – sondern dass es eben die vielen gibt, die Geduld haben, warten können, anderen den Vortritt lassen, die zeigen, dass der Geist Christi sie tatsächlich in ihrem Verhalten prägt! Ja, genau an diesem Punkt wollen wir weiterarbeiten in unserer Gemeinde in diesem Jahr.
„Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet!“ – Ach, wie treffend umschreiben diese Worte die Spannung, in der wir in unserer Gemeinde immer wieder neu leben! Ach, wieviel Freude erleben wir hier in unserer Gemeinde, wenn es darum geht, ihn, Christus, unseren Herrn, zu loben für das, was er für uns getan hat! Wie fröhlich erzählen mir Menschen von Christus, ihrem Retter! Diese Freude ist auch für mich selber immer wieder eine Glaubensstärkung. Aber direkt daneben steht in unserer Gemeinde eben die Trübsal, steht die Traurigkeit darüber, wie christliche Flüchtlinge hier in unserem Land von staatlichen Behörden behandelt werden, wie diese Behandlung immer offenere Züge von Verfolgung trägt und sich rational nicht mehr erklären lässt. Die Schikanen, denen unsere Geschwister ausgesetzt sind, kosten sie immer wieder Jahre ihres Lebens, fordern ihre Geduld immer wieder bis aufs Äußerste heraus. Ja, gerade auch dazu sind wir in der Gemeinde da, dass wir uns dieser Geschwister in ihrer Trübsal annehmen, ja, sehr persönlich, dass wir uns mit den Fröhlichen freuen, aber gerade auch mit den Weinenden weinen, dass Menschen, die solche Trübsal so direkt zu spüren bekommen, merken: Wir sind in dieser Trübsal nicht allein; da helfen uns andere mit, geduldig zu bleiben!
Und das alles soll getragen bleiben vom Gebet, von der Fürbitte für die, die in besonderer Weise von Trübsal betroffen sind, ja auch und gerade von der Bitte um die baldige Wiederkunft des Herrn, der allein dem Unrecht in dieser Welt ein Ende bereiten kann. Ja, tragen wir die Glieder unserer Gemeinde im Gebet vor Gott, die unter grob rechtswidrigen Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu leiden haben, die unter schwer nachvollziehbaren Gerichtsurteilen zu leiden haben, tragen wir die Glieder unserer Gemeinde im Gebet vor Gott, die mit ihren psychischen Kräften einfach am Ende sind und sich nur noch wünschen, tot zu sein! Tragen wir die älteren Glieder unserer Gemeinde vor Gott, die merken, wie ihre physischen Kräfte schwinden, die darunter leiden, dass sie nicht mehr hierher zum Gottesdienst kommen können! Ja, fassen wir im Gebet immer wieder die Spannung von Freude und Trübsal zusammen!
Aus der Fürbitte folgt dann auch das konkrete Handeln: „Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft.“ Ja, da sind wir hier in unserer Gemeinde immer wieder in besonderer Weise gefordert, dass wir Anlaufstelle sind für so viele Christen in Not, die sich in ihrer Verzweiflung an uns wenden, dass wir ihnen immer wieder auch erst einmal ein Dach über dem Kopf und das benötigte Essen geben. Ja, das ist für uns auch im vergangenen Jahr mitunter eine große Herausforderung gewesen, sowohl in logistischer als auch in finanzieller Hinsicht. Doch wir können und wollen diese Worte nicht aus unserer Bibel streichen, wollen auch weiter gerne ein offenes Haus sein, Gastfreundschaft üben und uns dabei besonders der christlichen Schwestern und Brüder annehmen, die auf unsere Zuwendung angewiesen sind. Nein, Gastfreundschaft bedeutet gerade nicht, dass sich in einer Gemeinde immer dieselben Klüngel gegenseitig einladen, die das schon seit Jahrzehnten tun. Sondern Gastfreundschaft bedeutet, sich der Nöte von Schwestern und Brüdern anzunehmen, die einfach auf unsere Aufnahme angewiesen sind, getragen von der Verheißung Christi: „Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.“
Und dann kommt schließlich noch die wohl schwierigste Weisung für uns: „Segnet, die euch verfolgen; segnet, und verflucht sie nicht.“ Ja, darüber lässt sich einfach predigen und reden, wenn man selber nicht von Verfolgung betroffen ist, wenn man es vielleicht schon für eine Verfolgungsmaßnahme hält, dass ein Arbeitskollege neulich gegrinst hat, als man erzählt hat, dass man sonntags in die Kirche geht. Doch wenn wir in unserer Mitte erleben, wie Christen um ihres Glaubens willen bitterstes Unrecht angetan wird, wie Christen von Vertretern unseres Staates in den Tod geschickt werden mit geradezu zynischen Begründungen, dann wird das mit dem Segnen und dem Nicht-Verfluchen schon recht schwierig. Wir sollen die Mitarbeiter einer offen christenfeindlichen Behörde wie dem BAMF segnen? Wir sollen offen christenfeindliche Richter segnen, sollen uns Worte des Fluches verkneifen? Schwestern und Brüder: Wenn ich sehe, wieviel Leid unseren Schwestern und Brüdern hier in unserem Land zugefügt wird, liegen mir persönlich oft genug auch Worte des Fluchens sehr viel eher auf den Lippen als Worte des Segens. Und doch: Wir sollen segnen – nicht die Behörden als solche, nicht ihr gottloses Tun, wohl aber die, die unseren Geschwistern Böses antun. Ihnen soll unsere Fürbitte gelten, auch wenn das unserem Gefühl, unserem Gerechtigkeitsempfinden ganz gegen den Strich geht.
Nein, das schaffen wir nicht aus eigener Kraft. Das schaffe ich selber erst recht nicht aus eigener Kraft. Da können wir immer wieder nur auf den gekreuzigten Christus blicken, der infolge eines Justizskandals ans Kreuz genagelt wurde und dort noch für die, die ihn ans Kreuz gebracht hatten, betete. Da können wir immer wieder nur auf den gekreuzigten Christus blicken, der uns gegenüber auch keine Worte des Fluchens geäußert hat, sondern der konsequent gesegnet hat und auch weiter segnet. Nein, das heißt nicht, dass wir unseren Mund als Christen nicht aufmachen sollten, wenn wir Unrecht sehen, dass wir schweigen sollten angesichts des Unrechts, das unseren eigenen Schwestern und Brüdern zugefügt wird. Und doch sollen wir es zugleich einüben, auch für die Schreibtischtäter, die mit ihren Taten hier in Deutschland Christen verfolgen, im Gebet einzutreten, dass sie von ihrem bösen Tun umkehren mögen, dass Gott ihnen vergeben möge. Lassen wir es nicht zu, dass die Bosheit, zu der sie fähig sind, auch uns böse macht in unseren Gedanken, Worten und Werken!
Ja, das wird wohl unsere größte Herausforderung sein angesichts des zunehmenden Drucks gegen unsere Geschwister, den wir immer deutlicher in unserem Land verspüren: Zu segnen, zu beten, für die Opfer von Unrecht vor Gott einzutreten. Und dabei wird uns dann immer wieder Christus in das Zentrum unseres Blickes rücken: Er, der für uns sein Leben in den Tod gegeben hat, damit wir nicht bekommen, was wir verdient haben, sondern was er verdient hat. Was für ein Segen, den wir weitergeben dürfen! Amen.