Römer 13, 8-14 | Erster Sonntag im Advent | Pfr. Dr. Martens

„Willkommen im Land der Frühaufsteher!“ – So wird man auf der Autobahn mit großen Schildern begrüßt, wenn man nach Sachsen-Anhalt fährt. Ja, die Menschen in Sachsen-Anhalt stehen im Schnitt einige Minuten früher auf als Menschen in anderen Bundesländern in Deutschland; sie haben die Nase vorn, sind eher wach als andere. Die Frage ist allerdings, was sie dann mit dieser Zeit anfangen, wofür sie denn so früh aufstehen. In Sachsen-Anhalt liegt das wesentlich daran, dass dort besonders viele Menschen Pendler sind und darum eher widerwillig so früh aufstehen müssen, um den langen Weg zur Arbeit anzutreten.

„Willkommen im Land der Frühaufsteher!“ – Dieses Schild könnte man auch über den Eingang unserer Kirche hängen. Man müsste es dann allerdings schon erklären, denn für Außenstehende mag es eher so erscheinen, dass es nicht wenige in unserer Mitte gibt, die mit dem frühen Aufstehen wohl doch eher ihre Probleme haben und sich erst mit einiger Verspätung hier in der Kirche einfinden. Doch es ist in der Tat richtig: Christen sind Frühaufsteher, so macht es der Apostel Paulus in der Epistel des heutigen Ersten Sonntags im Advent deutlich. Sie sind schon wach, während die meisten anderen noch schlafen, noch gar nicht mitbekommen haben, was die Stunde geschlagen hat. Doch im Unterschied zu den armen Pendlern in Sachsen-Anhalt, die nur aus purer Not und purem Zwang so früh aufstehen müssen, haben Christen einen ganz anderen, viel besseren Grund, weshalb sie so früh aufstehen: Sie erwarten etwas Wunderbares, etwas Großartiges, dem sie fröhlich-gespannt entgegenblicken.

Ich gestehe, dass ich eigentlich gar kein Frühaufsteher bin. Am Morgen aufzustehen ist für mich immer ein ziemlicher Kampf, weil die Nacht davor in aller Regel viel zu kurz gewesen ist. Anders war es bei mir immer nur an den Tagen, an denen ich früher in den Urlaub fuhr. Wenn ich da früh aufstehen musste, weil das Flugzeug auf mich wartete, dann war es kein Problem für mich, aus dem Bett zu kommen, denn ich war schon ganz gespannt, was mich nun an diesem Tag wohl erwarten würde. Von solchem Frühaufstehen spricht auch der Apostel Paulus hier. Wir haben wirklich allen Grund, früh aufzustehen, weil vor uns nicht weniger als unser Heil, unsere Rettung liegt, die Tag für Tag näher rückt: Unsere Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. Wir gehen dem Tag unserer Erlösung entgegen, dem Tag, an dem Christus kommen wird und uns einmal endgültig von all dem befreien wird, was uns jetzt noch so bedrückt und belastet. Ja, diese Aussicht lässt einen gleichsam von selbst aufstehen und nach vorne blicken. Während so viele Menschen in unserem Land noch vor sich hin pennen, überhaupt nicht begriffen haben, was die Stunde geschlagen hat, während für so viele Menschen ihre Lebensperspektive nur bestimmt wird von dem Wunsch, Spaß zu haben, Geld zu verdienen, Karriere zu machen, warten wir gespannt auf viel Größeres: Auf die Begegnung mit Christus, dem wiederkommenden Herrn. Ja, genau das ist es, was uns gleichsam von selbst in die Kirche treibt, dass wir diesem kommenden Herrn schon jetzt und hier begegnen dürfen, dass wir hier in unserer Mitte schon erfahren dürfen, dass die Zukunft längst begonnen hat. Ja, hier erhalten wir immer wieder neu die wirklich wirksamen Wachmacher: Wir hören das Evangelium von Jesus Christus und empfangen den Leib und das Blut des wiederkommenden Herrn schon hier und jetzt im Heiligen Mahl. Wer hier von Christus aufgeweckt wird, der kann sich gar nicht mehr vorstellen, wie man sein Leben einfach verschlafen kann, im übertragenen Sinne, aber eben auch im ganz wörtlichen Sinne, dass man einfach schlafen kann, während wir hier doch schon dem kommenden Retter begegnen dürfen.

Wir sind wach, wir wollen die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus nicht verschlafen, wollen bereit sein, ihm zu begegnen. Doch noch leben wir in der Zeit des Morgengrauens, noch leben wir in einer Zeit, in der Christus noch nicht dieser alten Welt mit all ihren Nöten und Problemen ein Ende bereitet hat. Was können, was sollen wir Christen also in dieser Zeit nun tun, in der wir schon wach sind und doch noch warten müssen? Ein Doppeltes gibt uns der Apostel Paulus hier als Antwort:

Von der Liebe spricht der Apostel hier zum einen, von der Liebe, die die Erfüllung des Gesetzes ist. Das Leben in der Erwartung des kommenden Tages Gottes sieht also nicht so aus, dass wir uns mithilfe eines ganzen Gesetzeskataloges vorschreiben lassen, was wir in welcher Situation zu tun haben, was wir essen dürfen, was wir trinken dürfen, was haram ist und was halal. Das Leben in der Erwartung des kommenden Tages Gottes sieht nicht so aus, dass wir uns umtreiben lassen von der Angst, an diesem kommenden Tag in die Hölle gesteckt zu werden, wenn wir uns nicht genau an alle Vorschriften halten, die uns angeblich von Gott vorgegeben sind. Sondern das Leben in der Erwartung des kommenden Tages Gottes, das Leben eines Christen besteht schlicht und einfach in der Liebe, so zeigt es uns der Apostel hier, in der Liebe, die wir als Christen von Gott erfahren haben und die wir nun auch an andere weiterreichen. Nichts weniger als solche Liebe erwartet Gott von uns, nichts weniger als solche Liebe kann auch der Nächste von uns erwarten, der Mensch, mit dem wir in unserem Leben direkt zu tun haben. Liebe – das ist nicht ein unbestimmtes Gefühl, das sind nicht Schmetterlinge im Bauch, sondern Liebe äußert sich ganz praktisch darin, dass wir dem Nächsten nichts Böses tun, dass der Nächste durch uns keinen Schaden leidet. Liebe äußert sich ganz praktisch darin, dass wir nicht in die Ehe von zwei Menschen einbrechen und einen der Ehepartner für uns haben wollen, dass wir umgekehrt auch nicht selber aus der Ordnung ausbrechen, in der Gott selber uns in seiner Liebe eingebunden hat. Liebe äußert sich ganz praktisch darin, dass wir nicht anderen Menschen wehtun, dass wir ihnen nicht wegnehmen, was ihnen und nicht uns gehört, dass wir unser Verhältnis zu anderen Menschen nicht vom Neid bestimmen lassen. Ich kann nicht einen Ehebruch mit dem Verweis auf Liebe rechtfertigen, ich kann nicht den Hass gegen andere Menschen damit rechtfertigen, dass ich ja dafür auch ein paar andere Menschen liebe. Und doch habe ich alle Gebote Gottes nicht erfüllt, wenn ich sie nicht aus Liebe halte – aus Liebe zu Gott und aus Liebe zu den Menschen, denen ich in meinem Leben begegne. Ja, wessen Gewissen vom Wort Gottes geprägt ist, für den gilt in der Tat das aufregend radikale Wort des heiligen Augustinus: Liebe! – Und dann tu, was du willst!

Was für eine wunderbare Gestaltung der Zeit bis zur Begegnung mit dem wiederkommenden Christus; was für eine radikale Anleitung zum christlichen Leben: Liebe – das reicht; darin besteht schon die Erfüllung des Gesetzes!

Liebe – das ist allerdings etwas ganz anderes als Beliebigkeit, so betont es der Apostel zugleich. Das ist ja ein Missverständnis des christlichen Glaubens, das bei Deutschen wie bei Iranern gleichermaßen verbreitet ist: Ich kann als Christ tun, was ich will – ich glaube ja an Jesus; alles andere ist egal. Da kann ich mich dann als Christ auch besaufen, wie ich will, da kann ich als Christ Frauen benutzen, wie ich will, da kann ich als Christ anderen Menschen nachtragen, was sie mir angetan haben – ist alles egal. Hauptsache, ich glaube an Jesus.

Doch was heißt denn Glauben an Jesus? Es heißt doch nicht weniger als Christus anzuziehen wie ein Gewand, in ihm zu leben, mit ihm eins zu sein. Es heißt doch nicht weniger, als sich von Christus prägen zu lassen in seinem Denken, Reden und Tun. Glauben an Jesus heißt nicht: Jesus nett finden, richtig finden, was er sagt. Sondern durch den Glauben lebt Jesus in mir, und das wirkt sich darin aus, dass ich ein freier Mensch bin, dass ich mich in keine Abhängigkeiten begebe. Und darum, weil ich ein freier Mensch bin, besaufe ich mich als Christ nicht, weil ich dann gerade ein unfreier Mensch würde, bei dem nicht Christus, sondern der alte Mensch in mir sehr schnell die Kontrolle über mein Leben und Handeln gewinnt. Weil ich ein freier Mensch bin, lasse ich mich nicht von meinen Trieben beherrschen, werde ich einen anderen Menschen niemals benutzen, um darin die Befriedigung meiner Triebe zu finden. Und weil ich ein freier Mensch bin, werde ich mich auch niemals von Hass und Groll beherrschen lassen, weil ich mich sonst zum Sklaven meiner eigenen Unversöhnlichkeit mache.

Freiheit als Christ habe ich also gerade darin, dass ich allein von Christus und von niemandem sonst abhängig bin, dass er mein Leben ganz bestimmt. Genau diese Freiheit wollen wir jetzt in den Wochen der Adventszeit in besonderer Weise einüben, wollen über unser Leben nachdenken und fragen, wo es da auch in unserem Leben Abhängigkeiten gibt, die nicht dazu passen, dass wir in unserer Taufe doch Christus angezogen haben. Ja, damit haben wir allemal genug zu tun, während wir auf den Anbruch des letzten Tages Gottes warten. Unser Heil rückt doch immer näher. Kommt, schlaft bloß nicht mehr ein! Amen.

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