Römer 13,8-12 | Erster Sonntag im Advent | Pfr. Dr. Martens

Da liege ich im Bett und träume, als ich mit einem Mal durch lautes Klopfen an der Tür geweckt werde. Ich springe auf und laufe zur Tür. „Wo bleiben Sie denn?“, so höre ich eine Stimme von draußen. „Es ist Sonntagmorgen, kurz nach 10 Uhr, die Glocken läuten schon!“ Ich öffne die Tür, laufe in Windeseile zur Kirche, laufe nach vorne an den Altar – und stelle dort fest, dass ich ja immer noch meinen Schlafanzug anhabe und die ganze Gemeinde mich entsetzt anschaut. Und eine Predigt habe ich auch nicht dabei. Was soll ich denn jetzt bloß machen? In diesem Augenblick klingelt der Wecker und befreit mich aus einem typischen Pastoren-Albtraum: Den Gottesdienst zu verpassen, völlig unvorbereitet vor der Gemeinde zu stehen.

Solch eine ähnliche Geschichte erzählt uns auch der Apostel Paulus in der Predigtlesung des heutigen Sonntags: Er klopft an die Tür der Christen in Rom, klopft auch an unsere Tür und will uns damit aufwecken, weil etwas Großes bevorsteht, weil er nicht möchte, dass wir zu spät dran sind und am Ende in der völlig falschen Kleidung mitten am helllichten Tag dastehen.

„Die Stunde ist da, die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe herbeigekommen.“ Es gab Zeiten, in denen Menschen über diese Worte des Apostels nur müde gelächelt haben: Ach ja, so war er, der Apostel Paulus, der glaubte tatsächlich daran, dass diese Welt bald an ihr Ende kommen wird. Aber jetzt, so viele hundert Jahre später, sind wir natürlich klüger, wissen wir, dass es diesen Weltuntergang gar nicht geben wird!

Doch die Stimmung hat sich gedreht, auch hier in unserem Land. Weltuntergangsstimmung macht sich breit, Unheilspropheten überbieten sich in ihren Ankündigungen, wie viel Zeit uns auf dieser Erde noch bleibt, uns zu retten – oder ob ohnehin schon jetzt nichts mehr zu retten ist. Ja, aufwecken wollen auch sie uns vom Schlaf, mehr noch: Sie wollen uns ausdrücklich in Panik versetzen, weil dies nach ihrer Auffassung die einzige Möglichkeit ist, den bevorstehenden Weltuntergang noch aufzuhalten. Die Stunde ist da – wir dürfen keine Zeit mehr verlieren, sonst ist es zu spät!

Ja, die selbstgefällige Gewissheit, dass sich alles in dieser Welt schon irgendwie immer weiter zum Guten entwickeln wird, dass darum alles auch so bleiben kann, wie es ist, ja, dass auch wir alle so bleiben können, wie wir sind, diese selbstgefällige Gewissheit geht den Menschen nicht nur in unserem Land allmählich immer mehr verloren. Und das ist grundsätzlich auch nicht schlecht. Und doch unterscheidet sich die Ankündigung des Paulus ganz grundsätzlich von den Weltuntergangsankündigungen unserer Tage: Er will uns gerade nicht in Panik versetzen, sondern uns im Gegenteil fröhlich nach vorne schauen lassen: „Unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden.“ Paulus lässt uns, im Bilde gesprochen, gerade nicht panisch aus dem Bett fahren und im Schlafanzug in die Kirche rennen. Sondern er lockt uns gleichsam aus dem Bett, sehr ernst, aber zugleich ganz liebevoll: Steht auf, euer Heil, euer Retter Jesus Christus kommt immer näher!

Ja, es ist richtig: Wir sind in dieser Welt dabei, unsere Zukunft zu verschlafen. Es ist richtig: Wenn es drauf ankommt, kreisen wir immer wieder um uns selbst, sind so wenig dazu bereit, uns und unser Leben zu verändern. Ja, es mag sein, dass wir tatsächlich drauf und dran sind, uns hier auf dieser Welt mehr und mehr selber zugrunde zu richten. Und es ist von daher nur zu verständlich, dass es Menschen gibt, die versuchen, die anderen aufzuwecken, ihnen den Ernst der Lage vor Augen zu führen. Doch bei einem machen wir als Christen garantiert nicht mit: Wir lassen uns nicht in Panik versetzen, wir lassen uns in unserem Handeln nicht von der Angst oder der Verzweiflung treiben. Denn was auch immer noch auf uns zukommen wird: „Unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden.“ Wir gehen dem Licht, der aufgehenden Sonne Jesus Christus entgegen und gerade nicht dem Sonnenuntergang, der ewigen Nacht. Es mag sein, dass wir hier und jetzt noch viel Finsternis in unserer Welt, in unserem Leben erfahren müssen. Ich denke an die Tausende von zumeist jungen Iranern, die in dieser Stunde in den Foltergefängnissen ihres Landes sitzen und mit ihrer Hinrichtung rechnen müssen. Ich denke an die vielen konvertierten afghanischen Christen hier in Europa, die ihre Abschiebung in den Tod befürchten müssen. Und ich denke auch an die vielen Menschen überall auf der Welt, die davon betroffen sind, dass Großkonzerne ihre Umwelt rücksichtslos zerstören und ausbeuten. Doch was in Zukunft auch an Dunkelheit noch auf uns zukommen mag: Niemals soll uns diese Botschaft des Advents unseres Herrn Jesus Christus aus den Augen, aus den Ohren, aus den Herzen geraten: „Die Stunde ist da. Unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden.“

Wenn mich an einem Tag voraussichtlich Furchtbares erwartet, dann fällt es mir doppelt schwer, morgens aus dem Bett zu steigen, da ziehe ich am liebsten die Decke über den Kopf und bleibe liegen. Aber wenn ich weiß: Vor mir liegt ein besonders schöner Tag, dann komme ich viel leichter aus dem Bett, dann verschlafe ich auch nicht – schon allein aus Vorfreude auf das, was mich an diesem Tag erwartet.

Und aus dieser Vorfreude leben wir Christen, handeln wir Christen, ja, aus dieser Vorfreude werden wir dann auch bereit, unser Leben zu ändern, nicht alles so zu lassen, wie es war.

Zu einem Kleiderwechsel ruft uns der Apostel hier auf: Für das Leben am Tag taugt der Schlafanzug nicht. Wenn wir im Licht des kommenden Tages unseres Herrn Jesus Christus leben, dann taugt es nicht, immer noch so zu leben, als wären wir gar keine Christen, dann taugt es nicht, immer noch nur um uns selber zu kreisen. „Waffen des Lichts“ – so nennt Paulus hier die neue Kleidung, die wir als Christen tragen sollen. „Waffen des Lichts“ – das erinnert daran, dass wir in unserem Leben immer in einem Kampf stehen, dass wir nicht einfach mit einer einmaligen Kraftanstrengung alles Dunkle in unserem Leben hinter uns lassen können.

Wie sieht diese Waffenrüstung, wie sieht diese neue Kleidung aus, die wir als Christen tragen sollen? „Liebe“, so nennt sie Paulus hier. Liebe – ein scheinbar viel zu großes Wort, und doch zugleich der Schlüssel für all das, was wir als Christen in unserem Leben tun. „Liebe“ – man könnte auch sagen: „Christus“. Denn ihn, Christus, haben wir ja bereits in unserer Taufe als neues, passendes Kleid für unser neues Leben als Christen angezogen, wie auch der kleine Andrej heute Morgen. Mit ihm, Christus, sind wir in der Taufe untrennbar verbunden worden, und er prägt uns seitdem: Er, derselbe Christus, der niemals Böses mit Bösem vergolten hat, der sich nicht von den Mächten der Finsternis hat überwältigen lassen, der in seiner Liebe zu uns bis in den Tod am Kreuz gegangen ist.

Liebe – sie ist das Gegenmittel gegen das Kreisen unseres Herzens um uns selber. Sie nimmt die anderen Menschen in den Blick. Liebe – sie ist eine Realität, mit der wir von Christus beschenkt sind, und sie ist zugleich eine lebenslange Aufgabe, die wir anderen schuldig bleiben, solange wir hier auf dieser Erde sind. Liebe ist es, die uns unseren Mund öffnen lässt, wenn wir von Unrecht und Unterdrückung in dieser Welt hören, wenn wir auch von dem Unrecht hören, das Menschen hier in unserem Land angetan wir. Liebe ist es, die uns danach fragen lässt, was unser Lebensstil für andere Menschen bedeutet, denen es nicht so gut geht wie uns. Liebe ist es, die bereit ist zum Verzicht zugunsten anderer. Liebe ist es, die Menschen mit anderen Auffassungen und Meinungen nicht gleich zum Feind erklärt, sondern sie im Gegenteil zu gewinnen sucht. Liebe ist es, die niemals den eigenen Vorteil sucht, sondern immer danach fragt, was der andere braucht. Ja, gerade so ist die Liebe eine Waffe des Lichts, die wir in dieser Welt brauchen – nicht um anderen damit zu schaden, sondern um sie und andere zu schützen vor all dem, was uns und unsere Welt immer wieder neu in die Finsternis zu ziehen versucht.

Liebe setzen wir als Christen der Panik und der Angst entgegen, aber ebenso auch der eigenen Selbstsucht und Bequemlichkeit. Ja, diese Liebe ist stärker, weil sie ihre Kraft bezieht aus der Vorfreude auf das Kommen des Herrn.

Heute beginnt die Adventszeit, die etwas ganz anderes ist als die Vorweihnachtszeit mit ihrer oft so hektischen Vorbereitung des Geschenkefestes am 24. Dezember. Im Advent üben wir als Christen gerade ein, uns nicht unter Druck setzen zu lassen, uns nicht von der Angst leiten zu lassen, sondern getrost nach vorne zu schauen auf das Kommen unseres Herrn. Im Advent üben wir ein, wieder neu über unser Leben nachzudenken, über das Dunkel in unserem Herzen, das uns immer wieder mit Beschlag zu belegen droht, und uns wieder neu dem hellen Licht des kommenden Christus zuzuwenden. Im Advent üben wir ein, uns nicht von der Finsternis dieser Welt, die uns umgibt, herunterziehen zu lassen, sondern uns in Liebe denen zuzuwenden, die hier und jetzt unsere Zuwendung brauchen.

Verschlafen wir darum nicht diese Adventszeit, weil wir ja so viel anderes zu tun haben, sondern ziehen wir ganz bewusst in dieser Zeit immer wieder die Waffen des Lichts, die Waffenrüstung der Liebe an – und verbreiten wir gerade so Hoffnung in einer Welt, die sich selber keine Hoffnung zu geben vermag! Darum wacht auf – nicht, weil diese Predigt jetzt zu Ende ist, sondern weil unser Herr kommt! Amen.

Zurück