Römer 14,17-19 | 18. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens
Nun haben wir in unserer Gemeinde mittlerweile schon fast 1400 Gemeindeglieder. Immer mehr Menschen kommen hinzu, machen unsere Gemeinde immer noch bunter, als sie ohnehin schon ist. Da wurden gestern in unserer Kirche fast 20 junge Leute aus dem Iran und Afghanistan bei uns getauft, heute Morgen ein kleines Baby, dessen Eltern aus der Ukraine stammen. Dazu gibt es auch einheimische Deutsche bei uns, Menschen aus den USA und Eritrea – und jeder einzelne ist ja ohnehin noch einmal eine Marke für sich. Wie kann man in solch einer bunten Gemeinde eigentlich noch zusammenleben – ja, bekommt der Einzelne in solch einer Gemeinde eigentlich noch, was er braucht und sich wünscht?
Die Frage nach dem Zusammenleben in einer christlichen Gemeinde stellt sich nicht erst uns heute hier in Berlin, die stellte sich auch damals schon den ersten Christen in den Hausgemeinden in Rom. Die große Mehrheit der Gemeindeglieder waren Christen, die aus dem Heidentum stammten, also vorher keine Juden gewesen waren. Die wären nie auf die Idee gekommen, dass es ein Problem sein könnte, bestimmte Dinge zu essen und zu trinken, die hatten aber von daher auch wenig Verständnis für die Minderheit in der Gemeinde, die aus dem Judentum stammte und sich von daher noch den Gesetzen des Alten Testaments verpflichtet fühlten. Ja, das mit dem Zusammenleben von ganz unterschiedlichen Gruppen in einer Gemeinde war schon damals offenkundig nicht so ganz einfach, sodass der Apostel Paulus selber in seinem Brief an die Christen in Rom dazu Stellung nehmen muss, ihnen deutlich machen muss, warum das Zusammenleben in einer christlichen Gemeinde noch einmal etwas ganz anderes ist als das Zusammenleben in irgendeinem Verein. Ja, ganz spannend ist das, was der Apostel Paulus hier vorträgt, auch für uns heute, selbst wenn die Größe und Zusammensetzung der christlichen Gemeinde damals in Rom ganz anders gewesen sein dürfte als bei uns heute.
„Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken“, so beginnt der Apostel. Wie viel in diesem zunächst beinahe belanglos klingenden Satz in Wirklichkeit drinsteckt, können viele unserer neuen Gemeindeglieder sehr gut verstehen. Sie gehörten früher zu einer Religion, in der es ganz wesentlich um Essen und Trinken geht, besser gesagt um das, was man alles nicht essen und trinken darf, weil es haram ist. Der Zusammenhalt in dieser Religion wird wesentlich durch die gemeinsame Einhaltung religiöser Gesetze gestiftet, aus der sich ein einzelner eben nicht ausklinken darf.
Doch Paulus schreibt: Im christlichen Glauben ist das völlig anders. Er ist nicht begründet in der Anerkennung und Praktizierung bestimmter Gesetze und Prinzipien; in ihm werden Menschen nicht dadurch zusammengeschlossen, dass sie alle dasselbe tun beziehungsweise nicht tun. Und von daher spricht Paulus hier auch nicht von der christlichen Religion, sondern er spricht vom Reich Gottes. „Reich Gottes“ lässt sich so umschreiben: „Da, wo Jesus ist“. Das schließt uns als Christen miteinander zusammen, dass wir gemeinsam da sind, wo Jesus ist. Und da, wo Jesus ist, ist es völlig unwichtig, was einer isst und trinkt, da geht es überhaupt nicht mehr darum, dass wir uns mit der Einhaltung von irgendwelchen Regeln den Weg in den Himmel bahnen. Denn da, wo Jesus ist, ist schon der Himmel, da ist Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist, sagt der Apostel.
Nein, er schreibt nicht: In der Kirche müsst ihr Frieden und Gerechtigkeit schaffen, da müsst ihr immer fröhlich sein! Kein moralischer Zeigefinger, kein moralischer Druck. Sondern der Apostel Paulus schwärmt einfach, schwärmt von der ganz neuen Realität, die kein Geringerer als der Heilige Geist selber in der Mitte der christlichen Gemeinde wirkt.
Wenn ich unsere Gemeindeglieder auf ihre Anhörung beim Bundesamt vorbereite, dann warne ich sie davor, bei der Beschreibung der Gründe, warum sie Christen geworden sind, mit dem Wort „aramesh“ zu beginnen, auf Deutsch: mit dem Wort „Frieden“. Denn dieses Wort „aramesh“ lässt sich eben in Wirklichkeit nur begrenzt im Deutschen wiedergeben, löst so schnell ganz falsche Assoziationen aus, als ob es im christlichen Glauben nur um ein gewissen gutes Gefühl ginge, das man sich zur Not genauso gut im Yoga-Studio holen kann. Dabei haben diejenigen, die davon sprechen, dass sie im christlichen Glauben, dass sie auch ganz konkret hier in der Gemeinde „aramesh“ erfahren, in Wirklichkeit ja ganz recht. Paulus selber nennt den Frieden hier als ein ganz entscheidendes Kennzeichen des Lebens in der Gegenwart von Jesus Christus, ermuntert die Christen dazu, in der Gemeinde dem nachzustreben, was dem Frieden dient.
Ja, Frieden ist ein entscheidendes Kennzeichen der Gegenwart des Reiches Gottes, Frieden, der unendlich mehr ist als etwas Seelenruhe, der höher ist als alle menschliche Vernunft, der unser Verhältnis zu Gott und zu den anderen, die mit Christus verbunden sind, umfasst. „Geht hin in Frieden“ – So werden die Christen hier in unserer Gemeinde entlassen, wenn sie hier am Altar die Vergebung der Sünden und den Leib und das Blut ihres Herrn empfangen haben. Ach, wie oft habe ich schon gehört, dass Menschen, die neu in unsere Gemeinde kamen, von eben diesem Frieden gesprochen haben, den sie hier erfahren haben: Hier bei euch ist ein anderer Geist, so sagen sie dann, hier bei euch kann ich wirklich ruhig werden, hier bei euch erfahre ich, dass Jesus wirklich da ist. Nein, das können und sollen wir nicht selber machen, das können wir nicht mit irgendwelchen Tricks herstellen; das ist und bleibt ein Geschenk, wenn Menschen gemeinsam aus der Vergebung leben, gemeinsam erfahren, wie Gott ihnen seine Gerechtigkeit schenkt, die kein Mensch von sich aus hat. Das ist und bleibt ein Geschenk, wenn in einer solch großen Gemeinde wie der unsrigen Menschen doch immer wieder diesen Frieden ausstrahlen, ja, wenn in solch einer großen Gemeinde so viel Freude herrscht, wie wir es bei uns Woche um Woche, ja beinahe Tag für Tag erleben! Ja, das bewegt mich immer wieder, wenn ich mitbekomme, wie Menschen mit all den Lasten und Sorgen, die sie aus ihren Heimen und Unterkünften, die sie auch aus ihren kleinen Wohnungen mitbringen, bedrückt ankommen und dann hier in der Gegenwart Christi aufblühen, aufatmen. Ja, das Reich Gottes ist Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist, nein, nicht Friede, Freude, Eierkuchen, bei dem Probleme unter den Tisch gekehrt werden, sondern Friede, Freude, Gerechtigkeit, Geschenke von Gott, die bewirken, was wir selber niemals könnten.
Wie kann das Zusammenleben in einer großen Gemeinde gelingen? Zunächst einmal also so, dass wir aus dem leben, was Christus selber hier in unserer Mitte schafft, dass wir wahrnehmen, wie reich wir gemeinsam von Christus beschenkt werden. Doch zugleich helfen uns diese Gaben, nun tatsächlich auch ganz praktisch in einem anderen Geist miteinander umzugehen. Davon, dass wir Christus in Gerechtigkeit, in Friede, in Freude in der Gemeinde dienen, spricht der Apostel hier. Das bedeutet, dass wir einander mit derselben Bereitschaft zu vergeben entgegentreten, wie wir dies von Christus selber erfahren haben, dass wir keinem etwas nachtragen, was er gesagt und getan hat, sondern wie Gott selber bei uns, so auch bei unserem Nächsten zu Neuanfängen bereit sind. Das bedeutet, dass wir darauf achten, Unfrieden und Streit aus der Gemeinde fernzuhalten und dabei unseren eigenen Beitrag zum Frieden zu leisten. Und das bedeutet, dass wir selber zu Freudenbringern für andere werden, dass sie an uns und durch uns erfahren, was für eine Freude Jesus Christus uns schenkt. In der Freude Christus dienen, das geht dann in der Tat schon damit los, dass wir da hinkommen, wo Christus sein großes Freudenfest veranstaltet, dass wir uns nicht zurückziehen aus der Gemeinschaft der Gemeinde, weil uns andere nicht passen, sondern uns von der Freude Christi hier im Gottesdienst immer wieder überwältigen lassen.
Und was auch immer wir tun, wie auch immer wir hier in der Gemeinde miteinander umgehen – es soll der Erbauung dienen, schreibt der Apostel. Die Gemeinde Jesu Christi ist nicht ein fertiger Bunker aus Beton, in dem wir uns verschanzen können oder sollen. Sie ist und bleibt ein Bauprojekt, solange es sie gibt. Ja, so sollen und dürfen wir miteinander umgehen, dass Menschen, die neu in unsere Mitte kommen, nicht abgestoßen werden, sondern im Gegenteil sich gerne als Steine in dieses Bauwerk einfügen lassen, selber mit dabei sind bei dem großen Bauprojekt, dessen Architekten nicht wir sind, auch nicht der Pastor, sondern Christus allein.
Schwestern und Brüder: Vor uns liegen in der Gemeinde sicher immer wieder menschliche Herausforderungen. Aber vergessen wir es nie: Wer hierher kommt, hat schon Teil am Reich Gottes, wird hier mit Gerechtigkeit, Frieden und Freude beschenkt, wird damit dazu befähigt, auch anders mit denen umzugehen, mit denen er hier zusammen ist, auch wenn diese anderen vielleicht tatsächlich ganz anders sind als man selber. Ja, das geht, so stellen wir es staunend immer wieder bei uns fest. Denn, und damit widerspreche ich dem Apostel Paulus in Wirklichkeit nicht: Das Reich Gottes hat eben doch mit Essen und Trinken zu tun – nein, nicht mit Vorschriften, was wir nicht essen dürfen, sondern mit der Einladung zu dem einen großen Essen und Trinken, das wirklich Freude, Friede und Gerechtigkeit schenkt, das Menschen verändert und verwandelt, zu dem einen großen Essen und Trinken des Leibes und Blutes des Herrn. Das lässt uns zusammenbleiben – und das lässt uns vor allem bei Christus bleiben. Ja, Gott geb’s, dass gerade so unsere Gemeinde immer weiter gebaut wird! Amen.