Römer 8, 18-25 | Vorletzter Sonntag des Kirchenjahrs | Pfr. Dr. Martens

Da schaue ich mir auf Facebook die Bilder von Gemeindegliedern aus vergangenen Jahren an. Das geht mir immer wieder sehr nahe, wenn ich erkenne, wie schnell viele unserer Gemeindeglieder gealtert  sind. Vor zwei, drei Jahren sahen sie auf den Fotos noch fast aus wie Kinder – und jetzt hat man oft genug den Eindruck, sie seien zehn Jahre älter, als sie in Wirklichkeit sind. Das Leid, die Strapazen, die Angst, die sie in den letzten Jahren erfahren haben, haben ihnen offenkundig Lebenskraft und Lebenszeit geraubt, haben ihnen Lebensphasen geraubt, die die meisten von uns hier in Deutschland ganz selbstverständlich durchlaufen haben. Vergänglichkeit – so unmittelbar vor Augen gestellt im Internet. Und dann gehe ich bei Facebook weiter, schaue auf die Posts meiner Facebook-Freunde aus den vergangenen Tagen. Wie viele Bilder, die ich dort von Gemeindegliedern und Freunden der Gemeinde gepostet sehe, zeigen Leichen, tote Menschen, Opfer von Kriegen und Terroranschlägen, Opfer von Übergriffen gegen Christen angeblich im Namen Gottes. Was für ein geballtes Leid und Elend, was für eine Dokumentation menschlicher Vergänglichkeit in ihrer ganzen Brutalität! Und dann sind da noch die Bilder von verstorbenen Familienangehörigen, die Glieder unserer Gemeinde auf ihrer Facebook-Seite posten – Ausdruck des Schmerzes darüber, von diesen Menschen nicht Abschied nehmen zu können, von ihnen so weit getrennt zu sein. Knechtschaft der Vergänglichkeit – hautnah mitzuerleben auf dem Computerbildschirm.

Ach, wie beklemmend aktuell ist das, was uns der Apostel Paulus in der Epistel des heutigen Vorletzten Sonntags des Kirchenjahrs hier schreibt! Das ist keine abgehobene Theorie, sondern ganz dicht dran an all dem, was wir alle miteinander in unserem Leben mehr oder weniger unmittelbar erfahren.

Ja, tröstlich ist das zunächst einmal, darum zu wissen, dass die Heilige Schrift diese Erfahrungen von Leid und Vergänglichkeit, die wir in unserem Leben machen, nicht beiseiteschiebt, nicht schönredet, nicht verdrängt, sondern ganz direkt und ungeschminkt anspricht. Die Botschaft der Heiligen Schrift, die Botschaft des Apostels Paulus lautet nicht: Wenn du nur an Jesus glaubst, dann wirst du nicht mehr leiden, dann wird es dir nur noch gut gehen, dann wird alles in deinem Leben so laufen, wie du dir das wünschst und vorstellst. Die Botschaft der Heiligen Schrift, die Botschaft des Apostels Paulus ist auch eine ganz andere Botschaft als diejenige der Vertreter eines „Positiven Denkens“: Du musst nur wollen, du musst nur positive Gedanken haben, dann wird am Ende alles gut.

Nein, es ist nicht einfach alles gut. Wir erleben Angst, wir erleben Leid und Sterben, wir erleben so vieles, was uns völlig sinnlos vorkommt. Ja, gewiss, der Blick des Paulus geht hier ganz weit, bezieht auch die außermenschliche Schöpfung mit ein: auch sie ist der Vergänglichkeit unterworfen, auch sie kennt Angst und Leid, ganz gewiss. Doch mir reicht erst einmal schon der Blick auf die Menschen, vor deren Leid wir so gerne die Augen verschließen: auf die Christen aus Eritrea, die in ihren seeuntauglichen Booten auf dem Mittelmeer voller Angst um ihr Leben schreien, auf die bedrängten Christen im Iran, die in diesen Stunden in den Folterkellern der Geheimdienste gequält, misshandelt und vergewaltigt werden und doch zugleich wissen: Wir kommen hier aus diesem Land nicht heraus, weil es europäische Politiker als Erfolg für sich verbuchen, diese gequälten Menschen von Europa, von Deutschland fernhalten zu können. Ja, wir begehen heute auch den Weltweiten Gebetstag für verfolgte Christen, an dem wir an das Leid unserer Brüder und Schwestern denken, das ja auch zugleich das Leid so vieler unserer eigenen Gemeindeglieder ist. Nein, es wird nicht alles allmählich besser, im Gegenteil: Das Seufzen und Sehnen, das Schreien der Geknechteten wird immer lauter, wird immer zahlreicher, auch wenn so viele sich davor am liebsten die Ohren zuhalten.

Doch die Frage ist nun natürlich: Was sollen wir denn machen angesichts all dieses Leids, angesichts all dieser Vergänglichkeit, angesichts von Angst, Sterben und Tod? Schwestern und Brüder: Wir fangen erst an, richtig zu begreifen, was Paulus hier schreibt, wenn wir uns klarmachen, dass er auf eben diese Frage gerade keine Antwort gibt und geben will. Paulus ruft nicht dazu auf, das Leid und die Vergänglichkeit zu bekämpfen. Er ruft nicht auf zu Demonstrationen oder zu Unterschriftensammlungen, um das Leid gequälter Tiere oder gequälter Menschen zu beenden. Er protestiert hier nicht gegen Tierversuche und unökologisches Verhalten, auch nicht gegen Krieg und Unterdrückung. Nein, er sagt nicht, dass wir all dies nicht auch machen könnten und sollten. Aber eines sollten wir uns klarmachen: Mit noch so viel Einsatz und gutem Willen werden wir alle miteinander niemals der Knechtschaft der Vergänglichkeit entkommen, von der Paulus hier spricht. Ich kann laut oder leise gegen den Tod protestieren – es wird nichts daran ändern, dass ich dem Ende meines Lebens entgegengehe und mich nicht selber unvergänglich, unsterblich machen kann. Paulus spricht es sehr drastisch aus: Wir sind alle miteinander „unterworfen“ der Vergänglichkeit, gegen unseren Willen. Und keine Revolution von unserer Seite kann gegen diese Unterwerfung etwas ausrichten, und mögen sich noch so viele daran beteiligen.

Was bleibt uns also, die wir alle miteinander unserem eigenen Sterben entgegengehen, die wir selber schon gezeichnet sind von Leid oder ganz nüchtern damit rechnen müssen, dem Leiden in der einen oder anderen Form früher oder später sehr direkt begegnen zu müssen?

Nein, es bleibt uns nicht bloß die Resignation. Dass wir nichts gegen unsere Vergänglichkeit, gegen all das Leid auf dieser Erde und in unserem Leben ausrichten können, bedeutet nicht, dass alles immer so bleiben wird, wie es einmal war, dass wir uns einfach nur mit dem Unvermeidbaren abfinden. Sondern es hat sich schon etwas getan, schreibt der Apostel. Wir haben, so formuliert er es hier, den Geist als Erstlingsgabe erhalten.

Was heißt das? Es bedeutet: Gott hat bei uns schon damit angefangen, uns für das Leben in einer anderen, einer neuen Welt vorzubereiten, für ein Leben in der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes, wie er es hier so wunderbar formuliert. Sehen konnte man davon nur so wenig, als uns am Tag unserer Taufe das Wasser über den Kopf gegossen wurde und dazu die Worte Christi gesprochen wurden, wie auch heute Morgen bei der kleinen Christina. Und doch hat an diesem Tag, in diesem Augenblick Gottes große Gegenbewegung gegen die Endgültigkeit unserer Vergänglichkeit, gegen die Endgültigkeit von Leiden, Sterben und Tod begonnen. Mit dem Geist Gottes tragen wir schon das neue Leben in uns, das uns einmal am Ziel unseres Lebens erwartet, auch wenn wir dieses neue Leben noch nicht sehen und zumeist auch noch überhaupt nicht fühlen oder spüren können. Doch dass da etwas Neues kommen wird, das steht seit dem Tag unserer Taufe fest. Der Geist Gottes, den wir dort empfangen haben, der ist Gottes Anzahlung, mit der er sein Versprechen an uns rechtskräftig gemacht hat, unumstößlich: Ja, auch du sollst einmal teilhaben  an der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes, an der Welt, in der es einmal keine Vergänglichkeit, kein Leid, keinen Tod, keine Verfolgung, kein Bundesamt, keine Abschiebung mehr geben wird. Du trägst das neue, unvergängliche Leben schon in dir, und jedes Mal, wenn du den Leib und das Blut deines Herrn im Heiligen Mahl empfängst, empfängst du dort wieder neu dieses Heilmittel der Unsterblichkeit, das sich einmal als kräftiger erweisen wird als alle Erfahrungen der Vergänglichkeit, das sich einmal als kräftiger erweisen wird selbst als dein leiblicher Tod.

Noch sehen wir dieses neue Leben nicht. Noch stehen wir auch als Christen Seite an Seite mit allen anderen Menschen, mit allen anderen Geschöpfen dieser Welt. Wir haben nicht weniger Zahnschmerzen und nicht weniger Krebs als andere Menschen – und dass Christen die am häufigsten verfolgte Glaubensgruppe der Welt sind, lässt sich ernsthaft eben auch nicht bestreiten. Noch bleibt uns nichts anderes, als zu hoffen und uns zu sehnen, eben nach dieser neuen Welt, ja, ganz konkret nach der Erlösung unseres Leibes. Was für eine wunderbare Aussicht: keine Schmerzen mehr, keine wackligen Knie, kein Schwindel, keine schrecklichen Träume mehr in der Nacht, keine Narben mehr an Leib und Seele. Gott wird unseren Leib nicht bloß ein wenig notdürftig reparieren, damit er noch ein paar Jahre länger hält. Nein, es wird wirklich ein ganz neuer Leib sein, in dem wir einmal als Kinder Gottes fröhlich vor ihm, unserem Vater, herumspringen werden.

Nein, das ist nicht bloß eine schöne Fantasie, noch viel weniger eine billige Vertröstung ins Jenseits. Das ist schon Realität, seit Christus am Ostermorgen von den Toten auferstanden ist, leibhaftig auferstanden ist. Seitdem brauchen wir nicht bloß nach vorne zu blicken, dürfen schon zurückblicken auf das, womit Gott unsere Befreiung schon längst begonnen hat. Mit Christus im Rücken dürfen wir weiter warten in Geduld, dürfen wir uns dem Ziel entgegensehnen, an dem wir noch nicht angekommen sind. Mit Christus im Rücken können wir unsere Vergänglichkeit, unseren Tod annehmen, weil er eben nicht das Letzte ist. Ja, mit Christus im Rücken dürfen wir diesen atemberaubenden Satz mitsprechen, mit dem Paulus die Verse unserer heutigen Predigtlesung einleitet: „Ich bin überzeugt, ich bin gewiss, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll.“ Nein, da spielt er nicht unser Leiden herunter, als ob das ja gar nicht so groß und wichtig wäre, als ob wir uns da nicht so haben sollten. Paulus weiß, wie gewichtig, wie schwer, wie bedrückend schwer unsere Vergänglichkeit, unser Leid ist. Aber gerade wenn wir das ohne Beschönigung aussprechen und anerkennen, beginnen wir dann vielleicht zu ahnen, wieviel größer, wieviel schöner die Herrlichkeit sein muss, der wir entgegengehen dürfen. Wenn unser Leid schon so gewichtig ist, und das ist es allemal: Wie bedeutsam, wie großartig, wie wunderbar muss es dann erst sein, wenn einmal für alle und für uns selber auch erkennbar sein wird, was da eigentlich in unserer Taufe schon angefangen hat, wenn wir einmal im vollen Lichtglanz unseres Herrn Jesus Christus stehen und strahlen werden!

Nein, es ist nicht umsonst, wenn Christen für ihren Glauben selbst mit ihrem Leben einstehen. Und es ist eben auch nicht ein Abschied für immer, wenn wir einen geliebten Menschen zu Grabe tragen müssen. Die neue Wirklichkeit, die Gott in unserer Taufe gestiftet hat, sie lässt sich durch nichts und niemand zerstören. Da kommt noch etwas auf uns zu: die ganz große Freiheit, die neue Welt Gottes, in der dann eben auch die gesamte Schöpfung ihren Platz haben wird an unserer Seite. Wie schön das sein wird, das kann ich mir jetzt noch gar nicht vorstellen. Aber eins weiß ich: Wir werden es erleben, wir werden mit dabei sein. Wir müssen uns das Leben in der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes nicht erst noch verdienen mit unserem Engagement, mit unseren guten Werken. Denn wir sind doch schon gerettet, schreibt Paulus. Ja, wir sind es schon, so gewiss Gott uns schon jetzt in der Taufe zu seinen Kindern gemacht hat. Ja, wir sind schon gerettet – so lässt es sich leben mit der Vergänglichkeit, so lässt es sich begründet hoffen, so lässt es sich gut denen dienen, die unsere Zuwendung und unseren Einsatz hier und jetzt noch brauchen. Ja, wir sind schon gerettet – und ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nichts ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Und da kann einem dann sogar in allem Seufzen und Sehnen doch auch hier und jetzt schon ein Halleluja über die Lippen kommen! Amen.

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