Römer 8,31b-39| Altjahrsabend | Pfr. Dr. Martens

„Leichtes Gepäck“ – so lautete ein Lied der Band „Silbermond“, das in diesem Jahr 2015 immer wieder im Radio zu hören war. Das Lied beschreibt, mit wie vielem unnützen Ballast wir uns in unserem Leben abschleppen, und wie gut es für uns selber wäre, wenn wir uns endlich dazu durchringen würden, diesen ganzen unnützen Krempel, die ganzen Lasten unseres Lebens, einfach über Bord zu werfen. Und so endet das Lied mit den Worten: „All der Dreck von gestern / All die Narben / All die Rechnungen, die viel zu lang offen rumlagen / Lass sie los, schmeiß sie einfach weg. / Denn es reist sich besser / mit leichtem Gepäck.“

Dass es sich besser mit leichtem Gepäck reist, das ist eine Erfahrung, die so viele unserer Gemeindeglieder und Taufbewerber in diesem Jahr gemacht haben, als sie unterwegs waren auf der Flucht aus ihrer Heimat im Iran oder Afghanistan Richtung Deutschland. In das Schlauchboot an der türkischen Küste konnte man nicht sehr viel Gepäck mitnehmen – und wie viel von dem Gepäck, das man dann noch an Bord nahm, ging dann auf hoher See auch noch verloren! Und wenn es denn nur Gepäck war, das auf der Überfahrt unterging, konnte man ja immer noch sehr froh sein! Ja, mit leichtem Gepäck sind so viele von euch hier in Berlin angekommen, mit sehr leichtem Gepäck.

Aber zugleich ist das mit dem leichten Gepäck auch wieder gar nicht so einfach. So leicht kann man eben all das, was man so mit sich herumschleppt, nicht loswerden, so wissen es gerade auch diejenigen, die hier in Deutschland mit nicht viel mehr angekommen sind als mit dem, was sie auf dem Leibe trugen. Da gibt es eben anderes schweres Gepäck, was man mit sich herumträgt und das man nicht einfach mal schnell wegschmeißen kann, weil es an einem klebt und einen nicht loslässt, so wird es uns gerade am letzten Tag dieses Jahres wieder sehr deutlich. Schuld, die wir auf uns geladen haben, schmerzliche Erinnerungen, die sich in unser Gedächtnis eingebrannt haben, Ängste, die uns umtreiben und uns manches Mal vielleicht auch den Schlaf kosten – all das können wir von uns aus nicht einfach an diesem 31. Dezember ablegen und im alten Jahr lassen, so gerne wir dies auch wollten.

Doch, gottlob, da gibt es einen, der uns heute Abend hier in diesem Gottesdienst begegnet und der allen Ernstes kann, wozu wir selber nicht in der Lage sind, der uns allen Ernstes dieses ganze Gepäck, das wir mit uns herumschleppen, abnehmen will, dass wir in der Tat mit leichtem Gepäck in das Jahr 2016 starten können. Genauso haben wir es eben in der Epistel dieses Silvesterabends gehört, und so wollen wir uns die Worte des Apostels Paulus an diesem Abend nun noch einmal genauer anschauen und anhören:

I.

Wenn wir auf dieses Jahr 2015 zurückblicken, dann dürfte wohl den meisten von uns sehr deutlich vor Augen stehen, wo sie in diesem Jahr Schuld auf sich geladen haben, vor Gott und den Menschen versagt haben. Dabei geht es ja nicht bloß darum, dass man so manchen guten Vorsatz, mit dem man in das Jahr 2015 gestartet war, schon Ende Januar wieder über Bord geworfen hatte. Es geht schon darum, dass wir Gott enttäuscht haben mit unserem Mangel an Glauben und Liebe, dass wir Menschen verletzt haben mit unseren Worten, dass wir sie enttäuscht haben, weil wir nicht gehalten haben, was sie von uns hätten erwarten können. Ja, so ahnen wir es am Ende dieses Jahres: Mit dem, was wir in diesem Jahr gesagt, getan, gedacht haben – und mit dem, was wir alles nicht gesagt, getan, gedacht haben – können wir vor Gott nicht bestehen, und das lässt sich eben nicht aufwiegen durch all das Gute, das wir in diesem Jahr vielleicht auch getan haben mögen. Ja, mit ganz schwerem Gepäck stehen wir heute Abend an der Schwelle des neuen Jahres – mit schwerem Gepäck, das wir selber nicht abstellen, nicht abladen können.

Doch gerade, wenn du dich mit diesem schweren Gepäck abschleppst, darfst du sie hören, die gute Botschaft, die dir Gottes Wort heute Abend ausrichten lässt: „Ist Gott für uns, wer kann wider uns? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt.“ Hörst du, wie dir da die ganzen Lasten abgenommen werden, die du heute Abend in diesen Gottesdienst geschleppt hast? Nein, nicht du musst versuchen, deine Schuld loszuwerden. Gott nimmt sie dir ab. Er ist für dich, so sehr, dass er seinen Sohn für dich hat am Kreuz sterben lassen. Gott ist für dich. Er will dich nicht verdammen, sondern dir ein neues Leben in seiner Gemeinschaft schenken. Sein Sohn Jesus Christus verspricht es dir, garantiert es dir, verspricht dir, für dich einzutreten, wenn der Teufel dich einmal für all das verklagen sollte, was du aus diesem Jahr 2015 mit dir herumschleppst. Nein, nichts und niemand kann gegen dich sein, wenn nur Gott für dich ist. Und der ist es, 100% - so zeigt er es dir jedes Mal, wenn du auf ihn, den gekreuzigten Christus schaust.

 

II.

Aber es ist nicht nur der große Rucksack mit Schuld und Versagen, den wir am Ende dieses Jahres mit uns herumschleppen. Da ist auch der große Koffer mit all den schmerzlichen Erinnerungen, die uns am Ende dieses Jahres einfach nicht aus dem Kopf wollen. Wenn ich auf dieses Jahr zurückblicke, dann steht mir da so manches vor Augen, was mir in diesem Jahr sehr wehgetan hat, Wunden und Narben hinterlassen hat, gerade im Vorfeld der Selbstständigwerdung unserer Gemeinde. Ja, ich merke, wie schnell das immer wieder noch bei mir aufbricht, wenn ich daran erinnert werde. Und doch: Was sind diese Verwundungen schon im Vergleich zu all dem, was so viele von euch in diesem Jahr durchgemacht haben?! Wenn der Apostel Paulus hier von Trübsal, Angst, Verfolgung, Hunger, Blöße, Gefahr oder Schwert spricht, dann werden sich viele von unseren Gemeindegliedern darin sehr direkt wiederfinden: In der Traurigkeit über den Abschied von den Eltern, in der Angst davor, auf dem Weg nach Deutschland verhaftet zu werden, in der Erinnerung an die Folter im Gefängnis oder im Polizeiarrest, in dem Hunger und der Blöße, die so viele von euch in diesem Jahr erfahren haben, als sie auf der Flucht voller Erschöpfung einfach irgendwo auf dem Boden gelegen haben, ohne Essen, ohne Dach über dem Kopf, in der Gefahr in den Schlauchbooten im Ägäischen Meer – und dann eben auch in dem Schwert, in den Angriffen und Bedrohungen in den Asylbewerberheimen, unter denen so viele von euch in diesem Jahr gelitten haben und auch noch weiter leiden. Ja, Verletzungen tragen so viele von uns mit sich in das neue Jahr – und da sagt die Heilige Schrift nun auch nicht: Jetzt, mit diesem 31. Dezember 2015,  sind diese Verletzungen, sind diese Traumata alle geheilt. Ihr müsst nur kräftig an Jesus denken, dann ist all das Vergangenheit, dann ist alles wieder gut. Das sagt Paulus nicht, und das sage ich nicht. Aber der Apostel spricht von etwas anderem: Er spricht von der Liebe Christi. Er spricht davon, dass auch alle schmerzlichen Erinnerungen und Erfahrungen dieses Jahres uns nicht von der Liebe Christi trennen können, dass wir auch in all dem Schmerz, den wir mit uns in das neue Jahr tragen, von dieser Liebe Christi umfangen bleiben, ja, dass diese Liebe Christi in der Tat dann auch heilende Kräfte freisetzt, Kräfte, die uns dann auch helfen können, Ballast zurückzulassen, der jetzt noch so schwer auf unserer Schulter liegt. Die Liebe Christi, sie kann uns helfen, vergeben zu können, sie kann uns helfen, dankbar zu werden, in allem Schweren doch die Führung und Fürsorge Gottes wahrzunehmen und zu erkennen. Wie gut, dass wir umfangen von dieser Liebe unseres Herrn in das neue Jahr gehen können!

 

III.

Aber nun nehmen wir nicht allein aus der Vergangenheit Ballast mit, der uns so schwer zu schaffen macht. Nicht weniger schwer liegt auf unseren Schultern die Angst und die Sorge, wie es wohl im neuen Jahr mit uns weitergehen wird: Werden wir Ende 2016 immer noch hier in Deutschland sein oder abgeschoben worden sein? Werden wir im Jahr 2016 nun endlich nach so vielen Jahren unsere Erstanhörung beim Bundesamt bekommen? Wie wird es mit unserer Arbeit weitergehen? Wie wird es mit unserer Gesundheit weitergehen? Ja, werden wir am Ende des Jahres 2016 überhaupt noch am Leben sein? Und was wird mit unseren Kindern, was wird mit unseren Eltern sein? Was wird mit unserer Gemeinde sein? Wie sollen wir bloß all die Herausforderungen bewältigen, die in diesem kommenden Jahr vor uns liegen? Das können wir doch alles gar nicht schaffen! Wie soll es bloß in unserem Land weitergehen, in dem sich Fronten zwischen den Menschen immer weiter verhärten?

Nein, Antworten auf all diese Fragen erhältst du nicht, wenn du in irgendwelchen Horoskopen nachschaust, wenn du dir von irgendwelchen Zukunftsdeutern den Weg ins neue Jahr weisen lässt. Ich habe auf viele der Fragen, die euch jetzt so sehr bewegen, auch keine Antwort, und ich kann euch nicht versprechen, dass nun im neuen Jahr alles gut wird. Ich kann euch noch nicht einmal versprechen, dass beim LaGeSo im neuen Jahr alles besser wird und ihr nicht noch weiter monatelang dort vergeblich anstehen müsst. Die Botschaft unseres christlichen Glaubens lautet nicht: Alles wird gut! Sondern sie lautet: Was du auch erfährst an Schönem und an Schwerem – nichts kann dich scheiden von der Liebe Gottes. Was auch vor dir liegen mag – du gehst in das neue Jahr umfangen von den liebenden Armen deines Herrn, denen dich nichts und niemand entreißen kann. All deine Ängste, all deine Sorgen darfst du ihm anvertrauen, darfst sie bei ihm abladen. Er wird dich nicht fallen lassen, wird dich weitertragen Richtung Ziel auch im neuen Jahr 2016. Und eben so darfst du ganz getrost das neue Jahr beginnen, entlastet durch ihn, deinen Herrn, darfst in das neue Jahr eintreten – mit ganz leichtem Gepäck. Amen.

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