Rut 1 | Dritter Sonntag nach Epiphanias | Pfr. Dr. Martens

Für die meisten von euch dürfte das wohl das erste Mal sein, dass ihr eine Predigt über das Buch Rut hört, denn bisher war dieses Buch in den Ordnungen der Predigtlesungen schlichtweg nicht vorgesehen. Jetzt, in der neuen Predigtlesungsreihe hat dieses Buch nun endlich seinen Platz gefunden – und das ist eine echte Bereicherung, denn was uns in unserer heutigen Predigtlesung geschildert wird, ist so hochaktuell, dass so mancher sich wohl schon bald wieder wünschen wird, dass man dieses Buch wohl doch wieder aus der Predigtlesungsreihe entfernen sollte.

Um verstehen zu können, warum dieses Buch überhaupt in der Heiligen Schrift gelandet ist, ja, warum auch wir heute davon hören, muss man natürlich wissen, dass diese Geschichte in Wirklichkeit eine Vorgeschichte des Königs David und damit auch eine Vorgeschichte unseres Herrn Jesus Christus ist. Rut ist eine Vorfahrin des Königs David, und wenn damals die Rut nicht mit der Noomi aus dem Land der Moabiter nach Israel gezogen wäre, dann wäre die ganze weitere Geschichte auch anders gelaufen, als sie in Wirklichkeit gelaufen ist. Aber in Wirklichkeit gebraucht Gott natürlich auch diese bewegende Vorgeschichte, um seine Pläne nicht nur für das Volk Israel, sondern für die ganze Welt durchzusetzen.

Ja, die Geschichte, die uns heute hier erzählt wird, ist eine Geschichte

  • von Migration
  • von tiefem Leid
  • von starken Frauen

 

I.

Das klingt alles so nett und harmlos, was uns hier zu Beginn des Buches Rut berichtet wird. Doch in Wirklichkeit ist das natürlich hochbrisant: Da herrscht im Süden Israels eine Hungersnot – und da machen sich Menschen auf den Weg in ein anderes Land, wo sie als Fremdlinge wohnen wollen. Ja, das ging damals tatsächlich so einfach: Wenn Menschen nicht genug zu essen hatten, zogen sie in ein anderes Land, ließen sich dort nieder, wo sich ihnen eine Lebensperspektive bot. Man stelle sich vor, wie diese Geschichte heute klingen würde: Da versuchen doch allen Ernstes einige Wirtschaftsflüchtlinge, als illegale Migranten in ein anderes Land zu ziehen – ja, natürlich gleich eine ganze Großfamilie! Der Moabiterkönig schickt sie gleich an der Grenze zurück: Ja, wir bedauern natürlich eure Situation, aber eure Fluchtursachen, die müssen in eurer Heimat gelöst werden. Da müssen die Verantwortlichen Missstände in eurem Land beseitigen, neue wirtschaftliche Konzepte entwickeln, dann wird es den Menschen in eurem Land in Zukunft auch besser gehen! Aber ihr passt mit eurer fremden Kultur nun wirklich nicht zu uns!

Damals war es ganz klar, so zeigt es uns auch die ganze Heilige Schrift: Migration ist ein Teil des Lebens vieler Menschen. Auf die Idee, Migranten gleich alle zu Kriminellen abzustempeln, wäre man damals in der Heiligen Schrift niemals gekommen. Nein, Migration wird in der Heiligen Schrift ebenso wenig verklärt, es wird nicht beschrieben, was für ein Gewinn Elimelech und Noomi für die moabitische Gesellschaft waren. Doch für die Moabiter war klar: Menschen, die Hunger haben, können bei uns leben. „Moabit hilft“ – das gab es auch damals schon vor über 3000 Jahren. Die Probleme, die Migration mit sich bringt, werden in der Geschichte ebenso deutlich beschrieben: Noomi lebte dort bei den Moabitern schon viele Jahre – aber so ganz angekommen war sie am Ende dort doch immer noch nicht. Als ihr Mann und ihre beiden Söhne gestorben sind, zieht es sie dann doch wieder in die alte Heimat zurück, in der sich die wirtschaftliche Situation in der Zwischenzeit auch geändert hatte. Dass Migranten auch viele Jahre nach der Ankunft im neuen Land doch immer noch Heimweh und Sehnsucht nach ihrer alten Heimat haben – das ist normal, das ist selbstverständlich. Wenn Menschen in unser Land kommen und auch dankbar dafür sind, dass sie hier leben können – und sich dann doch nach der alten Heimat sehnen, dann ist das kein Ausdruck von Undank, kein Ausdruck von fehlender Integrationswilligkeit. Das sind ganz normale menschliche Empfindungen, wie sie auch hier in dieser Geschichte beschrieben werden. Und zu dieser Migrationsgeschichte, die uns hier erzählt wird, gehört dann eben umgekehrt auch, dass es als ganz normal angesehen wird, dass da schließlich auch eine Ausländerin mit ihrer Schwiegermutter zusammen nach Bethlehem zieht. Familienzusammenhalt wurde damals noch großgeschrieben, während wir heute erleben, wie unser Staat Familien auseinanderreißt, es Menschen über viele Jahre fast unmöglich macht, einander zu heiraten, es für zumutbar erklärt, dass Ehepartner über viele Jahre hinweg in verschiedenen Ländern getrennt voneinander leben müssen. Und da glauben wir immer noch, wir hätten uns mit unserer Zivilisation mittlerweile aufwärtsentwickelt! Hätten die deutschen Gesetze damals schon in Israel gegolten, dann hätte Rut jedenfalls keine Chance auf einen Aufenthalt in Bethlehem gehabt.

Und zu dieser Migrationsgeschichte gehört dann eben auch, dass durch Migration Menschen mit dem Glauben an den lebendigen Gott in Verbindung kommen, die sonst in ihrer Heimat niemals die Möglichkeit dazu gehabt hätten, diesen lebendigen Gott kennenzulernen. „Dein Gott ist mein Gott“ – so beschreibt Rut hier ganz knapp ihre Konversion. Ob sie mit solch einer Argumentation heute beim Bundesamt durchgekommen wäre, ist natürlich mehr als fraglich – doch die Heilige Schrift weiß davon, wie auch einfach durch familiäre Kontakte und Bindungen Menschen zum Glauben geführt werden und in diesen Glauben hineinwachsen. Migration – sie war damals die Vorgeschichte, die zur Geburt von David führte. Migration – sie lässt, davon bin ich überzeugt, auch hier in Deutschland, gerade neue Geschichten beginnen, Geschichten, die nicht nur unserem Land, sondern gerade auch unserer Kirche sehr gut tun!


II.

Ein Zweites wird uns hier in der Geschichte von Rut vor Augen geführt: Die Vorgeschichte, die zur Geburt von David und damit auch zur Geburt von Jesus Christus führt, ist eine Geschichte voll von Leid.

Da zieht eine Frau mit ihrem Ehemann und ihren beiden Söhnen in ein fremdes Land – und dann stirbt nicht nur ihr Mann, sondern es sterben auch ihre beiden Söhne, und sie selber steht völlig allein da: rechtlos und wohl auch mittellos. Alle engen Familienangehörigen zu verlieren, ganz allein, ohne Unterstützung zurückzubleiben – Das sind Erfahrungen, die die meisten von uns so nicht haben machen müssen. Aber ich habe in meiner Arbeit mit Migranten schon viele solcher Geschichten hören müssen: Geschichten von Russlanddeutschen, die in diesem vergangenen Jahrhundert oft unendlich viel Leid erfahren mussten, und natürlich auch Geschichten von Menschen, beispielsweise aus Afghanistan, die miterleben mussten, wie Taliban ihre ganze Familie ausgerottet haben. Wenn man solche Geschichten hört, dann verschlägt es einem oft die Sprache, dann fällt es schwer, zu solch entsetzlichen Erfahrungen noch irgendetwas zu sagen, kann man oft einfach nur zuhören. Da kann man nicht gleich einen frommen Sinn in solchen Lebensgeschichten finden. Doch das eine macht uns die Leidgeschichte am Beginn des Buches Rut deutlich: Gott kann in der Tat auch aus furchtbarem Leid noch Gutes entstehen lassen, kann auch schlimmes Leid zu einem guten Ende führen. Jesus Christus ist selber in diese Leidgeschichte hineingeboren, er, unser Herr, ein Mensch mit „Migrationshintergrund“, wie wir ihn heute bezeichnen würden, er, dem auch das Leid unseres Lebens nicht gleichgültig ist.

  

III.

Und dann ist die Geschichte von Rut natürlich auch eine Geschichte von starken Frauen: Da ist die Noomi, die dieses unsagbare Leid durchlitten hat und doch nicht auf sich selber fixiert bleibt, sondern zuerst und vor allem an die Zukunft ihrer Schwiegertöchter denkt. Da ist diese Noomi, die sich nicht aufgibt, sondern einen neuen Anfang wieder in Bethlehem sucht, auch wenn sie weiß, dass sie nicht einfach wieder an dem Punkt weitermachen kann, an dem sie damals aus Bethlehem weggegangen ist: Kaum wiederzuerkennen ist sie für die Einwohner Bethlehems, so sehr hat das Leid sie gezeichnet, und sie selber will auch lieber bei einem neuen Namen genannt werden: Mara, die Bittere. Aber sie stellt sich der Herausforderung, will für sich und ihre Schwiegertochter eine neue Zukunft.

Und da ist die Rut selber, die ihre Heimat aufgibt, weil sie ihre Schwiegermutter nicht im Stich lassen will. Die Verse aus dem 1. Kapitel des Buches Rut sind ja ein beliebter Trauspruch; doch wenn man Brautleute darüber aufklärt, dass die Worte „Wo du hingehst, da will ich auch hingehen“ von einer Schwiegertochter zu ihrer Schwiegermutter gesprochen werden, dann überlegt es sich so manches Brautpaar dann doch noch mal mit diesem Spruch. Rut bleibt in der Tat bei ihrer Schwiegermutter, eröffnet ihr damit, menschlich gesprochen, noch einmal eine neue Zukunft, denn mit ihrem Mut schafft sie es am Ende, dass Noomi am Schluss ihres Lebens doch noch Enkelkinder sehen darf, dass die Bitterkeit am Ende aus ihrem Herzen weichen kann. Ja, es ist wunderbar, dass auch Frauen mit ihren Geschichten ihren festen Platz in der Heiligen Schrift haben, dass Geschichte auch aus der Sicht von Frauen geschrieben werden kann. Und wir tun gut daran, Gott für die starken Frauen auch in unserer Gemeinde zu danken, für Frauen, die von Männern oft keine Hilfe und Unterstützung erwarten konnten und trotzdem ihren Weg gegangen sind.

Ja, die Geschichten, die Gott uns erfahren lässt, sind in aller Regel keine bruchlosen Geschichten, sondern oft Geschichten von Verlusten, Verlusten von Heimat, von geliebten Menschen, von gehegten Hoffnungen. Doch die Geschichte von Rut zeigt uns zugleich: Es sind alles Geschichten, in denen wir von Gott geführt werden, Geschichten, in denen uns Gott oft auf ungewöhnlichen Wegen zum Ziel führt: Dorthin, wo wir einmal mit Menschen aus vielen unterschiedlichen Ländern für immer feiern werden, dorthin, wo Gott einmal all unsere Tränen von unseren Augen abwischen wird, dorthin, wo Frauen nicht einfach bloß zur Befriedigung der Lüste der Männer bereitstehen werden, sondern Frauen und Männer Seite an Seite ihren Herrn preisen werden, der der Herr auch unserer Lebensgeschichten bleibt. Amen.

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