Sirach 35,16-22a | Rogate | Pfr. Dr. Martens

16 Er (Gott) hilft dem Armen ohne Ansehen der Person und erhört das Gebet des Unterdrückten. 17 Er verachtet das Flehen der Waisen nicht noch die Witwe, wenn sie ihre Klage erhebt. 18 Laufen ihr nicht die Tränen die Wangen hinunter, 19 und richtet sich ihr Schreien nicht gegen den, der die Tränen fließen lässt? 20 Wer Gott dient, den nimmt er mit Wohlgefallen an, und sein Gebet reicht bis in die Wolken. 21 Das Gebet eines Demütigen dringt durch die Wolken, doch bis es dort ist, bleibt er ohne Trost, und er lässt nicht nach, bis der Höchste sich seiner annimmt 22 und den Gerechten ihr Recht zuspricht und Gericht hält.

Da sitze ich im Warteraum des Verwaltungsgerichts in Berlin. Stunden sitze ich dort nun schon und ahne, was im Raum nebenan passiert, wie da wieder einmal ein Gemeindeglied darum kämpft, dass es von unserem Staat als ernsthafter Christ anerkannt wird. Ich falte meine Hände und bete: „Herr, erweiche doch das Herz dieses Richters, lass ihn doch erkennen, wie ernst es dieser Mensch mit seinem christlichen Glauben meint!“ Und doch habe ich dabei oft genug das Gefühl, dass mein Gebet gleichsam an der Decke des Warteraums hängenbleibt, dass sich dadurch nebenan in dem Raum so gar nichts ändert – nicht bei dem Richter, der sein Ablehnungsurteil über diesen Menschen doch schon längst vor der Verhandlung gesprochen hat, nicht bei der Vertreterin des BAMF, die bei der Verhandlung nur darauf wartet, dass das Gemeindeglied irgendeinen kleinen Fehler macht, um daran sich aufhängen zu können, oder die vielleicht auch einfach nur dort in der Ecke sitzt und döst, weil sie weiß, dass der Richter ihren Job ohnehin gleich miterledigt. „Herr, nun mache doch diesem schreienden Unrecht an deinen Kindern endlich ein Ende!“ Doch es tut sich nichts. Einige Zeit später werde ich in den Gerichtssaal gerufen, bezeuge, was mir möglich ist, und weiß doch, dass es eigentlich alles umsonst ist. Kein Reden, kein Beten – nichts scheint zu helfen.

Heute, an diesem Sonntag Rogate, haben wir eine ungewöhnliche Predigtlesung. Mit der neuen Ordnung der Predigttexte haben auch Lesungen aus den sogenannten Apokryphen Einzug in die Reihe der Predigtlesungen gehalten. Apokryphen – das sind, wie Martin Luther es so schön formuliert hat, Bücher, so nicht der heiligen Schrift gleich gehalten, und doch nützlich und gut zu lesen sind. Historisch gesehen sind das Bücher, die zu einem Zeitpunkt verfasst wurden, als die hebräischen Bücher des Alten Testaments alle schon verfasst waren. Das Griechische setzte sich allmählich als Umgangssprache durch – und so sind diese Bücher aus den beiden Jahrhunderten vor der Geburt Christi meist auf Griechisch verfasst und haben dann auch Einzug in die griechische Übersetzung des Alten Testaments gehalten, die damals in den jüdischen Gemeinden außerhalb des Heiligen Landes zumeist benutzt wurde. Das Buch Jesus Sirach wurde sogar zunächst auf Hebräisch geschrieben, dann aber von dem Enkel des Verfassers ins Griechische übersetzt – und in dieser Form hat dieses Sirach-Buch dann auch Einzug in das griechische Alte Testament gehalten. Ja, auch im hebräischen Judentum genoss Ben Sira, wie er genannt wurde, großen Respekt, und auch Martin Luther schätzte dieses Buch sehr, nannte den Sirach einen „rechten Lehrer und Tröster“.

Ja, tröstlich ist das, was wir hier in der Predigtlesung des heutigen Sonntags lesen. Tröstlich ist es, weil es dem entspricht, was wir auch ansonsten in der Heiligen Schrift zum Thema „Beten“ finden können, und weil es zugleich doch noch einmal die Dinge in besonderer Weise auf den Punkt bringt.

„Das Gebet eines Demütigen dringt durch die Wolken, doch bis es dort ist, bleibt er ohne Trost.“ – Was für starke Worte, mehr als 2000 Jahre alt, und zugleich doch aktuell. Ja, genauso erlebe ja nicht nur ich es, so erleben es so viele Menschen, dass wir beten, dass wir mit unseren Gebeten bis zu Gott vordringen möchten – und doch immer wieder in unseren Gebeten ohne Trost bleiben. Ja, es ist gut, dass dies hier so offen ausgesprochen wird, das selber ist schon sehr viel tröstlicher, als wenn wir in der Heiligen Schrift stattdessen die Botschaft diverser amerikanischer Fernsehprediger zu lesen bekämen: „Du musst nur fest genug an Gott glauben, du musst einfach nur ganz positiv denken – dann wirst du auch all das bekommen, was du dir wünschst, dann wird Gott dir all das geben, worum du gebeten hast.“ Nein, macht er nicht, und wir mögen oft genug das Gefühl haben, dass es uns mit unseren Gebeten so ähnlich geht wie so vielen unserer Gemeindeglieder mit ihren Klagen vor dem Verwaltungsgericht: Sie liegen da und liegen und liegen und liegen, und es vergeht ein Jahr nach dem anderen, und nichts tut sich. Gibt es etwa bei Gott auch einen Antragsstau, Bearbeitungsfristen, die unsere Geduld bis aufs äußerste strapazieren?

Ja, wir mögen diesen Eindruck, dieses Gefühl gewinnen. Doch Sirach will uns hier gerade nicht den Eindruck vermitteln, dass es ohnehin zwecklos ist zu beten. Im Gegenteil: In all dem, was er hier schreibt, will er uns doch gerade dazu ermutigen, immer weiter zu beten, mit dem Beten ja nicht aufzuhören.

Da macht uns Sirach zunächst einmal deutlich, dass Gott in der Tat kein ferner Gott ist, kein unpersönliches Schicksal, das irgendwann einmal das Räderwerk dieser Welt in Gang gesetzt und sich danach aus dieser Welt zurückgezogen hat. Gott ist auch nicht neutral, er hält keine Äquidistanz zu allen, die hier in dieser Welt leben. Sondern Gott ist zutiefst parteiisch, so zeigt es uns Sirach hier: „Er hilft dem Armen ohne Ansehen der Person und erhört das Gebet des Unterdrückten.“ Wir erleben es in dieser Welt hier immer wieder, dass nur die eine Chance haben, ihre Rechte durchzusetzen, die eine genügend starke Lobby haben. Doch solch eine Lobby haben beispielsweise konvertierte christliche Flüchtlinge nicht. Für die fühlt sich keiner in dieser Welt zuständig, die fallen durch alle Raster. Doch bei Gott fallen sie gerade nicht durch. Gott lässt sich nicht durch Lobbyarbeit beeindrucken: Er hilft dem Armen ohne Ansehen der Person, und er erhört das Gebet des Unterdrückten. Ja, Gott steht auf der Seite der Unterdrückten, das ist keine sozialistische Propaganda, das ist Originalton der Heiligen Schrift. Gott kennt den Unterschied zwischen Unterdrücker und Unterdrückten, er spielt ihn gerade nicht herunter, auch nicht, wenn die Unterdrücker sich vielleicht gar ein christliches Mäntelchen umhängen und sich selber mit angeblich christlichen Werten schmücken. Nein, Gott erhört das Gebet derer, denen hier auf Erden das Recht vorenthalten wird, er erhört das Gebet derer, die keine Nacht ruhig schlafen können, weil sie fürchten müssen, dass vielleicht wieder ein Minister sich ihre Abschiebung in den Tod als besonderes Geburtstagsgeschenk servieren lässt. Nein, Gott brauchen wir über das himmelschreiende Unrecht, das hier in unserem Land herrscht, nicht aufzuklären, er sieht es, er hört das Schreien der Unterdrückten, der Recht- und Wehrlosen. Ja, eben darum brauchen wir mit unseren Gebeten nicht aufzugeben, weil wir wissen, dass dieser Gott, an den wir unsere Gebete richten, sich gerade nicht als Gewährsmann für Unrechtsstrukturen missbrauchen lässt, sondern ein offenes Ohr für die hat, auf deren Schreien hier auf Erden sonst niemand hört.

Warum dieser Gott, der sich so eindeutig auf die Seite der Armen und Unterdrückten stellt und verspricht, ihnen zu helfen, warum dieser Gott dann eben doch all dies Unrecht hier auf Erden geschehen lässt, warum er nicht eingreift, wenn das Recht der Schwachen mit Füßen getreten wird – das können wir trotz allem nicht verstehen. Doch Sirach macht uns Mut: Auch wenn wir in unseren Gebeten erst einmal immer wieder ohne Trost bleiben, auch wenn wir immer wieder das Gefühl haben mögen, unsere Gebete blieben irgendwo in den Wolken hängen, sollen wir mit unseren Gebeten nicht nachlassen, bis der Herr den Gerechten ihr Recht zuspricht und Gericht hält. Jesus, der andere, nicht der Großvater, sondern der aus Nazareth, hat genau diese Worte des Jesus Sirach aufgegriffen, wenn er die Geschichte von der bittenden Witwe erzählt, die nicht aufhört, einen ungerechten Richter so lange zu nerven, bis der schließlich ihr doch zu ihrem Recht verhilft. Ja, so sollen und dürfen wir Gott eben auch immer weiter nerven, ihm immer wieder in den Ohren liegen, dass er denen doch Recht verschaffen möge, die sich dieses Recht selber hier in unserem Land nicht zu verschaffen vermögen. Dass unser Gebet immer wieder ohne Trost bleibt, soll uns nicht zum Aufgeben bewegen, sondern dazu, erst recht nicht aufzugeben, immer und immer wieder Gott das Unrecht in die Ohren zu schreien, das wir in unserem Leben, das wir im Leben anderer, gerade auch der Brüder und Schwestern in unserer Gemeinde, erfahren.

Ja, Gott wird Recht schaffen – darum beten wir, dafür setzen wir uns ein. Wir haben nicht die Verheißung, dass wir dies alles noch zu unseren Lebzeiten erfahren werden. Aber wir dürfen gewiss sein, dass all die, die jetzt den Armen und Unterdrückten ihr Recht vorenthalten, weil sie hoffen, dass ihnen das in der Gunst ihrer Wähler Punkte einbringt, oder weil sie so fest davon überzeugt sind, dass alle Geflüchteten Kriminelle sind, ja, wir dürfen gewiss sein, dass diese Menschen einmal vor dem Richterstuhl Christi stehen werden und sich für das werden verantworten müssen, was sie hier auf Erden an Unrecht zugelassen oder selber auch ganz aktiv vollbracht haben.

Und wenn unsere Kräfte zum Beten am Ende nicht mehr reichen, wenn wir angesichts dessen, was wir in unserem Leben erfahren, einfach nur verstummen? Sirach macht uns hier deutlich, dass Gott gerade auch das Flehen derer nicht verachtet, denen einfach nur die Tränen die Wangen hinterlaufen. Er versteht es, und er versteht auch, dass sich unsere stummen Schreie gegen den richten, der die Tränen fließen lässt. Ja, so geht es mir immer wieder in meiner Arbeit, dass ich einfach nur noch mit denen weinen kann, die angesichts des Unrechts, das sie erfahren, nur noch verstummen. Und wenn ich mit ihnen weine, dann weiß ich: Gott der Heilige Geist kann auch aus diesen Tränen Gebete formulieren, die das Herz des Vaters anrühren.

An diesem Donnerstag feiern wir das Fest der Himmelfahrt Christi. Da feiern wir immer wieder neu, dass durch Jesus Christus der Himmel für uns eben nicht jenseits einer geschlossenen Wolkendecke liegt, sondern uns in Jesus Christus ganz nahekommt. Wenn wir auf ihn, Jesus Christus, blicken, auf ihn, der selber am Kreuz geschrien hat: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, wenn wir auf ihn, Jesus Christus, blicken, dann wissen wir: Unsere Gebete bleiben am Ende nicht ohne Trost. Wir haben ihn, unseren Herrn, doch immer auf unserer Seite, in unserer Nähe. Wenn wir unsere Gebete durch ihn an unseren Vater richten, dann dürfen wir gewiss sein: Sie bleiben nicht in einer himmlischen Ablage hängen. Unser Vater hört uns, und er wird uns durch alles Unrecht dieser Welt hindurchhelfen – bis wir schließlich einmal dort ankommen werden, wo er, unser Gott, einmal endgültig alle Tränen von unseren Augen abwischen wird. Amen.

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