St. Johannes 13,21-30 | Invokavit | Pfr. Dr. Martens

Habt ihr das vielleicht auch schon mal erlebt: Da habt ihr einem Menschen ohne Einschränkungen vertraut, habt geglaubt, mit ihm befreundet zu sein, habt geglaubt, dass dieser Mensch ganz auf eurer Seite steht, dass ihr euch auf ihn verlassen könnt. Und dann erlebt ihr mit einem Mal, wie dieser Mensch, dem ihr so sehr vertraut hattet, euch mit einem Mal in den Rücken fällt, euch böse verleumdet, sich vor anderen gegen euch wendet und damit nicht nur euer Vertrauen in ihn zerstört, sondern euch auch darüber hinaus noch jede Menge Schaden zufügt. Und wenn ihr dann zurückblickt mit den Erfahrungen im Hintergrund, die ihr jetzt gemacht habt, dann wird euch klar: Mensch, das hätte ich eigentlich schon längst vorher ahnen müssen, dass dieser Mensch es mit mir nicht ehrlich und nicht gut meinte. Der hatte schon vorher gegen mich gearbeitet – und ich war so blöd gewesen, davor einfach die Augen zu verschließen! Ja, im Rückblick, da wird einem dann so manches erst so richtig deutlich. Schmerzliche, ernüchternde Erfahrungen sind das, die man da in seinem Leben macht, so kann ich es auch selber aus eigenem Erleben bestätigen.

In der Predigtlesung des heutigen Sonntags wird geschildert, wie Jesus selber miterleben muss, wie einer seiner engsten Vertrauten, einer von denen, die Jesus selber in den Aposteldienst gerufen hatte, ihm nun mit einem Mal in den Rücken fällt und ihn verrät. Und dabei geht es nicht nur um den guten Ruf, der für Jesus dabei auf dem Spiel steht; es geht um unendlich mehr, es geht um sein Leben, um seinen Auftrag. Und doch besteht zwischen den menschlichen Enttäuschungen, die wir in unserem Leben erfahren mögen, und dem, was Jesus hier erlebt, ein entscheidender Unterschied. Wir waren vorher meist ahnungslos und haben darum nachher das Empfinden, Opfer eines Verrats geworden zu sein. Doch Johannes schildert uns hier in unserer Predigtlesung sehr deutlich, dass Jesus hier keinesfalls völlig ahnungslos in einen Verrat stolpert und erst im Rückblick erkennt, was für einen Fehler er denn gemacht hatte, als er damals den Judas Iskariot zu seinem Apostel berufen hatte. Sondern Jesus weiß es schon im Vorhinein, wer ihn verraten wird, wusste von Anfang an, dass dieser Judas, den er in seinen Jüngerkreis gerufen hatte, ihn am Ende denen überantworten würde, die ihn zu Tode bringen würden. Sehr deutlich arbeitet Johannes das hier in der Schilderung dieses Abschnitts der Passionsgeschichte heraus: Er selber, Jesus, kündigt es dem Jüngerkreis an, was er nicht zufällig um drei Ecken herum erfahren hat, sondern was ihm von Anfang seines Weges an klar war: „Einer unter euch wird mich verraten.“ Große Ratlosigkeit herrscht daraufhin bei den Jüngern, bis schließlich Petrus dem Jünger, der direkt neben Jesus dort am Tisch lag, anstupst und ihm sagt, er solle mal bei Jesus nachbohren, wen er damit gemeint habe, wer denn nun der Verräter sei. Und Jesus wird daraufhin ungewöhnlich deutlich: Er kündigt an, dass er jetzt den Verräter deutlich markieren wird: Der ist es, dem er den Bissen eintaucht und ihm gibt. Und dann nahm er ein Stück des ungesäuerten Brotes, das dort auf dem Tisch lag, taucht ihn in die Schüssel mit den Bitterkräutern und gibt diesen Bissen dem Judas Iskariot. Für alle ist nun klar: Dieser Judas ist der Verräter. Doch Johannes gibt uns nun noch dazu eine Hintergrundinformation, die die Jünger damals nicht gleich hatten: Nach dem Bissen fuhr der Satan in Judas. Der Verrat, den Jesus nun gleich erleiden wird, ist nicht einfach bloß eine menschliche Schweinerei. Nein, dahinter steckt kein Geringerer als der Satan selber, der doch seinerseits wiederum erst da aktiv wird, wo Jesus selber zuvor das Geschehen gleichsam in Gang gesetzt hatte. Ja, Jesus bleibt der Handelnde: Er fordert den Judas auf, sich nun schnell an die Arbeit zu machen: „Was du tust, das tue bald!“ Die Jünger verstehen nicht, was Jesus meint; doch Judas selber versteht es sehr wohl: Gleichsam auf den Befehl Jesu hin geht er hinaus – hinaus in die Nacht.

Von Anfang an hat sich die christliche Kirche mit diesem Gedanken herumgeschlagen, wie es denn möglich sein konnte, dass ausgerechnet ein Jünger Jesu Jesus verraten und zu Tode gebracht hat. Johannes macht hier deutlich: Wir werden diesem Geschehen gerade nicht dadurch gerecht, dass wir uns darüber Gedanken machen, was wohl damals in Judas vorgegangen sein muss, auch nicht dadurch, dass wir darüber spekulieren, was Jesus wohl damals veranlasst hatte, Judas zu seinem Jünger zu berufen. Sondern hinter diesem unbegreiflichen Geschehen des Verrats steht nicht weniger als der Kampf zwischen Gott und dem Satan, ja zwischen Jesus selber und dem Satan. Und das Spannende und Bewegende dabei ist, wie Jesus selber hier die Dinge in der Hand behält, wie der Teufel erst da handeln kann, wo Jesus selber gleichsam das Geschehen seines Verrats beschleunigt. Ja, dieser Verrat an ihm, dem Sohn Gottes, ist und bleibt teuflisch, ganz klar. Und doch bleibt der Teufel zugleich immer nur Erfüllungsgehilfe Jesu selber, der längst zuvor wusste, was mit ihm nun geschehen würde, ja, der es nicht nur wusste, sondern eben auch wollte.

Nein, das bedeutet nicht, dass Jesus all das gleichgültig gewesen wäre, was er seinen Jüngern da ankündigt. Im Gegenteil: „Erregt im Geist“ war er, so heißt es hier. Jesus ist zutiefst erschüttert über die menschlichen Abgründe, in die er da gerade hineinblicken muss, ist zutiefst erschüttert, wie ein Mensch dazu bereit sein kann, ihn, Jesus, für ein paar Silbergroschen zu verraten und in den Tod zu bringen. Das hat nicht erst die Kirche der folgenden Jahrhunderte erschüttert; diese Erschütterung teilt er, Jesus, selber, auch und gerade, wenn er nun gleichsam hier den Startknopf zu seinem Leiden und Sterben drückt: „Was du tust, das tue bald!“

Doch wo befinden wir uns eigentlich in dieser Geschichte aus dem Johannesevangelium, über die wir in dieser Predigt nachdenken? Nein, es wäre ganz sicher falsch, wenn wir meinen, wir könnten uns in der Person Jesu wiederfinden, wenn wir in unserem Leben menschliche Enttäuschungen erfahren haben. Gewiss ist es ein Trost, dass Jesus uns versteht, wenn wir in unserem Leben erfahren müssen, dass Menschen, denen wir vertraut hatten, uns in den Rücken fallen. Doch wir, die wir immer wieder nur im Rückblick erkennen können, wie wir von Menschen enttäuscht und getäuscht worden sind, können uns doch nicht einmal ansatzweise hineinversetzen in unseren Herrn, der von Anfang an alles wusste und selbst in dieser Stunde des Verrats noch alles in seiner Hand hält.

Und ebenso wenig würden wir dieser Erzählung gerecht werden, wenn wir uns nun einfach mit Judas Iskariot identifizieren würden und darüber nachdenken würden, wo wir in unserem Leben überall schon Jesus verraten haben. Nein, was Judas damals getan hat, hat eine teuflische Dimension, die weit über das hinausgeht, was wir überhaupt erahnen oder anrichten könnten. Judas ist und bleibt eine einmalige Gestalt – in ihrer ganzen Unbegreiflichkeit.

Doch da sind eben noch die Jünger, die da mit Jesus gemeinsam am Tisch liegen und deren Verhalten durch eines gekennzeichnet ist: Sie verstehen überhaupt nicht, was da eigentlich gerade passiert, können nicht begreifen, was Jesus sagt, können weder verstehen, was er über den Verrat sagt, noch, was seine Aufforderung an Judas bedeutet: Was du tust, das tue bald!

Ja, in diesen Jüngern können wir uns gut wiederfinden, weil auch wir heute so oft überhaupt nicht begreifen, was sich in unserem Leben, was sich in dieser Welt eigentlich abspielt, ja, was für eine Tiefendimension eigentlich all das hat, was wir auch und gerade jetzt erleben:

Die Jünger denken damals, dass Jesus sich mit Judas über das Thema „Finanzen“ unterhalten hat. Was für ein treffendes Bild ist das für das Unverständnis, das auch wir als Christen und als Kirche in unserer heutigen Zeit oftmals zeigen! Da befinden wir uns in diesen Corona-Zeiten in einer geistlichen Herausforderung der ganz besonderen Art. Wir erleben als Kirche und als einzelne Christen in diesen Wochen und Monaten eine tiefe Erschütterung, erleben mit, wie so vieles uns aus der Hand geschlagen wird, wie so vieles, was uns immer selbstverständlich erschien, in Wirklichkeit überhaupt nicht mehr selbstverständlich ist. Und doch machen wir es dann als Kirche und als Christen oft genug wie die Jünger damals: Wir befassen uns so sehr mit den praktischen Herausforderungen, vor denen wir gerade stehen, ja, bis hin zu den finanziellen Problemen, die wir je für uns in ganz unterschiedlicher Weise haben mögen, dass wir gar nicht mehr erahnen, was für ein geistlicher Kampf da gerade um uns tobt, um uns als Kirche und um uns als einzelne Christen. Gott und Teufel streiten gerade auch in diesen Corona-Zeiten miteinander, streiten um die Zukunft der Kirche, streiten auch um unsere persönliche Zukunft. Werden wir ihm, Christus, auch in diesen schwierigen Zeiten treu bleiben, werden wir uns auch als Kirche von allen Schwierigkeiten nicht davon abhalten lassen, Menschen in die Gemeinschaft mit Christus einzuladen, Menschen mit den Gaben des Heils im Gottesdienst zu versorgen?

Wir ahnen wohl kaum etwas von der geistlichen Dimension dieser Corona-Krise, ahnen kaum etwas davon, wie auch in diesen Tagen der Teufel überall seine Hand im Spiel hat. Aber gerade wenn wir dies zugestehen müssen, dass wir wie die Jünger damals auch gleichsam auf dem Schlauch stehen und gar nicht merken, was für eine Geschichte das eigentlich ist, in die auch wir mit hineingezogen sind, gerade wenn wir diese Ahnungslosigkeit gestehen müssen, dürfen wir den großen Trost dieser Erzählung von Jesus und Judas vernehmen: Jesus selber behält nicht nur den Überblick, sondern er kann selbst noch den Teufel benutzen, um seine Absichten für uns, um unsere Rettung durchzusetzen. Er ist dazu in der Lage, auch noch aus dem Allerbösesten Gutes entstehen zu lassen, ja Heil und Rettung für alle Menschen. So hat er es mit seinem Tod am Kreuz uns am allerdeutlichsten vor Augen gestellt.

Denken wir daran, wenn uns in unserem Leben Böses widerfährt, was wir einfach nicht begreifen können! Denken wir daran, wenn wir von Menschen tief enttäuscht werden! Jesus hat einen Plan auch für unser Leben, auch für unsere Kirche – und diesen Plan wird er durchsetzen, selbst wenn er dabei den Teufel persönlich einsetzen muss. Sein Ziel für uns ist klar: Dass wir einmal für immer in der ungetrübten Gemeinschaft mit ihm leben werden, dort, wo wir keine Angst mehr davor haben müssen, hintergangen zu werden, dort wo über dem großen Festmahl endgültig kein dunkler Schatten mehr hängt, dort, wo uns einmal all das klar werden wird, was wir jetzt im Augenblick gerade in diesen Wochen und Monaten so überhaupt nicht begreifen können. Ja, das ist das Ziel unseres Lebens – und wir dürfen darauf vertrauen, dass Jesus uns zu eben diesem Ziel bringen wird, auch wenn wir in unserem Leben oft genug Tomaten auf den Augen haben. Am Ziel unseres Weges steht nicht die Nacht, in die Judas einst ging. Am Ziel unseres Weges wird es nur noch hell und warm sein. Und nichts, auch nicht der Teufel, wird Jesus davon abbringen können, uns eben dorthin zu bringen. Wie heißt es im Wochenspruch dieser Woche so schön: „Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre.“ Ja, da möchte man vor Freude glatt am liebsten einen Augenblick das Singverbot in unserer Kirche vergessen. Amen.  

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